Was ist Wahrheit?

Gedanken anhand des Wetterberichts und der Philosophie Bruno Latours
Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour (1948-2022), Foto von 2016.
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Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour (1948-2022), Foto von 2016

Wie erkennen wir die Wirklichkeit und können wir sie konstruktiv mitgestalten? Und was könnte die Rolle der Kirche sein? Der kürzlich emeritierte EKD-Vizepräsident Horst Gorski interpretiert Gedanken des französischen Philosophen und Wissenschaftssoziologen Bruno Latour im Lichte gegenwärtiger Grundsatzfragen.

Kürzlich sah ich im NDR eine Reportage über die Anfeindungen, denen sich die Fernseh- Meteorologen zunehmend ausgesetzt sehen. Informationen über Wetterextreme, über Zusammenhänge zwischen Klimaveränderungen und Naturkatastrophen, über Temperaturstatistiken – diese Fakten werden immer häufiger geleugnet, ihre medialen Überbringer diffamiert und persönlich angegriffen.

Die Leugnung wissenschaftlicher Aussagen ist nicht neu, aber sie rückt einem beim Thema „Wetterbericht“ gewissermaßen aufs heimische Sofa. Zufällig las ich zur selben Zeit ein Buch des vor knapp einem Jahr verstorbenen französischen Philosophen und Wissenschaftssoziologen Bruno Latour (1947-2022) und zwar seinen Klassiker „Wir sind nie modern gewesen“ (2008). Darin beschreibt Latour zunächst seine morgendliche Zeitungslektüre. Dort ist von Messergebnissen zum Ozonloch über der Antarktis die Rede, von Chemiefirmen, die daran forschen, Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die die Ozonschicht beschädigen, durch andere Substanzen zu ersetzen. Politiker beschäftigen sich mit Chemie, Kühlschränken, Spraydosen und Edelgasen. Meteorologen sprechen von zyklischen Schwankungen, die von menschlichen Einflüssen unabhängig sind. Daraufhin wissen die Industriellen und Politiker nicht mehr, was sie tun sollen.

Ein und derselbe Artikel, so Latour, „vermischt chemische und politische Reaktionen. Ein roter Faden verbindet die esoterische Wissenschaft mit den Niederungen der Politik, den Himmel über der Antarktis mit irgendeiner Fabrik am Rande von Lyon, die globale Gefahr mit der nächsten Wahl oder Aufsichtsratssitzung. Größenordnungen, zeitlicher Rahmen, Einsätze und Akteure sind nicht vergleichbar, und doch sind sie hier in die gleiche Geschichte verwickelt.“ Latour folgert: „… es häufen sich die Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Religion, Technik und Fiktion. Wenn die Lektüre der Tageszeitung das Gebet des modernen Menschen ist, dann betet heute bei der Lektüre dieses Gemenges ein sehr seltsamer Mensch. Die ganze Kultur und die ganze Natur werden hier Tag für Tag neu zusammengebraut. Und dennoch scheint niemand sich daran zu stoßen. Die Seiten Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Literatur, Kultur, Religion, Vermischtes bilden nach wie vor die Rubriken, so, als wäre nichts gewesen.“

Latours These: In der Moderne dachten wir, der Mensch stünde Objekten gegenüber, könne sie erklären, durch Unterscheidungen Bestimmtheiten hervorbringen und so Ordnung in die „Dinge“ bringen. Doch die Krisen der Gegenwart zeigen uns, dass wir Teil eines Ganzen sind, in dem nichts ohne das andere erklärt werden kann und in dem Mikroben und Viren genauso Akteure sind wie der Mensch. Die Gegenüberstellung von Mensch und Natur sei eine Illusion gewesen. So gesehen waren wir nie modern. In Wirklichkeit hat die moderne Wissenschaft Unbestimmtheiten hervorgebracht, Hybride aus Natur, Kultur, Wissenschaft, Ästhetik, Intuition und anderem.

„Flache Ontologie“

Latour billigt allen Dingen ontologisch eine ähnliche Qualität zu: Mensch, Maschine, Mikrobe, Virus. Sie alle bilden für ihn ein Netzwerk, in dem das Virus genauso Akteur ist wie der Mensch (die sogenannte Akteur-Netzwerk-Theorie). Er spricht von einer „flachen Ontologie“, in der nicht die Menschen hoch herausragen, sondern alle belebten und nicht belebten Akteure ähnlich wichtig sind. Diese Theorie wurde lange vor der Covid-19-Pandemie entwickelt. Umso erstaunlicher, wie aktuell sie vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wirkt! Das Virus veränderte sich im Zusammenspiel mit dem menschlichen Immunsystem und war über Monate allemal der bestimmende Akteur.

Nun ist an diesen Erkenntnissen gar nicht alles so ganz neu: Wer sich in die Wissenschaftstheorie der letzten Jahrzehnte vertieft, findet dort ganz selbstverständlich die Einsicht, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse immer komplexe Konstrukte und nicht einfach Entdeckungen von „etwas“ sind, das unabhängig davon einfach „da“ wäre. Jede wissenschaftliche Erkenntnis geht von Voraussetzungen aus, beruht auf Methodenentscheidungen. Dass sie deshalb diskutierbar ist und widerlegt werden kann, macht gerade ihre Wissenschaftlichkeit aus. Latour ist es gelungen, diese Forschung mit Alltagserfahrungen zu verbinden und einem breiteren Publikum nahezubringen.

Latours Verwunderung (2008) darüber, dass die mediale und politische Kommunikation von Wissenschaft ihre komplexen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen weithin ausblendet und nach wie vor so tut, als gäbe es „Objekte“, die wir nur zu erklären bräuchten, ist immer noch aktuell. Der „Wetterbericht“ führt es uns vor. Das ist das Problem, auf das ich aufmerksam wurde, als ich die Reportage des NDR sah und zeitgleich Latour las.

Warum ist das so?

Vielleicht gibt es die Sorge, dass diese Gedanken in den „falschen Händen“ Unheil anrichten können. Denn sie können zur Leugnung von Prozessen, zur Verweigerung notwendiger Veränderungen und für politische Kampagnen missbraucht werden. Wenn wir sie deshalb allerdings im „Giftschrank“ verschließen, katapultieren wir uns in die Zeiten vor der Aufklärung zurück. Doch in Zeiten, in denen mit der Klimakrise und Pandemien das Verhältnis von Mensch und Natur – oder mit Latour gesagt: die Abhängigkeit aller organischen und nichtorganischen Wesen auf der Welt voneinander – zum zentralen Thema der Menschheit geworden ist, ist es geradezu überlebensnotwendig, sich diesen komplexen Zusammenhängen und der Konstruktivität wissenschaftlicher Erkenntnisse zu stellen. Denn nur darin und nirgendwo anders können wir angemessen handeln. Mit meinen Worten gesagt: Wir haben nur Annäherungen an die Wirklichkeit, keine Abbilder von ihr. Das mag man bedauern, es ist aber nicht zu ändern. Handeln müssen wir trotzdem, denn Dürren, Brände, Überschwemmungen und Stürme sind keine Konstrukte!

Zusammenspiel im Netzwerk

Latours Akteur-Netzwerk-Theorie wird inzwischen breit rezipiert, besonders für das Verständnis von Kommunikation in der digitalen Welt. Ihre Bedeutung reicht aber weit darüber hinaus. Sie stellt das Lebensgefühl des modernen Menschen, die Welt der Dinge erklären zu können, in Frage. Sie bietet mit ihrer „flachen Ontologie“ eine neue Sicht auf die Welt. Mensch, Tiere, Mikroben, Viren, Vulkane gestalten gemeinsam die Zukunft der Welt. Theologisch gewendet: Die Bewahrung der Schöpfung geschieht im Zusammenspiel aller Akteure im Netzwerk.

Rolle der Kirchen könnte es sein, Räume der Verständigung über unsere Wirklichkeit offenzuhalten. Denn wo kann über diese zentralen Fragen diskutiert werden? Die hermetisch wirkende Geschlossenheit der medialen und politischen Kommunikation über wissenschaftliche Erkenntnisse führt gesellschaftlich zur vorschnellen Ausgrenzung missliebiger Meinungen. Dass kein Missverständnis entsteht: Auch nach Latour sind nicht alle Katzen grau. Aber die Einsicht, dass wir handeln müssen, obwohl wir nur Annäherungen an Erkenntnisse haben, sollte mündigen Menschen doch zuzumuten sein. Die Kommunikation hierüber zu öffnen, könnte den Wetterbericht noch interessanter machen.

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Horst Gorski

Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. 


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