In jeder Familie wird gestritten, in manchen erbittert. Nicht selten kommt es zu seelischen und körperlichen Verletzungen, die noch Jahrzehnte später zwischen den Beteiligten stehen können. Christina Reich ist Coach in Leipzig und kennt sich aus mit Verletzung und Versöhnung in der Familie. Und sie kennt ein Ritual, das schon viele Familien die Kraft der Vergebung hat entdecken lassen.
Kannst Du Dich mit einem Vater versöhnen, wenn er mit der Axt in der Hand hinter Dir hergerannt ist, als Du Kind warst? Nicht aus Spaß, sondern außer sich, im Rausch des Alkohols und der Gewalt. Wenn Du Dich nur retten konntest, weil Du schneller warst als er? Die nach Dir geworfene Axt das Ziel verfehlt, Du Dich im Zimmer einschließen kannst und hörst, wie er unten in die Haustür hackt? Wenn „Shining“ kein Kinofilm mehr ist, sondern Wirklichkeit wird? Und dies alles zwar ein besonders extremer, aber keineswegs der einzige Gewaltakt des Vaters ist, den er Dir angetan hat? Kann dann noch Versöhnung stattfinden?
Die Frage geht an Christina Reich, Powerfrau, selbstbewusst und freundlich, pinker Mantel, schwarzes Haar, runde Brille. Sie sitzt in einem Leipziger Café und kann viel erzählen über Versöhnung in der Familie, was dazu nötig ist, wann es geht und wann nicht. Sie war das Mädchen, das der Vater mit der Axt gejagt hat. Und sie hat viele andere Berichte von Menschen gehört, die Verletzungen und Gewalt in ihrer Familie erlebt haben. Sie ist Coach und hat sich spezialisiert auf die Begleitung von Menschen, die in suchtbelasteten Familien aufgewachsen sind und dort an Leib, Seele oder beidem verletzt wurden. Und sie war dabei, als in Familien die heilende Kraft der Versöhnung wirkte.
Inspiration aus Hawaii
Sie hat selber schon oft den Raum dafür geschaffen, mit einem „Hooponopono“ genannten Versöhnungsritual, angelehnt an die „Hawaianische Familienkonferenz“ aus der Huna-Lehre. Manche bezeichnen diese als „neoschamanisch“, andere als typischen Fall von kultureller Aneignung. Denn es waren zwei weiße Männer, die Huna im vergangenen Jahrhundert in unsere Kultur gebracht haben, die die Lehre aus ihrer Sicht in Büchern und Seminaren weitergaben und damit Geld verdienten. Allerdings war es die Hawaiianerin Mary Kawena Pukui, die in einem Buch 1958 Erfahrungen mit „Hooponopono“ schilderte, das sie von ihrem Großvater lernte. Doch abgesehen von der Debatte um den genauen Ursprung des Rituals wird im Laufe des Gespräches mit Christina Reich klar, dass dieses nicht der Mission hin zu einer Religion dient, sondern vor allem ein niederschwelliger und ganzheitlicher Zugang zur praktizierten Versöhnung ist. Warum eigentlich hat der Protestantismus, in dem doch Versöhnung eine so zentrale Rolle spielt, kein ähnliches Ritual anzubieten?
Christina Reich hat es dort zumindest nicht gefunden, obwohl sie in der DDR konfirmiert wurde und neben dem Haus der Großeltern die Kirche im Dorf ein Zufluchtsort war. Oder besser gesagt die Pfarrerin, die mit vielen Katzen im großen Pfarrhaus lebte und der Jungen Gemeinde darin Räume gab. „Dort fühlte ich mich immer sicher, auch wenn wir nicht wirklich darüber geredet haben, was zu Hause los war“, erinnert sie sich.
Dabei ist reden über das, was passiert ist, so wichtig, gerade wenn es zur Versöhnung in einer Familie kommen soll. Denn es steht ja eine Schuld im Raum, zumindest der Vorwurf der Verletzung durch Wort oder Tat, der unterlassenen Hilfeleistung, der übertriebenen Härte, der mangelnden Liebe, des Übergriffs. „Er war nie da, wenn ich ihn brauchte.“ „Sie hat mich nie wirklich wahrgenommen.“ „Sie hat mir nur ihre Liebe gezeigt, wenn ich ihre Erwartungen erfüllt habe.“ „Sein Job/Verein/Hobby/Schnaps waren immer wichtiger als ich.“ „Sie hat mich gedemütigt.“ „Er hat mir Gewalt angetan.“
Sätze, die Kinder als Erwachsene mit Blick auf ihre Eltern oft genug formulieren, und nicht nur die aus suchtbelasteten Familien. Wahrscheinlich ist es auch gut, in Worte fassen zu können, was einem widerfahren ist. „Aber oft sind wir dann verhärtet in den Gefühlen dem anderen gegenüber“, sagt Christina Reich. „Opfer und Täter, das wird zum Grundkonflikt. Ich bin das Opfer und der Täter schuldet mir mein Glück.“ Doch selten sei ein Mensch nur Täter oder nur Opfer. Deshalb stehe am Anfang des Versöhnungsrituals die „Verbindung mit den Ahnen“, die man aber auch als „Positionswechsel“ oder „Einfühlung“ sehen kann.
Eigene Anteile
In ihrem Falle: Der Blick auf den Vater als Sohn eines strengen Vaters, der selber Alkoholiker war und in der DDR in der Kneipe lauthals über die SED schimpfte. Das konnte nicht gut gehen, er musste in die BRD übersiedeln. Die Mutter fand einen neuen, sehr liebevollen Mann, der sich aber selbst tötete. Eine schwere Last für Christina Reichs Vater, der als junger Mann offenbar ein „cooler Typ war, der in der Kirche Schlagzeug gespielt hat“. Aber so habe sie ihn als Kind und junge Frau nicht sehen können, habe ihn, wie die anderen Menschen in ihrer Umgebung auch, stets abgewertet und als gewalttätigen Alkoholiker gesehen. Aber war er das nicht auch? „Ja, auch. Aber es war mein Anteil, dass ich ihn nicht auch anders sehen konnte.“
Und darum geht es bei dem Positionswechsel, nämlich um das Finden der eigenen Anteile an dem Problem. Es folgt die Diskussionsphase, die von allen verlangt, dem anderen zuzuhören, seine Position wahrzunehmen und auszuhalten, dass die Sicht auf ein und dasselbe Ereignis ganz unterschiedlich ausfallen kann. „Oft geht es dann zunächst um die Frage, wer Schuld ist. Und die Schuld wird dann vom einen zum anderen geschoben. Aber das führt zu nichts.“ Deshalb nutzt sie in dieser Phase des Rituals lieber den Begriff „Verantwortung“, mit dem weniger eine moralische Last verbunden ist.
Solche Gespräche sind oft schwer, und nicht immer gelingt es, zur nächsten Phase der „Hawaiianischen Familienkonferenz“ zu wechseln. „Manchmal müssen wir auch abbrechen, und es zu einem anderen Zeitpunkt nochmal versuchen“, sagt Christina Reich. Und manchmal sind solche Gespräche gar nicht möglich, etwa dann, wenn die Eltern oder Großeltern schon tot sind. Oder dement im Pflegeheim, wie Christina Reichs Vater. Was dann? „Dann frage ich: Was würde er oder sie jetzt sagen? Oder ich schlage vor, sich in den Vater oder die Mutter hineinzuversetzen und einen Brief in ihrem Namen an sich selber zu schreiben. Wenn der vorgelesen wird, platzt da schon manchmal ein Knoten.“ Und dann sei schon viel passiert.
Nach dem Entwickeln von Mitgefühl, der Diskussion und dem Teilen der Verantwortung für die entstandene Situation könne der Weg frei sein für Phase drei, das wechselseitige Entschulden und Vergeben. In der Urform des Rituals sind die vormals Streitenden angehalten, sich sieben Minuten lang zu umarmen. „Aber das halten wir nicht mehr aus“, sagt Christina Reich. Aber auch wenn er nicht ganz so lange dauert, der „Herz an Herz“-Moment sei wichtig und im wahrsten Sinne des Wortes berührend. Das Ego wird kleiner, die Verbindung und Liebe werden spürbar. „Ich kann mich an eine Familie erinnern, die zu einem Knäuel von Menschen wurde.“
Leuchtendes Licht
Vergebung auszusprechen, und es wirklich zu meinen, sei ein Akt der Befreiung, meint Christina Reich. Nicht nur des anderen von seiner Schuld mir gegenüber und der Verantwortung für das eigene Glück. Sondern auch mit Blick auf sich selber und einen durch Schmerz verzerrten Blick. „Vergeben kommt von Gabe. Ich gebe mir die Freiheit.“
Doch klar ist auch, dass niemand anderes die Tat verzeihen und vergeben kann als der Mensch, der unter dieser gelitten hat. Und es kann lange dauern, bis das möglich ist. Noch konnte Christina Reich ihrem Vater nicht vergeben. „Er hat nie um Entschuldigung gebeten. Und ich habe nie gesagt, ich verzeihe Dir. Aber ich kann sagen: Ich habe Verständnis für Dich und für Deine Sucht. Und seitdem geht es mir besser.“
Das „Hooponopono“ endet traditionellerweise mit einem Gebet, dem Dank und dem Loslassen. Christina Reich nimmt an dieser Stelle eine Schale in die Hand, in der eine Kerze unter vielen Steinen liegt. Sie nimmt nach und nach die Steine weg, als Zeichen für die soeben geschehene Versöhnung. Und dann zündet sie die Kerze an. „Aloha heißt: Ich sehe und respektiere Dich. Dein Licht leuchtet wieder.“
Transparenzhinweis:
Stephan Kosch und Christina Reich kennen sich über ihre gemeinsame Arbeit bei NACOA Deutschland, der Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".