Vor einer neuen Reformation

Tomáš Halík fordert vor lutherischem Weltbund mehr Ökumene und Selbst-Transzendenz von den Kirchen
Tomáš Halík
Foto: Stephan Kosch
Tomáš Halík

Mit einer anspruchsvollen und fulminanten Rede forderte der katholische Intellektuelle Tomáš Halík grundlegende Änderungen im Selbstverständnis der Kirchen im 21. Jahrhundert. Diese seien nötig, auch um den Populisten und Fundamentalisten etwas entgegenzusetzen. 

Schon der erste Satz seiner Rede lässt aufhorchen: „Die Christenheit steht an der Schwelle zu einer neuen Reformation.“ Und das sagt nicht einer von den vielen Menschen aus der weltweiten lutherischen Kirche, die sich in diesen Tagen in Krakau zur Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes treffen. Sondern ein katholischer Geistlicher, der offenbar weiß, wie man das Publikum in den Bann zieht. Tomáš Halík ist ein renommierter katholischer Intellektueller und Schriftsteller aus der Tschechischen Republik und war Berater von Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie und Leiter der Fakultät für Religionswissenschaften an der Prager Karlsuniversität und hat zahlreiche Auszeichnungen für sein Engagement für Menschenrechte, Religionsfreiheit und interreligiösen Dialog erhalten. Ein intellektuelles Schwergewicht also, der mit sanfter hoher Stimme über die notwendige Veränderung der Kirche spricht.

An der Schwelle zu einer neuen Reformation also, nicht die erste, nicht die zweite, nicht die letzte, sagt Halík. Schließlich sei Kirche immer im Wandel, „semper reformanda“. Aber: „Gerade in Zeiten großer Veränderungen und Krisen in unserer gemeinsamen Welt“ sei es die prophetische Aufgabe der Kirche, „Gottes Ruf zu erkennen und darauf mit Bezug auf die Zeichen der Zeit zu reagieren.“ Reformation sei notwendig, sagte er, „wo die Form den Inhalt behindert, wo sie die Dynamik des lebendigen Kerns hemmt.”

Scharfe Kurven

Solche Sätze wecken Erwartungen. Was konkret fordert Halík? Zunächst eine Vertiefung der Ökumene, die im 21. Jahrhundert viel weiter reichen müsse, als die des vergangenen Jahrhunderts. Es gehe nicht nur um die Einheit der Christen, die nur ein Nebenprodukt von etwas Größerem sein könne, nämlich „der Anstrengung, die ganze Menschenfamilie zusammenzubringen und die gemeinsame Verantwortung zu übernehmen für die Umwelt, die ganze Schöpfung.“  Werden die Glaubensgemeinschaften also ein Teil der Lösung all der Schwierigkeiten sein, mit denen wir es zu tun haben, oder Teil des Problems?

Und wer jetzt Überheblichkeit oder Selbstgerechtigkeit wittert, wird sofort eines Besseren belehrt. Denn Halík beschreibt die Haltung, mit der diese neue Ökumene angegangen werden soll mit dem lutherischen „simul justus et pecator“, jeder Mensch sei Gerechter und Sünder zugleich. Heute würden viele Menschen gleichzeitig glauben und zweifeln, was aber einander bedinge und zu reifem Glauben führe. Und dann folgen scharfe schnelle Kurven durch die Geschichte, das Zweite Vatikanische Konzil, die Religionskritik von Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche (der tote Gott der Illusionen) und Bonhoeffer, für den die einzig authentische christliche Transzendenz in der Selbst-Transzendenz hin zu anderen gelegen habe, in Solidarität und opfernder Liebe. Und damit ist er bei einem weiteren konkreten Schritt der anstehenden Reformation: „Heute sind es nicht nur die individuellen Christen, sondern auch unsere Kirchen, die ganze Christenheit, die zu dieser Selbst-Transzendenz aufgerufen sind.“

Kirche als Feldlazarett

Aber was genau bedeutet Selbst-Transzendenz in der anstehenden Reformation der Kirchen? Halík erinnert an ein Bild, das Jorge Mario Bergoglio noch vor seiner Wahl zum Papst genutzt hat. Jesus steht an der Tür und klopft, aber nicht von außen, er steht in der Kirche und möchte hinausgehen – und wir sollen ihm folgen zu den Armen, Marginalisierten, den Ausgebeuteten. „Kirche muss ein Feldlazarett sein, wo die Wunden – körperliche, soziale, psychologische und spirituelle – verbunden und geheilt werden.“ Und sie müsse zu denen gehen, die außerhalb der Grenzen der Religion leben, die Welt der „Nones“, die nicht als „Atheisten“ oder „Ungläubige“ gesehen werden sollte. Auch denjenigen, die eine bestimmte Form von Theismus ablehnten, sei das Geheimnis, das wir mit dem Wort Gott bezeichneten, nicht verschlossen. Deshalb müsse die „neue Reformation“ und die Ökumene des 21. Jahrhunderts auch eine neue Form der Mission beinhalten. Deren Ziel sei nicht, neue Kirchenmitglieder zu rekrutieren und sie „in bestehende mentale und institutionelle Grenzen unserer Kirchen zu pressen, sondern gemeinsam über diese Grenzen hinaus zu gehen.“

Aber droht dabei nicht der Verlust der Identität des Christentums? Halík geht auch auf diese mögliche Sorge ein. Populisten, Nationalisten und religiöse Fundamentalisten nutzten diese Angst vor Identitätsverlust für ihre jeweiligen Macht- und Wirtschaftsinteressen aus. Sie böten als Ersatz für „Seele“ verschiedene Formen von kollektiver Identität an, etwa Nationalismus oder politisches und religiöses Sektierertum. Und sie machten aus Christentum eine identitäre politische Ideologie. Dem gegenüber stellte Halík das Osterereignis, die Auferstehung Christi, die die Geschichte der Welt weiterhin verändere. „Christus kommt zu uns in vielen neuen, überraschenden, ambivalenten Formen.“

Kritik an Russland und russisch-orthodoxer Kirche

Selbstverständlich äußerte sich Halík auch zum Krieg gegen die Ukraine und verurteilte „Russlands Angriff“ und Präsident Putins „nationalen Messianismus“ ebenso wie die Führer der russisch-orthodoxen Kirche, die den Schritt zur „Wiedererrichtung ihres expandierenden Reiches“ mitgetragen hätten. Kirchen, die von einem politischen Regime korrumpiert werden, so warnte er, berauben sich selbst einer Zukunft. „Wenn die Kirche mit ihrer säkularen Umgebung in einen Kulturkampf eintritt, geht sie daraus immer besiegt und deformiert hervor.”  

Die Alternative zu den Kulturkämpfen sei „nicht etwa Konformität und billiges Anpassen, sondern eine Kultur der geistlichen Urteilskraft“. In Bezug auf den Aufruf von Papst Franziskus zu einer synodalen Reform sagte er: „Ich bin überzeugt, dass wir es hier mit einem möglichen Beginn einer neuen Reformation des Christentums zu tun haben, die sowohl auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil als auch auf der pfingstlichen Neubelebung des weltweiten Christentums aufbaut.“ Eine erneuerte und neu verstandene christliche Spiritualität, so schloss er, „kann einen bedeutenden Beitrag zur geistlichen Kultur der heutigen Menschheit leisten. Und das auch weit über die Kirchen hinaus“. Alles in allem eine gewichtige Keynote, die Halík den Delegierten präsentierte. Sie honorierten dies mit langanhaltendem Applaus.

 

Die Rede von Tomáš Halík ist hier als pdf erhältlich:

Keynote speech at the 13. General Assembly of the LWF - Tomas Halik.pdf (lwfassembly.org)

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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