Solidarität im Nieselregen: Gestern Abend fand auf dem Steintorplatz in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover ein Versammlung für das von der Terrororganisation Hamas angegriffene Israel statt. Zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick war dabei und hörte zumindest eine mitreißende Rede.
„Etwa 380 …“, antwortet die Polizistin am Übergang zur U-Bahn, als ich nach Abschluss der Kundgebung fragte, wie viele Menschen denn teilgenommen hätten, an dieser spontan anberaumten und lediglich gut 24 Stunden vorher bekanntgegebenen Kundgebung auf dem Steintorplatz in Hannover, die unter dem Motto „Solidarität mit dem angegriffenen Staat Israel und seiner Bevölkerung“ am gestrigen Montag stattfand.
Um zehn vor Fünf standen vielleicht 100 Menschen im warmen Nieselregen vor einer kleinen Bühne zusammen, aber dann füllte sich der Platz doch noch. Es sprechen die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens, der Präsident der Region, Steffen Krach, beide SPD, und natürlich unser Oberbürgermeister Belit Onay von den Grünen. Sie sagen das, was alle sagen in diesen Tagen, und das ist auch gut so.
Doch richtig „Drive“ bringt erst Yevgen Brockmann mit seiner Rede: Der erst 26-jährige stellvertretende Vorsitzende der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover begann mit dem Satz, der seit Sonntag durch die Welt geht und der, nochmal besonders in deutschen Ohren, so furchtbar klingt und leider wahr ist: „In den vergangenen 48 Stunden fand das schlimmste Massaker an Juden und Jüdinnen seit dem Holocaust, seit der Shoa statt.“ Brockmann macht gleich zu Beginn deutlich, dass „der Kampf, den Israel gerade führt, kein isolierter Kampf ist und war“, und stellt die furchtbaren Ereignisse in Israel in einen größeren Zusammenhang: „Wir sind heute hier, weil die Welt brennt. Allein in der letzten Woche erlebten wir täglich Angriffe, Morde autoritärer und klerikal-faschistischer Regime. Angriffe auf Völker und Menschen, die nichts anderes wollen, als selbstbestimmt und frei ihr Leben und ihre Kultur auszuleben.“ Auch erwähnt Brockmann den barbarischen russischen Raketenangriff am Freitag auf das ukrainische Dorf Hroza bei Charkiw, bei dem 51 Menschen, ein Zehntel der Dorfbevölkerung, bei einer Trauerfeier ermordet wurden. Danach beklagt er die gezielte Bombardierung von ziviler Infrastruktur wie Wasserleitungen und Krankenhäusern in den kurdischen Gebieten durch Erdogans Armee. Verbrechen, die ständig geschehen, aber kaum in der Weltöffentlichkeit wahrgenommen würden. Und dann sei da noch die serbische Armee, die „massenhaft Truppen“ zusammenziehe und mal wieder ein „Drohszenario“ gegen Kosovo aufbaue. Am schlimmsten aber sei natürlich das „iranische Mullah Regime“, das weiterhin „brutal“ gegen Frauen vorgehe, die es wagten, „ihre Haare so zu zeigen, wie sie wünschen und einfach ein selbstbestimmtes Leben fordern“.
Für Brockmann hängt das alles zusammen. Desto wichtiger sei es jetzt, gerade auch aufgrund des Horrors in Israel, dass endlich „keine bedingungslosen Geldströme“ mehr in „korrupte Staaten und Organisationen“ fließen. Ein Großteil des Geldes, „das den Terrorismus der Hamas, der Hisbollah“ und auch anderer ermögliche, sei das Geld des Irans. Und wer ist immer noch dessen größer Handelspartner? Richtig, die Bundesrepublik Deutschland. Unmöglich sei das. Das müsse aufhören. Großer Applaus!
Besonders emphatisch wird bei der kleinen Gruppe von Exil-Iranerinnen und -Iraner direkt hinter mir geklatscht und gerufen. Als die sechs, sieben Menschen mit ihrer großen iranischen Fahne ankamen, gab es zunächst Unruhe. „Was wollt ihr denn hier!“, rufen einige erregt – „Wir sind für Israel!“ sagen sie. Alles gut, okay. Die Polizei muss nicht eingreifen. Für das Missverständnis hatte ihre große grün-weiß-rote iranische Fahne gesorgt. Allerdings war es die „alte“ iranische Fahne, die bis 1980 galt, die mit Löwe, Schwert und Sonne als Emblem in der Mitte. Nicht die der islamischen Republik, die zwar weiterhin die gleichen Farben trägt, aber in der Mitte in stilisierter persisch-arabischer Schrift das Wort „Gott“ (Allah) trägt. Feinheiten, die auf den ersten Blick leicht zu übersehen sind.
Erst gab es Missverständnisse: Exiliraner:innen mit der „alten“ Flagge.
Klar und deutlich fordert der mitreißende Redner, dass es „genau wie für den Terrorstaat Russland eine umfangreiche Sanktionsliste für den Iran“ geben müsse. Denn wenn es Deutschland mit dem „Nie wieder!“ Ernst sei, dürfe es „keine Handelsbeziehungen zu dem mörderischen Mullah Regime geben, den größten Finanziers des Terrorismus!“ Der schreckliche Angriff auf Israel und all die anderen genannten „Kriegsverbrechen und Massaker“, so Yevgen Brockmann weiter, seien das Ergebnis „nationalistischer, chauvinistischer, islamistischer, antisemitischer und misogyner Ideologien.“ Diese Ideologien seien es, die in Russland, in der Türkei, im Iran und auch in den palästinensischen Gebieten „den Ton angeben“ und somit „das Gerüst“ für das „menschenverachtende und freiheitshassende Handeln dieser Akteure“ lieferten. So sei es nicht verwunderlich, dass „der Iran und wahrscheinlich auch Russland der islamistischen Hamas federführend geholfen“ hätten, „diesen Krieg und dieses Massaker anzustellen“. Es seien schließlich die gleichen Drohnen, die im Iran produziert, über Russland in die Ukraine und nach Israel gelangten. „Hundert Prozent!“ ruft laut eine Frau aus der iranischen Gruppe in den Applaus.Des Weiteren beklagt der Redner, dass er auf Social Media seit Samstag viel von „vermeintlich progressiven Menschen“ lese, dass das Handeln der Hamas, „das angerichtete Blutbad an der israelischen Zivilbevölkerung legitimierter Widerstand sei, ja sogar De-Kolonisierung.“ Diesen Leute möchte er, Brockmann, nur sagen, dass sie nichts anderes seien als ein „Haufen Antisemiten, Frauenhasser, und nicht besser als der nächste dahergelaufene deutsche Nazi.“ Das sollten die Leute bedenken, die meinten, es sei „irgendwie progressiv oder links, sich mit dieser Barbarei zu solidarisieren“.
Dann schlug Yevgen Brockmann einen Bogen in die Nachbarregionen Israels, als er sagte, dass die Methoden der Hamas „bekannt“ seien und zwar „vom brutalen Genozid des sogenannten IS an den Jesidinnen und Jesiden und gegen Kurdinnen und Kurden. Brockmann: „Alle diese Menschen kennen den Schmerz, den wir jetzt fühlen nur zu gut.“ Danach ging Brockmann auf den seit vielen Monaten herrschenden „inneren gesellschaftlichen Kampf“ in Israel ein: „Eine rechte Regierung versucht auch in Israel die Demokratie zu schwächen, wie in so vielen anderen Demokratien auf der Welt.“ Aber die Zivilgesellschaft in Israel, so der Redner, habe sich bisher als standhaft erwiesen: Wöchentlich seien „250.000 Menschen in Israel für die Demokratie und Gerechtigkeit auf die Straße gegangen.“ Übertragen auf die deutsche Bevölkerung wären das 2,5 Millionen Menschen, aber „wenn man hier wenigstens mal 10.000 sehen würde, wäre es ja schon schön“, merkt der 26-Jährige an. Und natürlich versuchten Diktaturen solch schwierigen aber unausweichlichen Konflikte in Demokratien zu nutzen, um „die Demokratie und alles wofür sie steht, auszulöschen“. Aber: „Sie werden nicht gewinnen!“
Schließlich äußerte Brockmann Kritik an Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, der gegenüber der dpa ein „schnelles Ende der Gewalt“ gefordert hatte und dort so zitiert wird: „Diese furchtbaren Terrorangriffe müssen schnell beendet werden, es darf auf beiden Seiten kein weiteres Blutvergießen mehr geben.“ Laut Brockmann dürfe es nicht sein, „dass in diesem historischen Moment ein führender Politiker Deutschlands sprachlich die geschehene Gewalt von Massenmord, Vergewaltigung und Entführung und der von Verteidigung gegen diese gleichsetzt“. Langer Applaus. Damit traf Brockmann wohl einen Nerv, obschon man fairerweise anmerken muss, dass Weil dies sicherlich so nicht gemeint hat. Aber jeder Hauch nur von Äquidistanz, er schmerzt viele in diesen Tagen sehr.Nach dem Ende der Kundgebung frage ich eine Frau aus der Gruppe der Iraner: innen, ob sie religiös sei oder vielleicht gar eine iranische Jüdin. Denn ich hatte mal gelesen, dass besonders nach dem islamistischen Umsturz 1979 sehr viele Menschen der einst großen jüdischen Community des Irans das Land verlassen haben. Aber die Frau versteht gar nicht recht, was ich sagen will. „Religiös? Ich? Nein, ich bin Atheistin.“
Nah an der Bühne stehen auch hochrangige kirchliche Vertreter: Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister und einige Regionalbischöf:innen dieser größten evangelischen Landeskirche samt theologischem Vizepräsidenten der Landeskirche und der katholische Bischof Heiner Wilmer aus Hildesheim. Sie ergreifen nicht das Wort, aber sie sind da. Natürlich haben sich kirchliche Vertreter gleich Sonntag eindeutig öffentlich geäußert, zum Beispiel Ralf Meister. Möglicherweise sind sie ganz froh, hier jetzt nicht auch noch reden zu müssen, wie auch die Vertreter der niedersächsischen Muslime. Denn sie wissen bei aller Solidarität auch, dass die Meinungen, Gefühle und Haltungen in ihren Kirchen und Gemeinschaften in Sachen Israel nicht ganz so ungeteilt sind, wie es der großartige Redner Yevgen Brockmann der Versammlung und die Exil-Iraner:innen auf der Steintor-Kundgebung zumindest mir und anderen Umstehenden mitteilten.
„Etwa 380 …“. Ist das viel, ist das wenig? Hannover hat gut 532.000 Einwohner. „Es könnten, ja müssten mehr werden, viel mehr“, geht es mir auf dem Heimweg durch den Kopf. Ja, die Zeiten werden härter, und wir benötigen in der freien Welt wohl Kraft und Solidarität in einem Maße, das heute immer noch schwer vorstellbar erscheint. 380 Menschen sind zwar ein Anfang, aber wirklich nur ein kleiner.
„Am Israel Chai“ – das Volk Israel lebt.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.