Das Wort Narrativ hat eine beeindruckende Karriere hingelegt, ist zu einem Mega-Begriff geworden, zugleich zu einem Containerbegriff, in dem vieles abgestellt und dann ins nirgendwo hin verschifft wird. In einer neuen Publikation hat Helga Nowotny, emeritierte Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH-Zürich und ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats, diesen Begriff frisch entstaubt: „Narrative sind eine Form des Geschichtenerzählens. Sie handeln von realen oder fiktiven Ereignissen, Personen und Prozessen und was diesen widerfährt. Sie sind ein potentes Kommunikationswerkzeug und ermöglichen entweder Kooperation durch gemeinsame Verbindungen oder bewirken, dass wir uns gegeneinander kehren.“
Nowotny importiert Überlegungen des Universalhistorikers Yuval Harari, der in seinem Megaseller Eine kurze Geschichte der Menschheit namentlich religiöse Narrative dadurch ausgezeichnet hat, großflächige Kooperationen zu ermöglichen, die sich als Booster für die kulturelle Evolution bewährten. Nach Harari denkt unsere Gattung in Geschichten, eher nicht in Zahlen oder Grafiken. „Ursprung und Ende des Universums“, so Nowotny, „können als eine Geschichte erzählt werden. Geschichten über eine endlose Abfolge von Konflikten und deren Lösungen, oftmals als wundersame Mythen und Legenden dargelegt, waren das wichtigste Medium, um über die Zeitalter hinweg Tradition und Kultur zu überliefern. Sie steckten voller Helden und Schurken, die der Zuhörer- oder Leserschaft klare Signale senden, wer bewundert und nachgeahmt, wer verurteilt, gemieden oder verbannt werden soll.“ Als Kommunikationstool haben Narrative dazu verholfen, prosozial zu wirken und „unsere Spezies zu einen.“
Menschliche Belange
Spannend: Als Kommunikationstool zur Steigerung und Verbreiterung von Kooperation bedienen diese Narrative zugleich das Fortschrittsnarrativ. Fortschritt ist in meiner Deutung sogar denjenigen Narrativen eingeschrieben, die mit einer Verfallsgeschichte arbeiten, wie das traditionelle Christentum, denn das Ziel ist die finale Versöhnung und Erlösung. Das christliche Narrativ ist definitiv nicht tragisch, denn bekanntlich endet die christliche Erzählung nicht mit Karfreitag. (Kleines Desiderat: Ein Meta-Analyse über den Pool von Ursprungsnarrativen, die sich zum Teil aufeinander beziehen, steht freilich noch aus. Und damit auch eine Klärung der Fragen, welche Ursprungsnarrative bereits einen Anspruch auf Universalität erheben, ob diese Narrative Hierarchien und Klassifizierungen festschreiben, und ob sie fähig sind zu einem Relaunch.)
Nach Nowotny decken die „Narrative die gesamte Bandbreite menschlicher Belange ab. Da ist zum einen das Streben nach dem Haben, nach materiellem Wohlbefinden, zum anderen der Wunsch zu sein, nach Ansehen und menschlichem Status in den Augen anderer, und schließlich das Verlangen, zu werden, also danach, das eigene Potential zu erfüllen und menschliche Optimierung zu erreichen.“ Problematisch wird das eingezeichnete Fortschrittsnarrativ dann, folgt man Harari und Nowotny, wenn die technische Innovation durch Big Data größtmögliche Kooperation verspricht. Pointiert gesagt: Ein Kipppunkt ist erreicht, sobald die KI uns ein Narrativ erzählt und dieses Narrativ ansteckend, sogar pandemisch wirkt. „Von Algorithmen erzählte Narrative sind eine noch größere Herausforderung als die Erzählungen unserer Mitmenschen“ – die etwa ein Verschwörungsnarrativ bedienen. Nowotny aktiviert deshalb das alte „Narrativ des menschlichen Freiheitsstrebens“ und setzt dabei auf die Weisheit.
Hüterin der Weisheit
Unter Weisheit versteht Nowotny „ein Ethos gemeinsamer Praktiken, das fortwährend kultiviert, angepasst und verfeinert wird, um je nach Situation angemessen angewendet werden zu können. […] Weisheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie gleichzeitig nach vorne und zurückblicken kann und ein Gleichgewicht zwischen der Dringlichkeit des Jetzt und einer langfristigen Betrachtung zu schaffen vermag. Zurückblicken bedeutet, auf den Erfahrungsreichtum zurückzugreifen, den die Menschheit in der Vergangenheit angehäuft, selektiv gelagert und in physischen Artefakten bewahrt hat, in Ritualen und Texten vielerlei Art, geschrieben in mannigfachen Sprachen und Genres und über die ganze Welt verteilt. Dieses Erbe ist so wertvoll, weil es überliefert, was wir als Kultur bezeichnen, das Spektrum all der Ausdrucksformen menschlicher Kreativität.“ Das kulturelle Erbe baut „auf Tradition auf, steht aber zugleich für Innovation, und zwar immer dann, wenn wir erfolgreich Elemente der Vergangenheit mit den kreativen Impulsen der Gegenwart neu kombinieren.“
Nachdrücklich verbeugt sich Nowotny vor der Geisteswissenschaft als Hüterin der Weisheit, die den Erfahrungsschatz klug verdichtet und selektiert: „Weisheit besteht darin, die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden und dadurch das Handeln der Gegenwart zu beraten. Bei Weisheit geht es darum, Wissen für Fragen wieder auffindbar zu machen, die noch gar nicht gestellt worden sind. Wie bei der Grundlagenforschung in anderen wissenschaftlichen Bereichen wird in den Geisteswissenschaften Wissen produziert, das zu der jeweiligen Zeit völlig nutzlos erscheinen mag, doch die Weisheit liegt darin, dem zukünftigen Nutzen dieses Wissens den Weg zu bereiten.“
Utilitaristische Maximierer
Weisheit, so der prächtige Vorschlag, ist auch in Fragen einer liberalen Demokratie deshalb von Nöten, weil „die Logik von Algorithmen und die der Politikgestaltung unvereinbar sind“, unvereinbar, weil die liberale Demokratie mit „politischen Kompromissen“ arbeitet: „Politische Entscheidungen umfassen in der Regel Tauschgeschäfte zwischen mehreren, häufig nicht miteinander vereinbaren Zielen und Interessen. Demgegenüber handelt es sich bei Algorithmen in Systemen maschinellen Lernens um utilitaristische Maximierer dessen, was auf Grundlage klar gewichteter Entscheidungskriterien letztendlich eine einzelne Größe ist. Mehrdeutigkeiten tolerieren sie nicht.“ In anderen Worten: Die KI ist kompromissunfähig, nicht situationskompetent und unsensibel für Ambiguitäten. „Zukunft braucht Weisheit“, so Nowotny, eine Weisheit, die auch mit irritierenden Situationen umgehen kann. „Wollen wir erhalten, was es bedeutet, menschlich zu sein, müssen wir lernen, Algorithmen weise einzusetzen und diejenige Art von Weisheit zu kultivieren, die die Zukunft braucht.“
Dieses Buch gehört in jede aktuelle Handbibliothek. Und auch das hat mich nach der Lektüre, als ich bei Wikipedia stöberte, überrascht und steht für ein neues Altersbild: Bei der Ersterscheinung des Buches in englischer Sprache war Helga Nowotny 84 Jahre alt.
Helga Nowotny: Die KI sei mit Euch. Macht, Illusion und Kontrolle algorithmischer Vorhersage. Aus dem Englischen von Sabine Wolf, Berlin 2023.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.