In der Zeitenwende

Wie die Wehrhaftigkeit in Deutschland in Zukunft gesteigert werden kann
Die NATO hat sich jüngst auf ein „New Force Model“ mit etwa 240 000 einsatzbereiten Kräften der Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Bereitschaftsstufen geeinigt.
Foto: dpa/Jonas Walzberg
Die NATO hat sich jüngst auf ein „New Force Model“ mit etwa 240 000 einsatzbereiten Kräften der Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Bereitschaftsstufen geeinigt.

Die Herausforderungen für die Bundeswehr im kommenden Jahrzehnt sind gewaltig. Neben den militärischen Anforderungen wird das Transitland Deutschland zu einer logistischen und verkehrsinfrastrukturellen Drehscheibe. Heiner Bröckermann vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr erläutert die Rolle der deutschen Armee in der Mitte Europas.

Eine historische Rede kommt bekanntlich immer zur rechten Zeit. Das galt auch für die berühmte Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Sondersitzung des Bundestages vom 27. Februar 2022. Es war sogar höchste Zeit, denn der zuvor erfolgte russische Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar hatte plötzlich alles verändert. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, postete auf LinkedIn, was viele am ersten Kriegstag umtrieb: „Du wachst morgens auf und stellst fest: Es herrscht Krieg in Europa (…). Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“

Eine Flüchtlingswelle erreichte Deutschland, und die Nachrichten aus der Ukraine deuteten schon bald auf russische Kriegsverbrechen hin. Die Jahrzehnte andauernde Aggressivität des russischen Neo-Imperialismus wurde neu bewertet. Deutschland fand vorsichtig zu einer umfassenden Unterstützung des bedrohten ukrainischen Volkes. Schließlich kämpften Ukrainer mit deutschen Panzern dort für ihre Freiheit und europäische Werte, wo ein Menschenalter zuvor SS und Wehrmacht einen rasseideologischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt hatten.

Seit der russischen Annexion der Krim 2014 hatte sich die Bundeswehr an einem neuen „Mindset“ der Landes- und Bündnisverteidigung im 21. Jahrhundert orientiert. Das Stichwort für die künftige Einsatzbereitschaft hatte noch der damalige Generalinspekteur, General Eberhard Zorn, vorgegeben, als er von der „Kaltstartfähigkeit“ der Bundeswehr sprach. Und in den multiplen Krisen der massenhaften Ankunft Geflüchteter ab 2015 sowie der Corona-Pandemie ab 2020 zeigte die Bundeswehr schon einmal zuhause, was sie selbst ohne Waffen für den Heimatschutz aus dem Stand leisten konnte.

Ungewisse Zukunft

Das Wort von der Zeitenwende bereitete die Deutschen 2022 auf eine ungewisse Zukunft vor. Durch historische Bezüge zum Kalten Krieg enthielt der Blick zurück einen gehörigen nuklearen Schrecken, aber auch eine Art von Hoffnung, dass zumindest in den größten Krisen der Vergangenheit der Friede „in der Mitte Europas“ bewahrt werden konnte. Dieser mentale Mutmacher in der Ungewissheit des Augenblicks wurde mit einem sagenhaften Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr politisch deutlich markiert. Und das so genannte Zwei-Prozent-Ziel vom Bruttoinlandsprodukt als Beitrag für Verteidigung wird in der NATO künftig nicht die Obergrenze, sondern die Untergrenze der nationalen Anstrengungen darstellen. Das wird für Deutschland besonders mit dem Blick auf die angestrebte personelle Stärke der Bundeswehr eine Frage der Ehre werden.

Internationales Krisenmanagement, Heimatschutz und multinationale Kooperation und Integration werden künftig auf der Basis der Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung gedacht. Zum neuen Mindset gehört dabei die Vollausstattung mit Waffen, Ausrüstung und Munition und deren nachhaltige Bevorratung. Die NATO hat sich jüngst auf ein „New Force Model“ mit etwa 240 000 einsatzbereiten Kräften der Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Bereitschaftsstufen geeinigt. Deutschland leistet dazu seinen Beitrag. Unter den schnell verlegbaren Kräften sind unter anderem ein Kommandostab, eine deutsch geführte Brigade in Litauen, eine deutsche Verstärkungsbrigade für Litauen, ein deutscher Beitrag zur tschechisch geführten NATO-Brigade in der Slowakei sowie ein deutscher Anteil an der Allied Reaction Force LAND. Letztere soll dem so genannten 360-Grad-Ansatz der NATO entsprechen, als multinationales Bündnis in jede Richtung und in kürzester Zeit militärisch reagieren zu können.

Anders als Luftwaffe und Marine, die zeitweise mit ihrer Einsatzbereitschaft auch Negativschlagzeilen produzierten, stand besonders das Heer im Fokus der Frage nach der verlorenen Stärke der Bundeswehr. Nun soll das Heer bis zum Ende des Jahrzehnts drei Divisionen mit insgesamt acht nationalen Brigaden voll aufstellen und ausstatten. Den Anfang machen aktuell drei Brigaden im Norden, Süden und Osten Deutschlands. Bei den Kampftruppen der Bundeswehr gibt es, glaubt man den aktuellen Zahlen, heute keinen Mangel an Freiwilligen. Dieses klassische Berufsbild Soldat scheint nach dem Motto „wenn, dann richtig“ attraktiv zu sein. Darf man da aber mit Blick auf die demografische Entwicklung und den Fachkräftemangel in der Wirtschaft bezweifeln, dass es künftig insgesamt gelingt, die ganze Bundeswehr von heute 183 000 auf 203 000 Männer und Frauen im Jahr 2031 wachsen zu lassen?

Die allgemeine Wehrpflicht wieder einzusetzen, scheint niemand zu wollen. Diskussionen für ein Dienstjahr aller Geschlechter werden bereits als mögliches Thema für neue Bürgerräte gehandelt. Fakt ist jedoch, dass die Wehrpflicht seit 2011 nur ausgesetzt ist. Was kann die Alternative sein, wenn das deutsche Personal fehlt? Eine Anwerbung von Ausländern wurde bereits vor Jahren propagiert, geht aber am Kern der Motivation deutscher Soldatinnen und Soldaten vorbei. Wer deutsche Soldaten ohne deutsche Staatsbürgerschaft will, hat weder Gerhard von Scharnhorsts Axiom vom Bürgersoldaten als geborenem Vaterlandsverteidiger noch die Innere Führung der Bundeswehr verstanden.

Was kommen wird, ist die zunehmende Automatisierung des Krieges mit Künstlicher Intelligenz, autonomen Systemen, Kampfrobotern, Distanzwaffen, Raketen und Drohnen, wo es an den so genannten Boots on the Ground fehlt. Und selbst das bekannte „Outsourcing“ von Leistungen durch Militärunternehmer wird zurück in den Fokus rücken. Schließlich könnte man gar in Einsätzen darauf zurückgreifen, für andere, finanzschwache Armeen quasi Subsidien zu zahlen, damit deren nationale Kontingente an der Seite und unter Führung der Bundeswehr Aufträge ausführen. Ein Modell, das in den Vereinten Nationen ähnlich funktioniert, aber auch der Bundeswehr in den 1990er-Jahren auf dem Balkan zum Beispiel mit einem albanischen Sicherungszug gut gelungen war.

Wer aber viel mehr Masse und Klasse will, käme an der Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht vorbei. Die allerdings würde bei der Bundeswehr als Vollbremsung der aktuellen Entwicklung empfunden werden, da erhebliche Kräfte in den Aufbau einer Wehrpflichtarmee fließen müssten und die aktuelle Generation der Soldatinnen und Soldaten gerade die Abkehr von der deutschen Wehrpflicht als Qualitätssprung hin zu mehr Professionalität und Fähigkeiten erlebt hat.

Die Sicherheit Deutschlands wird auch mit Atomwaffen gedacht. Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden. Daran hat sich seit dem Kalten Krieg nichts geändert. Solange es jedoch Atomwaffen gibt, müssen die Atomwaffenstaaten damit verantwortungsvoll umgehen oder zumindest andere Staaten vom Einsatz abschrecken. Mit der aktuellen Bestellung von Lockheed Martin F-35 Lightning II Mehrzweckkampfflugzeugen für die Luftwaffe hat sich Deutschland weiter zur nuklearen Teilhabe im Rahmen der NATO bekannt. Russland hat zuletzt Staaten mit dem Einsatz von Nuklearwaffen bedroht. Das verstößt gegen den Geist des Atomwaffensperrvertrages. Sollte dieser russischen atomaren Bedrohung von Staaten ohne Atomwaffen keine glaubhafte Abschreckung entgegenstehen, würde dies Staaten außerhalb großer Verteidigungsbündnisse geradezu zwingen, sich als letzte Alternative ihrerseits atomar zu bewaffnen. Andererseits darf der Westen auch nicht zur politischen Geisel seiner eigenen Atomwaffen werden.

Angst vor Eskalation

Die Angst vor einer Eskalation zum Atomkrieg ist berechtigt. Politisches Handeln muss dieser Angst Rechnung tragen, darf sich aber nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen lassen. Mit den künftig wachsenden konventionellen Fähigkeiten des Militärs wird auch das sichere Eskalieren von militärischen Optionen unterhalb der nuklearen Schwelle wieder zum Thema werden. Atomwaffen werden dabei vor allem politische Waffen bleiben, deren Gewicht in Krisen nicht politisch in die Waagschale geworfen werden darf, will man am Fernziel der Null-Lösung festhalten.

Eine Orientierung und Diskussionsgrundlage bietet die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung von 2023. Die Verteidigung wird demnach gemeinsam mit den USA transatlantisch bleiben und mit Partnern wie Frankreich und den Niederlanden noch europäischer werden. Es wird deutlich, dass „Wehrhaftigkeit“ nicht nur militärisch gedacht wird. Im Rahmen der so genannten Gesamtverteidigung sind neben der im Zentrum stehenden Bundeswehr viele Akteure zu beteiligen. Blaulichtorganisationen, Ministerien, Bundes- und Landesbehörden sowie kommunale Verwaltungen und die deutsche Wirtschaft gehören dazu. Die Anstrengungen umfassen die Verteidigungsfähigkeit, die Widerstandsfähigkeit oder Resilienz sowie die Sicherung der Lebensgrundlagen Deutschlands. Gerade die Resilienz ist als Begriff in den vergangenen Jahren fast zum Modewort geworden. Sie soll Stärke ausdrücken, aber worum es dabei im Einzelnen geht, wird diskutiert werden. Soll lediglich die unverbrüchliche Beständigkeit in krisenhaften Situationen damit ausgedrückt werden, die flexible Anpassungsfähigkeit oder gar die mutige Fähigkeit zur immerwährenden Erneuerung in Krisen und Kriegen? Die Voraussetzungen für Resilienz werden mit Freiheit, Sicherheit und Recht im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wirtschaftlicher und finanzieller Stärke, der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie dem Schutz vor Gefahren aus dem Cyber- und dem Weltraum umrissen. Dieser breite Ansatz der deutschen Sicherheitsstrategie bis hin zur Abwehr terroristischer oder extremistischer Bedrohungen und dem Schutz von Schlüsseltechnologien beantwortet dabei nicht unbedingt die Frage, welcher Aspekt im Einzelfall wichtiger ist. Welche Priorität kann zum Beispiel die Klimapolitik noch gegenüber Rüstungsfragen im Zeichen der aktuellen sicherheitspolitischen Lage haben? Keine? Die künftigen Herausforderungen werden dabei schnell deutlich, wenn man sieht, dass die Folgen des Klimawandels zu den Auslösern von künftigen Kriegen und sicherheitspolitischen Krisen gezählt werden müssen.

Deutschland wird künftig eine Zone des sicheren Aufmarsches und der rückwärtige Raum von Einsatzszenarios sein. In der Mitte Europas wird das Transitland Deutschland so zu einer logistischen und verkehrsinfrastrukturellen Drehscheibe. Die bekannten Herausforderungen in Fragen der Verfügbarkeit von tragfähigen Brücken, leistungsfähigen Straßen, Schienen und Tunneln bis hin zu Rasträumen für Güterverkehr und einer ausreichenden Gesundheitsversorgung werden sich so mit den Anforderungen für das Militär noch aufsummieren.

Jenseits von Europa geht es vor allem um den Partner und zugleich Rivalen China, ohne den globale Herausforderungen nicht zu lösen sind. Während die Bundeswehr die größte NATO-Marine in der Ostsee hat, wird das im Pazifik sicher nicht passieren. An der Seite der USA wird die Beteiligung an Manövern und Ausbildungsvorhaben sowie am strategischen Dialog mit Staaten der Region jedoch weiterverfolgt.

Die Zeitenwende ist die Herausforderung und Zumutung der Gegenwart. In der Bundeswehr soll sie zugleich als „Gedankenwende“ verstanden werden und dort zu einem grundlegenden Mentalitätswandel führen, wie es der Generalinspekteur, General Carsten Breuer, in einer öffentlichen Rede im Juli 2023 anmahnte. Er betonte, dass der aktuelle Kampf in der Ukraine sowohl Kriegsbilder der Vergangenheit, der Gegenwart wie der Zukunft zeige und dieses „Kriegsbild der Zeitenwende“ nun das Engagement aller Kräfte in Politik, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erfordere: „Alle müssen zu uns in die Arena kommen, Platz auf den Zuschauerrängen gibt es nicht (…) Frieden, Freiheit und Sicherheit kommen nicht zum Nulltarif.“ 

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