Im Dauerstress

Die Entwicklung der Bundeswehr seit ihrer Gründung
Ankunft der letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes auf dem niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf. Von Beginn an stand die Bundeswehr in einem Spannungsfeld widerstreitender politischer und militärischer Erwartungen.
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Ankunft der letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes auf dem niedersächsischen Fliegerhorst Wunstorf. Von Beginn an stand die Bundeswehr in einem Spannungsfeld widerstreitender politischer und militärischer Erwartungen.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war ein Paukenschlag, auch für die deutsche Bundeswehr. Der Politikwissenschaftler Wilfried von Bredow beschreibt die Geschichte der Bundeswehr seit ihrer Gründung 1955.

Der 12. November 1955 gilt als Gründungstag der Bundeswehr. Damals überreichte der erste Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Blank (CDU), in der Bonner Ermekeil-Kaserne 101 Offizieren und Unteroffizieren ihre Ernennungsurkunden. Mit diesem nüchtern-feierlichen Akt begann der organisatorische Aufbau von Streitkräften. Die drei Westalliierten und die 1949 als Staat mit begrenzter Souveränität formierte Bundesrepublik Deutschland hatten lange darüber verhandelt. Richtig los ging es dann am 2. Januar 1956 – zunächst eher langsam, dann jedoch nach der im selben Jahr vom Deutschen Bundestag beschlossenen Allgemeinen Wehrpflicht 1957 mit raschem Tempo. Vier Jahre nach der Gründung dienten in der Bundeswehr bereits fast 250 000 Soldaten. Die Vorgaben der NATO, der die Bundesrepublik seit Mai 1955 angehörte, zielten allerdings auf das Doppelte.

Von Beginn an stand die Bundeswehr in einem Spannungsfeld widerstreitender politischer und militärischer Erwartungen. Nach der totalen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland 1945 strebten die vier Siegermächte, zunächst noch gemeinsam, eine Entnazifizierung und Entmilitarisierung des in vier Besatzungszonen aufgeteilten Landes an. Diese Gemeinsamkeit wurde schon bald durch eine scharfe ideologische und ordnungspolitische Konfrontation abgelöst. Seit 1947 vertiefte sich der Ost-West-Konflikt und der Kalte Krieg begann. Dieser Konflikt war nicht zuletzt wegen der Existenz von Massenvernichtungswaffen so bedrohlich. Um Westeuropa gegen einen als möglich angesehenen sowjetischen Angriff besser zu wappnen, wurden plötzlich auch deutsche Soldaten gebraucht. Sie sollten militärisch-professionell hocheffizient, indes nicht vom Gedankengut des Nationalsozialismus infiziert sein und sich in der weltanschaulichen Auseinandersetzung zu den Werten und Institutionen der westlichen Demokratie bekennen.

Primat der Politik

Die ersten Jahrgänge des Offizierkorps der Bundeswehr wurden, wie auch anders, aus ehemaligen Wehrmacht-Angehörigen rekrutiert. Ihre Erfahrungen aus dem Krieg gegen die Rote Armee bestimmten in den folgenden Jahren weitgehend die militärische Interpretation des Abschreckungs- und Verteidigungsauftrags der Bundeswehr gegen die Bedrohung aus dem Osten. Die straffe militärpolitische und strategische Integration in die NATO machte sie aber zugleich zum Muster einer loyalen Bündnisarmee. Bundesregierung und Bundestag bekräftigten zudem mit den Wehrgesetzen den Primat der Politik und eine wirksame politische Kontrolle. Beides war auch das Ziel der Inneren Führung, einem Paket von Wertvorstellungen und Führungsgrundsätzen, die zwar in der Truppe heftig umstritten waren, auch nicht immer zur Anwendung kamen, aber letztlich den verbindlichen Rahmen für die Demokratie-Kompatibilität der Bundeswehr bildeten.

Die Soldaten (und zivilen Mitarbeiter) der Bundeswehr mussten in den Aufbaujahren mit vielen Schwierigkeiten fertig werden. Es hakte bei der Infrastruktur und bei der Ausstattung mit Waffen und Geräten. Das Kriegsbild, das der Ausbildung und den taktisch-operativen Konzepten zugrunde lag, musste den Erfordernissen der hauptsächlich in den USA entwickelten Nuklearstrategie und deren Veränderungen angepasst werden. Das war nicht einfach. Denn in allen realistischen Szenarien eines Ost-West-Krieges in Europa wurde Deutschland enormen Zerstörungen ausgesetzt. Wegen der Nuklearisierung des Kalten Krieges blieb der Nutzen der Wehrmacht-Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg begrenzter, als viele Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr zunächst annahmen.

In der Öffentlichkeit der Bundesrepublik wurde in diesen Jahren, ganz anders als in der Vergangenheit, alles Militärische eher mit Skepsis und Misstrauen betrachtet. Über die Wiederbewaffnung gab es seit 1952 immer wieder leidenschaftliche Debatten, nicht nur in den politischen Gremien, sondern auch in der Zivilgesellschaft, beispielsweise den Kirchen. Kurz nach der Gründung der Bundeswehr kam es zu gesellschaftsweiten Debatten über die geplante Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, also solchen mit geringerer Sprengkraft und Reichweite.

Die internen Aufbauprobleme der Bundeswehr machten den Soldaten schwer zu schaffen. Beispielhaft sei auf die hohe Verlustrate bei dem aus den USA bezogenen Lockheed F-104G Starfighter in den frühen 1960er-Jahren verwiesen. Dass der Abschreckungs- und Verteidigungsauftrag öffentlich so umstritten war und die bundesrepublikanische Gesellschaft eine gewisse Distanz zum Militär pflegte, daran änderte auch die wachsende Zahl junger Männer wenig, die seit April 1957 ihren Wehrdienst in der Bundeswehr ableisteten. Nach dem wegen der „Spiegel-Affäre“ 1962 erzwungenen Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU) versprach sein Nachfolger Kai-Uwe von Hassel (CDU) den Soldaten nach den harten Aufbaujahren eine „Phase der Konsolidierung“. Die hat es aber nur in Ansätzen gegeben. Mehr ließen die Zeitläufte nicht zu.

In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre kündigte sich, bedingt von neuen, vor allem technischen Anforderungen an den Soldatenberuf, ein Modernisierungsschub für die Bundeswehr an. Zugleich waren diese Jahre geprägt von Veränderungen in der Zivilgesellschaft, die sich etwa in politischen Protestaktionen und einer betont autoritätskritischen Jugendkultur äußerten. Für die auf dem Grundschema von Befehl und Gehorsam aufgebauten Streitkräfte bedeutete dies eine Zunahme innerorganisatorischer Probleme. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer stieg von Jahr zu Jahr. Neue Probleme, neuer Stress.

Umstrittene Akademisierung

Entscheidende Schritte zur Modernisierung von Bildung und Ausbildung wurden in der Amtszeit von Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) unternommen. Nach einer vergleichsweise kurzen Planungsphase nahmen die beiden Bundeswehr-Hochschulen in Hamburg und München im Oktober 1973 ihren Lehr- und Forschungsbetrieb auf. Die damals in den Streitkräften keineswegs unumstrittene Akademisierung des Offizierberufs hat die Bundeswehr deutlich moderner und flexibler gemacht.

Indirekt gewann dadurch auch eine bundeswehrinterne Konfliktlinie erneute Aktualität, die sie im Grunde bis heute nicht eingebüßt hat. Gemeint ist der Konflikt um die eigene militärische Tradition und speziell die Rolle der Wehrmacht darin. Mehrere Traditionserlasse des Verteidigungsministeriums haben hier einen Kompromiss versucht: Ablehnung der Wehrmacht als Bezugsorganisation für die Traditionsbildung der Bundeswehr auf der einen und Würdigung besonderer militärischer Leistungen und moralischen Verhaltens individueller Wehrmacht-Soldaten auf der anderen Seite. Dies Rezept stieß nicht durchgängig auf positive Resonanz. Immerhin hat sich das in den ersten Jahren der Bundeswehr unter ihren Soldaten noch ziemlich verbreitete Vorurteil gegen die Offiziere des 20. Juli 1944 und ihren Versuch, Hitler zu beseitigen, weitgehend verflüchtigt.

In der Zeit von 1972 bis 1989 wurden die strukturellen und organisatorischen Reformen der kurzen, aber wuchtigen Schmidt-Ära von zwei SPD-Ministern, Georg Leber und Hans Apel, und zwei CDU-Ministern, Manfred Wörner und Rupert Scholz, mühevoll und nicht ohne Rückschläge weiter umgesetzt. Heftige und emotional geführte Debatten begannen (nicht nur in Deutschland) zu Beginn der 1980er-Jahre über die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in einigen Ländern Westeuropas. Zu einer solchen „Nachrüstung“ sollte es nach Aussage der NATO aber dann gar nicht erst kommen, wenn der Warschauer Pakt die bereits angelaufene Stationierung sowjetischer weitreichender Mittelstreckenraketen „SS 20“ rückgängig machen würde. Die Verhandlungen darüber zogen sich mehrere Jahre hin, bis sie schließlich erfolgreich waren.

Die Bundeswehr spielte in den Auseinandersetzungen zwischen den Bundesregierungen und einer starken, aber heterogenen Friedensbewegung nur eine Nebenrolle. Tatsächlich interessierte sich die Öffentlichkeit im allgemeinen wenig, etwas intensiver jedoch immer dann für die Bundeswehr, wenn es Skandalmeldungen gab. So wirbelten die üblen Gerüchte über die angebliche Homosexualität von General Günther Kießling (1983/84) kurzfristig viel Staub in einem ansonsten leeren Wasserglas auf und ließen das Ministerium schlecht aussehen.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, der Auflösung des Warschauer Pakts und dann auch der Sowjetunion selbst begann eine hoch-intensive und überaus strapaziöse Zeit für die Bundeswehr. Die Übernahme der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, die im Zwei-plus-Vier-Vertrag ausgehandelte Umfangsverkleinerung der Bundeswehr auf eine Personalstärke von 370 000 Soldaten und schließlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 über die unter bestimmten Bedingungen zulässigen Auslands-Einsätze (out of area) der Bundeswehr – all das zusammen erforderte eine Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik und eine Runderneuerung der Bundeswehr. Dazu zählte auch die Aussetzung der (zum Schluss gar nicht mehr) Allgemeinen Wehrpflicht 2011, was zugleich das Ende des Zivildienstes für Kriegsdienstverweigerer bedeutete.

Seit Mitte der 1990er-Jahre kam es häufig zu vom Bundestag jeweils gebilligten Einsätzen deutscher Kontingente in internationalen Krisenstabilisierungs-Missionen. Die längste und wichtigste davon war der ISAF-Einsatz in Afghanistan. Er begann kurz nach den Terroranschlägen von Al-Qaida am 11. September 2001 und wurde im Sommer 2021 beendet. Manche dieser, was die Einsatzbedingungen und die militärischen Missionen betreffen, sehr unterschiedlichen Missionen waren in Maßen erfolgreich. Nicht jedoch die in Afghanistan. Sie hat tiefe Spuren in der Bundeswehr hinterlassen und wird im kollektiven Gedächtnis der Truppe noch lange eine eher schmerzliche Rolle spielen.

Überbordende Bürokratisierung

Friedlicher ist die Welt in den vergangenen Jahrzehnten nicht geworden. Wenn viele Menschen in Deutschland geglaubt haben, Europa könne eine Insel des Friedens sein und bleiben, war das nichts als Augenwischerei. Die Zerfallskriege Jugoslawiens, das Ausgreifen des islamistischen Terrorismus auch auf Europa und allerspätestens die russische Einverleibung der Krim 2014 haben gezeigt, dass es vermehrter Anstrengungen bedarf, gerade auch militärischer, um das eigene Land und das Territorium des Bündnisses wirksam zu schützen. Die Bundeswehr hat deshalb in den Jahren nach 2014 damit begonnen, sich besser für die Landes- und Bündnisverteidigung zu rüsten. Das hat sich als enorm schwierig erwiesen – wegen der Ausstattungsmängel, wegen nicht ausreichender Rüstungsfinanzierung und nicht zuletzt wegen der überbordenden Bürokratisierung, die vielfach notwendige Entscheidungen verzögert oder gar unmöglich macht.

Insofern war der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein Paukenschlag. Ob er für Deutschland eine sicherheits- und militärpolitische Zeitenwende eingeleitet hat? Jedenfalls strengen Bundesregierung und Militärführung sich an, die Bundeswehr für die neuen Herausforderungen fit zu machen. 

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Wilfried von Bredow

Wilfried Freiherr von Bredow ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er war von 1972 bis 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg.


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