Lasst uns woke und munter sein!

Warum der Streit um die kirchliche Position zum Klimaschutz erst der Anfang ist. Und was Juli Zeh dazu zu sagen hat.
Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Polizei und Aktivisten im Streit um die Erweiterung des Kohlebergwerks in Lützerath, 13. Januar 2023
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Auseinandersetzungen zwischen der deutschen Polizei und Aktivisten im Streit um die Erweiterung des Kohlebergwerks in Lützerath, 13. Januar 2023

Der Theologe und niedersächsische Antisemitismusbeauftragte Gerhard Wegner wundert sich über den rabiaten Ton der jüngsten Debatten um EKD und Klimaschutz. Der frühere langjährige Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI) kritisiert den Trend zur Ent-Transzendierung und die damit verbundene Neigung, zu sehr als „woke“ NGO zu agieren.

Vertieft man sich in die zahlreichen Texte zur Debatte um die letzte EKD – Synode, ihren Applaus für die „Letzte Generation“ und den Beschluss zum Tempolimit, so kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Da werden Geschütze aufgefahren, als ginge es um einen Kampf auf Leben und Tod. Antisemitismusvorwürfe sind da noch das geringste, obwohl das angesichts des realen in Deutschland virulenten Antisemitismus eine Verharmlosung sondergleichen darstellt, über die man erschrecken sollte.

Eine ätzende Hermeneutik des bösen Verdachts zerstört alle Unterstellung von Gemeinsamkeit. Wie kann man bloß denn überhaupt auf die Idee kommen, in Texten von Günter Thomas, Ulrich Körtner oder Ralf Frisch allen Ernstes nach Anzeichen von Antisemitismus zu suchen? Fast witzig dabei der Begriff der „Metaphernschnüffelei“, der zum Unwort des Jahres 2023 erhoben werden sollte.

Richtig heftig wird es dann allerdings, wenn Günther Thomas daraufhin von „Elimination“ und „Eliminiertwerden“ – zum Glück nur aus dem Diskurs – spricht. Muss das sein? Ginge es da nicht etwas souveräner? Die Welt des offenen Diskurses, auf die wir alle stolz sind und in der wir leben wollen, wird gewiss nicht durch eine totalitäre Sprache verteidigt. So etwas schürt lediglich Verschwörungstheorien aller Art und endet irgendwann im gesellschaftlichen Aus.   

Hier schlagen elementare Ängste durch. Es geht um weit mehr als um kirchliche Grundsatzfragen, wie Stephan Kosch meint. Die Klimafrage ist nur ein Anlass. Letztlich geht es darum, dass sich die Kirche fundamental anders aufstellen müsste als bisher – und wer dann noch dazu gehören darf. Die EKD ist längst nicht mehr jene breit anerkannte, solide unter den Menschen verankerte, alle Gegensätze überwölbende, transzendental verankerte Institution, die wesentlich zum Zusammenhalt der Gesellschaft beiträgt und auf deren Empfängen sich gerne die politische Elite des Landes versammelt. Ihr Geltungsverlust geht weiter. Alle kirchensoziologischen Erhebungen weisen in diese Richtung, und die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wird es bestätigen. Der Laden wackelt; man weiß nicht mehr so recht, was man an ihm noch hat, auch wenn die Kirchensteuereinnahmen nach wie vor relativ üppig fließen.

Wahre Probleme erkennen, statt sich anzugiften

Und da kann es dann sein, dass schon eine Posse, wie der Beifall für die Letzte Generation auf der Synode, einen Aufbruch in eine bessere Zukunft zu verheißen scheint, wie Körtner vermutet. Die Kirche, mittlerweile selbst nur noch eine zivilgesellschaftliche Organisation unter anderen, gewinnt wieder an Gewicht im Bündnis mit anderen. So die Hoffnung. Dass kluge EKD - Papiere der letzten Zeit, wie zum Beispiel die Denkschrift „Freiheit digital. Die Zehn Gebote in Zeiten digitalen Wandels“ wenig und der Text zur Zukunft des Sozialstaates „Einander – Nächste – Sein in Würde und Solidarität“ schlicht gar keine Resonanz ausgelöst haben, kann man dann leicht verdrängen. Statt sich unter der Gürtellinie anzugiften, müsste über die wachsende Indifferenz der Gesellschaft gegenüber religiösen und anderen kirchlichen Angeboten geredet werden.

Nie ist sie deutlicher als in der Corona-Zeit geworden, in der sich schlicht fast kein Interesse an auch nur irgendwie gearteten religiösen Deutungen der Katastrophe mehr gefunden hat. Was einige Bischöfe gleich zu Beginn meinten, dass das Ganze eine reine Angelegenheit der Natur – und nicht Gottes – sei, war auch die Meinung der großen Mehrheit der Bürger. Die Kirche hatte von da an allerdings nichts mehr mit dem öffentlichen Diskurs über Corona zu tun. Und so wird es weiter gehen.

Religionsökonomisch gesprochen geht die bisher selbstverständliche „Nachfrage“ nach Religion weiter zurück, und es wächst auch wenig Spirituelles nach. Die Kirche kann nicht mehr darauf setzen, dass sich das Interesse an ihr schon irgendwie fortpflanzt. Platt gesagt: Sie muss proaktiv selbst „Nachfrage“ nach christlichem Glauben „wecken“. Allein dieser Gedanke klingt allerdings schon für manche skandalös, patriarchalisch, übergriffig und was nicht alles sonst. Wenn man schon selbst mit Kreuz und Auferstehung nicht mehr klarkommt: Für was soll man noch werben?  

Nein, nicht für ihren Glauben kämpfen, sondern zuhören, sensibel sein, für andere da sein – das wäre der Kirche jetzt angetragen – so zum Beispiel Eberhard Pausch. Wobei die Frage ist, wer da dann eigentlich wem zuhört. Die Sünde sei nun die Selbstreferenz, heißt es dann: die Beschäftigung mit alten Glaubensinhalten. Aber wie soll eine Organisation ohne Bezug auf ihr Selbst – folglich also in totaler Fremdreferenz, reiner Außenorientierung, überleben? Das wäre ein konsequentes Programm zur Selbstauflösung, zur viel diskutierten Liquidation von Religion und Kirche (Kees de Groot). Das sollte man dann auch so sagen!

Nein: Die Kirche muss neue Wege finden, schlicht den Glauben an Gott wieder plausibler werden zu lassen, so banal das klingt. Und anderen wirklich zuhören, kann ohnehin nur, wer die eigenen Bestimmtheiten kennt und sie von dem unterscheiden kann, was andere sagen. Ist dieser Unterschied nicht mehr erkennbar liefert man sich in der Tat an andere Kräften aus und lässt sich fremdbestimmen. Allerdings sind Übernahmen nichts Neues, sondern Episoden in einem längeren Prozess der Enttranszendierung kirchlichen Handelns, wie Gabriele und Peter Scherle überzeugend belegt haben.

Zwischen Welten

Versuchung der Preisgabe des Eigenen treffen nicht nur die Kirche. Man nehme das neue Buch von Juli Zeh und Simon Urban „Zwischen Welten“ zur Hand. Da geht es um eine große Hamburger Wochenzeitschrift, so zwischen „Zeit“ und „Stern“ angesiedelt: „Bote“ genannt. Geleitet von einem charismatischen Chefredakteur und einer Göttinnen gleichen Herausgeberin, wohnhaft natürlich an der Elbchaussee (mit Sichtachse von der Terrasse zur Elbe). Auch hier muss man sich angesichts schrumpfender Zeitungsmärkte um Leser bemühen – wie auch in der Kirche. Der gute alte seriöse Faktenjournalismus, so wie die klassische protestantische Dogmatik, kommt nicht mehr an, gerade nicht bei den Jüngeren. Deswegen ist nun Meinungsmache gefragt, was angesichts der ökologischen Dramatik ohnehin allen einleuchtet.

Und so lädt man die Letzte Generation in Gestalt zweier junger Aktivisten, Leonie und Justin, zur Produktion einer Weltrettungs-Sonderausgabe des „Bote(n)“ ein, die auch sofort die Sache in die Hand nehmen (Die Redaktion bekommt gleich zu hören: „Wir stehen auf verschiedenen Seiten!“). Die unerträgliche Arroganz der beiden bis hin zum Rumlümmeln im Chefsessel führt zwar bald zum Rauswurf. Aber die Ausgabe erreicht ungeahnte Auflagenhöhen. Der Meinungsjournalismus gewinnt auf der ganzen Linie. So wie die EKD nach dem Synoden - Beifall in den sozialen Netzwerken. Die alten weißen Männer sind endlich out.

Aber damit geht es erst richtig los: Denn das Blatt gerät nun in eine neue Welt der rasanten Überwachung durch soziale Aktivisten hinein, in der jeder nicht ganz korrekte Spruch öffentlich wird und kleinste Fehler zum Nazivergleich mit fürchterlichsten Konsequenzen für die Beteiligten führen. Teile der Redaktion gehen durch die Hölle, aus der sie nur die Aktivisten erlösen könnten. Das kostet den Chefredakteur nicht nur das Amt und beinahe auch seinem Stellvertreter, führt bis kurz vor die Spaltung der Redaktion und das Ende der Zeitschrift, bis dann zum Glück die Göttin von der Elbchaussee alles rettet und aus dem „Bote“ die „Bot*in“, mit einem politisch korrekten Paar an der Spitze macht, was das Blatt endgültig wieder stabilisiert. Und mit einer gewaltigen Party in James-Bond-Manier gefeiert wird.

„Wesen unser?“

Könnte so etwas nicht auch in der Kirche klappen? Ein entschlossenes Umstellen des Programms der Kirche auf die Rettung der Welt? Das müsste doch gut ankommen! Die Konflikte wären programmiert – nicht anders als in Hamburg. Das einsetzende umfassende Aufräumen in allen Traditionsbeständen könnte vor den Heiligen Texten nicht Halt machen und würde schnell umfassende Revisionen zur Folge haben. Entwürfe dafür gibt es schließlich längst. „Mutter unser“ statt „Vater unser“ wäre da noch das Harmloseste – oder besser: „Wesen unser“! Dann würden dann auch in der EKD neue „synodale Prozesse“ in Gang gesetzt – aber auch eine Spaltung stünde drohend im Raum. Was dann fehlt, ist eine Göttin wie in Hamburg. Paradoxerweise ist es mit ihr schwierig. Denn ob es eine solche gibt, hat mit den Eigentumsverhältnissen zu tun. Viel eher bliebe solch eine Revolution im Kirchenamt der EKD stecken, aber auch dort könnten ja einige von der Letzten Generation mal gründlich aufräumen.

Weder in der Hamburger Redaktion noch in der Kirche gibt es irgendwelche übermächtigen Kräfte, die für die Aufrechterhaltung einer seriösen Publizistik alten Stils oder eines substanziellen Christentums sorgen. Nicht nur, dass auch immer weniger junge Theologen und Theologinnen die alten dogmatischen Zentralunterscheidungen von Gesetz und Evangelium – geschweige denn von deus revelatus oder deus absconditus (offenbarten oder verborgenen Gott)– noch für sinnvoll halten: Sie verstehen sie wahrscheinlich gar nicht mehr.

Soll man ihnen deswegen nun Ignoranz und Missachtung der Alten vorwerfen? Die Dissoziation von klassischen theologischen Kategorien und Identitäten oder sozialen Institutionen ist nicht nur postkolonial weit fortgeschritten und lässt sich nicht mehr einholen. Die in dieser Richtung einschlägige Familiendenkschrift der EKD aus dem Jahre 2013, damals heftig umkämpft, stellt mittlerweile selbst für Evangelikale kein Problem mehr da, wie man hören kann. Und Luthers Antisemitismus prägt seine gesamte Theologie – nicht nur einige spätere Texte. Die alten Helden sind hohl – in der Tat! Selbst Bonhoeffers Gefängnistexte werden von Ralf Frisch kritisiert. Was für ein Sakrileg! Offensichtlich bricht etwas Neues durch, aber dessen Konturen zeichnen sich entfernt noch nicht ab.

Sehnsucht nach Substanz

Also: Augen zu und durch? Eine christliche Kirche wird es immer geben. Es ist doch toll, wie viele Menschen doch noch dabei sind, so warnte sogar noch vor kurzem ein Ratsvorsitzender vor radikalen Veränderungen. Aber so locker kann man das nicht sehen. Der Trend zur Ent-Transzendierung kirchlichen Redens und Handelns ist höchst gefährlich, denn er entstellt das Bild der Kirche in der Gesellschaft. Die Kirche kann nur Kirche sein als die einzige Institution in der Gesellschaft, die am Jenseits der Gesellschaft teilhat und genau dies kommuniziert. In dieser paradoxen Rolle kann nur sie einer Gesellschaft toxischer Singularität einen Spiegel vorhalten. Dass in den viele nicht blicken wollen, weil sie sich darin als längst nicht so schön und großartig erkennen, wie sie es gerne hätten, liegt auf der Hand.

Annette Weidhas erinnert deswegen völlig zu Recht an die zentrale kritische Kategorie des christlichen Glaubens, die Sünde. Zudem zitiert sie knackige theologische Aussagen, um an den in allen Nöten und Katastrophen nährenden und haltenden Gehalt des Glaubens zu erinnern, der sich auf den richtet, der die Welt überwunden hat. Daraus, weil es etwas Besseres gibt als die Steigerung des Lebens, erwächst eine große Freiheit zur Selbstbegrenzung und der notwendigen Einschränkung von bisher gewohnten exzessiven Lebensmöglichkeiten: Exnovation statt Innovation! Keine Theorie der gesellschaftlichen, stets egobasierten Individualisierung, kann so etwas begründen!

Wir brauchen mehr Mut zur radikalen theologischen Kritik der Gesellschaft und der Subjektivitäten wie sie sind! Die Vorstellung davon, dass jeder Mensch sein Selbst aus der Hand Gottes empfängt – und sich nicht beständig neu erschaffen muss – ist in der gegenwärtigen Krise der Selbstbemächtigung der Welt revolutionär. Aber sie muss auch hörbar gemacht werden!

Bedrohung durch rechten Ökoaktivismus

Noch einmal zurück zur „Bot*in“ in Juli Zehs und Simon Urbans Werk. Der Jubel über die gelungene Anpassung an den neuen Geist in Hamburg ist in dem Roman nur die eine Hälfte der beiden Welten, zwischen denen sich der Roman in ständigem medialem Dialog bewegt. Die andere sind die in immer prekärer werdenden Verhältnissen lebenden Bauern in Brandenburg: die hässliche, sehr reale Gegenwelt zum schönen Hamburg, in der Menschen verzweifeln und allein gelassen werden. Auch dort greift die Versuchung des – in diesem Fall aber populistisch rechten – Ökoaktivismus, führt aber in die totale Katastrophe. Keine Göttin rettet hier noch irgendetwas. Und zynischerweise steigern die Hamburger dadurch dann noch ihre Auflagen in ungeahnte Höhen. Gewinner und Verlierer – in West und Ost – bleiben wie gehabt.

Auch dies beschreibt einen Spiegel für die Kirche. Es gibt nicht nur die Letzte Generation. Auch der grassierende Rechtspopulismus in Europa greift auf christliche religiöse Symbolik als identitäre Wahrzeichen der Zugehörigkeit zur Mehrheitskultur gegen Angehörige anderer Religionen zurück und dringt damit in Felder vor, die die Kirche in ihrer Schwäche nicht mehr bespielen kann. Das ist im Osten Deutschlands längst zu spüren.

Bisher gelingt es, hierzu mit klarer einheitlicher Abgrenzung zu reagieren. Das funktioniert, weil sich die deutschen Kirchen aufgrund der staatskirchlichen Regelungen und der komfortablen Abschottung von den Interessen ihrer Mitglieder durch die Finanzierung qua Kirchensteuer so etwas leisten können. Anderswo in der Welt, zum Beispiel in den USA – darauf hat Tobias Cremer, Oxford, hingewiesen – sieht das aber gerade deswegen ganz anders aus. Und auch in der EKD bleibt die Frage, ob man nicht in Richtung der rechtspopulistischen Klientel mehr tun müsste, als sich nur konsequent abzugrenzen. Das wäre mindestens so wichtig wie der Beifall für die Letzte Generation.

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