„Hier ist alles, was ich bin“

Im evangelischen Bildungszentrum Talitha Kumi in der Westbank lernen Christen und Muslime, Mädchen und Jungen gemeinsam
Talitha Kumi
Foto: Kathrin Jütte

Grund zu feiern, haben sie allesamt: die einen, die gerade ihr Abitur bestanden haben, und die anderen mit ihrem Zertifikat zum Streitschlichter in den Händen. In der evangelischen Schule Talitha Kumi in Beit Jala/Palästina lernen Christen und Muslime, Mädchen und Jungen unter einem Dach. Ein Besuch mit zeitzeichen-Redakteurin Kathrin Jütte.

Autotüren klappen, Kinder mit Schulranzen auf dem Rücken laufen den Hang hinunter, um pünktlich zum Unterricht in ihren Klassen zu sein. Auf dem Schulhof im Inneren der evangelisch-lutherischen Schule Talitha Kumi in Beit Jala haben mittlerweile die Sechstklässler in Reihen Aufstellung genommen. An diesem Mittwochmorgen um halb acht werden einige von ihnen mit einer Urkunde ausgezeichnet; sie haben sich zum Streitschlichter ausbilden lassen. So sollen sie zukünftig bei Konflikten ihrer Mitschüler, die tagtäglich in der deutsch-palästinensischen Schule entstehen, vermitteln und diese auf friedliche Weise beilegen. Denn hier im Westjordanland lernen Christen und Muslime, Mädchen und Jungen in der Schule gemeinsam. Es sind Kinder der Wirren ihrer Zeit. Damit wird an der Schule nicht nur Toleranz und Respekt gegenüber anderen Konfessionen vermittelt, sondern auch praktische Friedensarbeit geleistet. Und vielleicht können sie darüber hinaus auch ihre erlernten Fähigkeiten in ihrem familiären und sozialen Umfeld ausprobieren? Ein Wunsch, der hier im Westjordanland in dieser außergewöhnlichen Schule fern der Wirklichkeit erscheint.

Im Gespräch: Konrektor Milad Ibrahim mit Dina Gedeon und zwei weiteren Abiturienten.
Foto: Kathrin Jütte

Im Gespräch: Konrektor Milad Ibrahim mit Dina Gedeon und zwei weiteren Abiturienten.

 

Talitha Kumi, in der Westbank im palästinensischen Autonomiegebiet gelegen, auf einem Hügel nahe der Stadt Beit Jala, was übersetzt „Haus der Kräuter“ bedeutet. Nordwärts grenzt das Umland nach sechs Kilometern an Jerusalem; südöstlich liegt nur drei Kilometer entfernt Bethlehem, das „Haus des Brotes“. Daneben Beit Sahour, das „Haus der Hirten“. Sie alle gehören zum Bezirk Bethlehem. In diesem Kreis leben die meisten der nur noch 40 000 Christen des Landes. Doch wer Talitha Kumi besucht, lernt schnell, dass der Alltag der Schule im Heiligen Land wenig mit der Poesie von Städtenamen zu tun hat.

Grenze durch das Schulgelände

Denn die Grenze zwischen der A- und der C-Zone, also der von Israel verwalteten und der palästinensischen im Westjordanland, verläuft mitten durch das knapp zehn Hektar große umzäunte Schulgelände, auf dem sich zwischen Pinien und Olivenbäumen die unterschiedlichen Gebäude verteilen. „Church Property“, Kircheneigentum, steht auf dem Schild zur Zufahrt der Schule. Wie um die besondere Bedeutung des Ortes und die Besitzverhältnisse gleich am Eingang zu dokumentieren. Dieser ist umzäunt und mit einem großen Tor verschlossen, hinter dem ein Sicherheitsdienst Tag und Nacht über die Einfahrt wacht. Wie an jedem Morgen öffnet sich auch an diesem Tag das große Tor für die Autos der Eltern mit einem gelben israelischen Nummernschild; die Autos aus Palästina mit ihren grün-weißen Schildern kommen von der anderen Seite der Schule den Berg hinaufgefahren.

Schulhof
Foto: Kathrin Jütte

Ein Teil der Schüler muss täglich einen oft mühsamen Weg über Grenzen in Kauf nehmen.

 

Im Schulhof wehen die palästinensische und eine deutsche Fahne. Es dauert, bis alle Kinder ruhig sind und sich aufgestellt haben. Bei den Sechstklässlern in ihren Schuluniformen aus schwarzen Hosen und blauen T-Shirts geht es munter zu, sie klopfen sich auf die Schultern, ziehen sich an den Haaren und lachen. Das ändert sich auch nicht, als die palästinensische Nationalhymne aus den Lautsprechern ertönt. Wie an jedem Mittwochmorgen, wenn sich die Schulgemeinde einmal in der Woche zum Morgenappell trifft.Stolz nehmen die vom stellvertretenden Schulleiter Milad Ibrahim und dem Sozialkundelehrer und Mediationstrainer, Elias Emaya, aufgerufenen Kinder ihre Urkunden entgegen.

Schuljahresende
Foto: Kathrin Jütte

 Kurz vor Ende des Schuljahres bekommen Schülerinnen und Schüler ihre Urkunden überreicht. Sie haben sich zu Streitschlichtern ausbilden lassen.

Danach geht es wieder in die Klassen, wo sie interreligiös, und koedukativ unterrichtet werden. Keine Selbstverständlichkeit in Palästina. Dazu kommt: Ein Teil der Schüler muss täglich einen oft mühsamen Weg über Grenzen in Kauf nehmen; 150 Kinder und Jugendliche kommen beständig aus Ostjerusalem. Vom Dach des Schulgebäudes kann man auf einen der Checkpoints blicken, der die Zonen voneinander trennt. Alle lernen schon im Kindergarten neben der Muttersprache Arabisch auch Englisch und Deutsch, eine Sprache, die alle Heranwachsenden bis zu ihrem Schulabschluss begleitet. Knapp 650 Schülerinnen und Schüler, rund 150 Kindergartenkinder und sechzig Schüler in der Berufsfachschule besuchen das evangelische Bildungszentrum, zwei Drittel von ihnen sind Muslime, ein Drittel Christen, die meisten griechisch-orthodox. Allein der Religionsunterricht wird getrennt erteilt.

Getrennter Religionsunterricht

Viel hat sich verändert, seit die Schule 1851 zunächst als Kinderheim für Mädchen, Jahre später als Mädchenschule von Kaiserswerther Diakonissen um Theodor Fliedner in Jerusalem gegründet wurde. Heute befindet sich am neuen Ort in Beit Jala inzwischen ein Bildungs- und Begegnungszentrum, heute führt Talitha Kumi unter einem Dach einen Kindergarten, ein Guesthouse, ein ökologisches Zentrum, ein Internat, ein Berufskolleg und eine Schule, in der die Kinder neben dem palästinensischen Abitur, Tawjihe genannt, auch die „Deutsche Internationale Abiturprüfung (DIA) ablegen können. Träger ist seit 1975 das Berliner Missionswerk; seit 2008 gehört die Schule zum Kreis der deutschen Auslandsschulen. Die Zeiten wurden andere, allein der Name ist geblieben: Talitha kumi, „Mädchen, steh auf“, in Anlehnung an eine biblische Geschichte, die der Evangelist Markus erzählt.

Schulhof
Foto: Kathrin Jütte

 

Und die Gegenwart? Besuch im Direktorenzimmer. Matthias Wolf, ein 58-jähriger Lehrer aus dem Hessischen, leitet seit fünf Jahren die Schule, die, wie er sagt, „wie eine Insel“ zwischen den Konfliktparteien liegt. Doch abgeschottet ist die Schulgemeinde nicht, der Konflikt blitzt überall auf, ist allgegenwärtig. Schon der Text der palästinenischen Nationalhymne Fidāʾī spalte das Kollegium, für ihn persönlich sei er sehr problematisch. Dass in dem Text auch zu militärischem Widerstand aufgerufen werde, hänge sicherlich mit der Geschichte der PLO als Befreiungsorganisation zusammen. „Wir müssten die Hymne eigentlich jeden Tag singen lassen, aber wir reduzieren das auf einmal in der Woche“, sagt Wolf, der aus Grünberg bei Gießen nach Beit Jala entsandt worden ist. Als evangelische Schule ersetzten sie das Singen der Hymne durch die tägliche Morgenandacht, während an staatlichen Schulen der Morgenappell mit Nationalhymne den Tag einläute. Es ist nur eine der Herausforderungen, vor denen Talitha Kumi tagtäglich steht.

Schultor
Foto: Kathrin Jütte

 

Fast alle Lehrerinnen und Lehrer sind Christen, bis auf drei Lehrkräfte, die muslimischen Religionsunterricht erteilen. Neben den 55 palästinensischen Lehrkräften unterrichten auch zehn Deutsche. Gerade die deutschen Lehrkräfte müssten mit der palästinensischen Identität und der religiösen Auffassung klarkommen. Die deutschen Lehrkräfte kennen eine solche religiöse Aufgeladenheit des Alltags nicht, bemerkt der Schulleiter.

Schulleiter
Foto: Kathrin Jütte

 

Wie finanziert sich die Schule, eine Privatschule mit einem einer Gesamtschule ähnlichen Konzept? Einen kleinen Teil ihrer Einnahmen erzielt das Bildungszentrum durch das auf dem Gelände liegende Gästehaus. Der Trägerverein, das Berliner Missionswerk, steuert jährlich bis zu 500 000 Euro vornehmlich aus Spenden hinzu. Über die Eltern kommt monatlich ein Schulgeld von umgerechnet 100 Euro in die Schulkasse. Doch das sind viele Familien nicht in der Lage zu bezahlen. Denn der Anstieg der Inflation und der Lebenshaltungskosten machen neben der hohen Arbeitslosigkeit den Menschen in Palästina obendrein zu schaffen. „300 Kinder werden von uns über ein Auswahlgremium gefördert, bekommen also einen Teilerlass des Schulgeldes“, sagt Wolf. Patenschaften und Einzelspenden aus Europa können die Schule auffangen (siehe auch Seite 7). Überhaupt sind die Kontakte nach Deutschland sehr eng: Es gibt Austauschprogramme nach Hamburg, Bielefeld, Dessau und Emmendingen.

Enge deutsche Kontakte

Und die Schülerinnen und Schüler? Ein Blick auf den Schulhof zeigt: Hier tragen die Mädchen kein Kopftuch und werden gemeinsam mit den Jungen beschult, eine Ausnahme in Palästina mit seinen patriarchalischen Strukturen. „Sie leben zwischen zwei Welten: einerseits der traditionellen arabischen Welt, im Familienverbund. Und andererseits wenden sie den Blick nach Westen“, beschreibt Wolf. Dieser sei nicht immer einfach, manchmal schockierend, manchmal irritierend und verunsichernd.

Einmarsch
Foto: Kathrin Jütte

 

Trotzdem: Was man hier erlebe, mitten im Zentrum des Konflikts, auch an positiven Wirkungen durch Erziehung und Bildung, sei sehr beglückend. Beste Beispiele dafür seien die Abiturienten. Ein deutsches Abitur an diesem Ort bestanden zu haben, sei für den Menschen um ein Vielfaches erfüllender als in Deutschland, denn es öffne Türen. Eine, die davon erzählt, ist Dina Gedeon. Die 18-Jährige hat jetzt ihr Abiturzeugnis in der Tasche. Dina hatte es nicht weit bis zur Schule, zwei Minuten Fußweg, schon steht sie am Tor. Sie erzählt von ihrer Mutter, die in Frankfurt am Main studierte, und davon, wie auch sie die Begeisterung erfasst hat, Sprachen zu lernen. Und da in Talitha Kumi neben den Sprachen auch Wert auf Fächer wie Musik, Sport und Kunst gelegt wird, sang die junge Frau seit der siebten Klasse im Schulchor. Dort konnte sie ihr Talent entwickeln und verbessern. Zunächst sei sie schüchtern gewesen, sagt die junge Palästinenserin, der man kaum anhört, dass sie keine deutsche Muttersprachlerin ist. Aber nachdem sie bei „Jugend musiziert“ in der achten Klasse schon in der Kategorie Popmusik/Gesang den ersten Platz errungen hatte, fuhr sie nach einem ersten Platz in der Kategorie Musical in der zehnten Klasse nach Rom zum Landeswettbewerb.

Zeugnis
Foto: Kathrin Jütte

Zum Ende des Schuljahres werden die Abiturzeugnisse in der neuen Aula überreicht. Die Schule in Trägerschaft des Berliner Missionswerkes pflegt enge Kontakte zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land. Unser Foto zeigt Schulleiter Matthias Wolf, Pfarrerin Sally Azar und Bischof Ibrahim Azar.

 
Es ist eine Freude, diesem Enthusiasmus und Engagement zu lauschen: „Im Laufe der Zeit bin ich selbstbewusster geworden“, bekräftigt Dina, die Ärztin werden will. Nach dem DIA-Abitur steht ein Medizinstudium in Deutschland für sie auf dem Plan. Nein, ihr Hobby zum Beruf machen, das will die Einser-Abiturientin nicht. Dass sie nach Deutschland zum Studieren geht, um ihre Chancen zu verbessern, steht für sie und viele ihrer Mitschüler außer Frage. Aber auch, dass sie nach Palästina zurückkehren werden. „Hier ist mein Land, hier ist alles, was ich bin“, sagt die junge Frau.

Wegweiser
Foto: Kathrin Jütte

 Wie wichtig das deutsche Engagement in Talitha Kumi ist, macht Simon Kuntze im Gespräch deutlich. Der evangelische Theologe ist Nahostreferent beim Träger, dem Berliner Missionswerk, und Vorsitzender des Schulverwaltungsrates von Talitha Kumi. Dieser berät in organisatorischen und strukturellen Fragen das Bildungszentrum. Und das Berliner Werk wirbt Mittel ein, etwa für die Bestuhlung der neuen Schulaula oder für Generatoren, wenn mal wieder der Strom ausfällt, weil das Netz überlastet ist. „Die Schule ist kein Idyll, die Verständigung ist genauso kompliziert wie innerhalb der Gesellschaft“, sagt Kuntze, der von Berlin aus die Schule drei- bis viermal im Jahr besucht. Die Schülerinnen und Schüler brächten schließlich alles mit, was sie an Belastetem oder Nachteilen in den Familien erlebten. Es ist eine besondere Herausforderung, es helfe manchmal aber auch sehr, dass sie als Träger Deutsche seien. Damit gehen andere Freiheiten einher. „Gerade Christen haben Sorgen, dass sie nicht als richtige Palästinenser wahrgenommen werden.“ Deshalb sei die Bildung, Begegnung und die Förderung von jungen Frauen ein besonderes Ziel. Beherzt schildert Kuntze die Herausforderung in Talitha Kumi: „Es gilt immer, zum kritischen Denken zu erziehen und die eigene Position zu hinterfragen. Das ist manchmal leichter, in einer Schule mit einem ausländischen Träger zu verwirklichen. Der Ort Talitha ist auch für jüdische Israelis ein wichtiger Ort der Begegnung mit Palästinensern. Die Räume dafür werden in der Gesellschaft vor Ort enger. Aber hier ist das möglich – zum Beispiel eine Gedenkveranstaltung, an der gemeinsam an die Nakba erinnert wurde.“

An die Kaiserswerther Diakonissen erinnert ein Andachtsraum auf dem Dach der Schule.
Foto: Kathrin Jütte

An die Kaiserswerther Diakonissen erinnert ein Andachtsraum auf dem Dach der Schule.

 

Die Schule expandiert, allein in diesem Jahr sind zwölf neue Klassenräume für den DIA-Zweig entstanden, ein Schultheater und eine Cafeteria sollen folgen. „Together we build a better future“, steht auf dem Baustellenschild, das die Baupläne für die zukünftigen Neubauten zeigt. Ja, hier in dieser außergewöhnlichen Schule will man den Frieden im Inneren fördern. Durch Dialog, Vertrauensbildung und den Abbau von Vorurteilen. Aus dem Schatten einer fernen Pinie dringt fröhliches Stimmengewirr herüber. 

Schulgarten
Foto: Kathrin Jütte

 

Schulgarten
Foto: Kathrin Jütte

Eine Vogel-Beobachtungsstation und der Umweltgarten (unten) werden mit den Schulen der lutherischen Partnerkirche ELCJHL als Zentrum für Umweltbildung gemeinsam genutzt und gepflegt.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"