Mit einem Fuß im Gestern

Schrift macht Sprache zeitlos. Doch das hat nicht nur Vorteile.
Foto: privat

Neuen Medien wird häufig mit einer gewissen Vorsicht begegnet: Buchdruck, Radio, Fernsehen, Internet – jede technologische Neuerung ist begleitet von kulturpessimistischen Warnungen. Aber nur selten wird diese Skepsis auch auf das erste Medium angewandt, das die Menschheit je erfunden hat: die Schrift.  Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens scheint keine Ambivalenz zu kennen, sie gilt als durch und durch gut, zivilisationsfördernd, bildend, kurz – ein Glanzstück des menschlichen Geistes! So sieht es auch die spanische Altphilologin Irene Vallejo, die mit ihrem Buch „Papyrus – die Geschichte der Welt in Büchern“ einen internationalen Hit gelandet hat. Tatsächlich ist das Buch großartig, und wer es noch nicht kennt, sollte es unbedingt lesen. Auf unterhaltsame Weise erfährt man Wissenswertes, Erstaunliches und Skurriles rund ums Lesen und Schreiben.

Allerdings ist mir bei der Lektüre klar geworden (gegen die Intention der Autorin), dass auch die Kulturtechnik des Schreibens ihre Schattenseiten hat. Kurz gesagt läuft sie darauf hinaus, dass wir zuweilen in einer Art „Und ewig grüßt das Murmeltier“-Dystopie leben, in der wir jeden Tag dasselbe erleben und uns immer wieder an denselben Fragen und Themen abarbeiten müssen.  Schrift entreißt Aussagen ihrem Zusammenhang. Oder, wie es schon Platon formulierte: „Wenn sie einmal geschrieben ist, so treibt sich jede Rede aller Orten umher und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.“ Schrift macht Sprache zeit- und beziehungslos. Das hat unbestreitbar Vorteile, etwa wenn es darum geht, Erinnerungen zu bewahren an Erkenntnisse, Begebenheiten, Geschichten. Der Nachteil ist jedoch, dass Schriftkulturen ständig mit einem Fuß in der Vergangenheit kleben.

Verengte Bandbreite

Besonders augenfällig wird das im Theater: Vor einigen Jahren habe ich mir ein Jahresabonnement für das Schauspiel Frankfurt angeschafft, doch schon nach kurzer Zeit war ich vom Spielplan genervt: Gefühlt drei Viertel aller Aufführungen waren historische Stücke: Aischylos, Ibsen, Peer Gynt, Emilia Galotti. Zeitgenössische Stücke gab es nur vereinzelt. Ich fand es langweilig. In Vallejos Buch habe ich gelernt, dass dies ein Grundmuster von Schriftkulturen ist: Sie bilden einen Kanon heraus, auf den sich alle beziehen müssen, die mitreden möchten – die Kanonisierung der christlichen Bibel war nichts Besonderes. Von all den Theaterschreibern der griechischen Antike wurden genau drei tradiert: Aischylos, Euripides, Sophokles. Alle anderen sind vergessen.

Kanonisierung ist weniger eine inhaltliche Zensur als vielmehr eine technologisch notwendige Begleiterscheinung des Mediums Schrift: Zwar sind Papyrus und Pergament sehr haltbar, aber unendlich eben nicht. Schon in der Bibliothek von Alexandria wurde sorgfältig ausgewählt, welche Texte kopiert und damit der Nachwelt überliefert wurden. Es ist also nicht nur so, dass Schriftkulturen Wissen von Beziehungen und Kontext lösen, sie verengen die Spannbreite des Bestandes auch permanent auf einige wenige Texte, während die ganze Breite und Vielfalt des im Lauf der Weltgeschichte Gesagten und Gewussten unwiederbringlich verlorengeht.

Das wäre womöglich weniger schlimm, wenn es nicht ausgerechnet die alten Griechen gewesen wären, die das Schreiben zu einer verbreiteten Kulturtechnik ausbauten, also eine patriarchale und sozial hierarchische Gesellschaft, in der rund achtzig Prozent der Bevölkerung entrechtet, unterdrückt und versklavt waren. An den Ideen dieser griechischen Elite arbeiten wir uns nun seit Jahrtausenden ab, wobei uns – wegen der Kanonisierung – ausschließlich ihre männlichen Perspektiven überliefert sind.

Epistemische Gewalt

Wie kommen wir da wieder raus? Ist es überhaupt möglich, Vorstellungen zu verändern, die sich so tief in das Denken und Fühlen eingegraben haben, dass sie wie Naturgesetze erscheinen? Natürlich können wir die Denkmuster des Europatriarchats – ein Begriff, den die Journalistin Minna Salami geprägt hat – kritisieren, und tun das auch. Aber auch die Kritik bezieht sich immer weiter auf diesen Kanon und hält ihn so am Leben. Und ewig grüßt das Murmeltier.

In feministischen und post-kolonialen Theorien wird dieses Problem als „epistemische Gewalt“ diskutiert und darauf verwiesen, dass Patriarchat und Rassismus nicht einfach durch Aufklärung und Einsicht verschwinden, sondern aktiv verlernt werden müssen. Die Theaterbetriebe reagieren inzwischen so, dass sie die meisten alten Stücke für ihre Neuinszenierungen verändern: Emilia Galotti ist dann zum Beispiel eine „starke Frau“, die am Ende nicht sterben muss. Aber ist das nicht halbgar? Wäre ich ein alter weißer Mann, würde ich mich über so eine „Verhunzung“ der Originalvorlage vermutlich aufregen.

Neue Narrative setzen

Ich schlage einen anderen Weg vor, und zwar dass wir uns die ambivalenten Dynamiken von Schriftlichkeit bewusst machen und ihren negativen Aspekten entgegenarbeiten. Dass wir also neue Narrative setzen und uns aktiv darum bemühen, in eigenen Worten über Erfahrungen und Werte zu sprechen, ohne immer und immer wieder auf den abendländischen Kanon zurückzukommen.

Für alle, deren Blutdruck inzwischen bei 180 ist, möchte ich klarstellen, dass es selbstverständlich nicht darum geht, den überlieferten kulturellen Kanon gänzlich abzuschaffen, sondern darum, ihm einen angemessenen Ort zuzuweisen. Einen Ort, von wo aus er kulturelle Debatten befruchtet, ohne sie in ein Korsett zu zwingen. Würde es denn nicht ausreichen, wenn Theater sich bei den Wiederaufnahmen historischer Stücke auf 30 Prozent ihres Programms beschränken? Dann wäre mehr Platz für neue Geschichten. Auch den Schriftreligionen täte es im Übrigen gut, wenn sie ihre Werte, Hoffnungen und Glaubensüberzeugungen öfter mal in eigene Worte fassen, statt dauernd aus der Bibel oder einer anderen Heiligen Schrift zu zitieren. Und auch in Hollywood braucht niemand eine fünfte Wiederauflage von Indiana Jones.

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