Gottes Sehnsucht

Klartext

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kaiser. Er ist Pfarrer  i.R. in Stuttgart.

Hartnäckige Zeugen

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 13. November

Doch wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben finden auf Erden? (Lukas 18,8)

Die Geschichte hat gezeigt, dass der Menschensohn nur wenig Glauben gefunden hat. Damals und heute. Denn es sind immer nur Wenige gewesen, bei denen es gezündet hat. Und für die Christengemeinde um den Evangelisten Lukas war das noch viel existenzieller als für uns heute. Denn die Gemeindemitglieder warteten darauf, dass der Herr noch zu ihren Lebzeiten wiederkommen wird. Aber die ersten Christen waren bereits gestorben. Und so erlahmte der erste Glaubensschwung der Gemeinde. Und Lukas schrieb ihr die Geschichte vom Richter und der unbeugsamen Witwe.

Frauen waren damals rechtlos, Witwen noch viel mehr. Sie hatten keine Chance. Die Witwe in der Erzählung von Jesus auch nicht. Aber sie war unbeugsam und blieb hartnäckig. Und das zahlte sich am Schluss aus. Denn der Richter verschaffte ihr Recht.

Diese Hartnäckigkeit – so Jesus – sollen Christen auch haben. Gebt den Glauben nicht auf, auch wenn das tägliche Erleben dagegenspricht, das will Lukas vermitteln.

In einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Juli 2021 zum Ansehen von Berufsgruppen veröffentlichte, belegen Feuerwehrleute, Pfleger und Ärzte die ersten drei Plätze. Pfarrerinnen und Pfarrer tauchen in der Tabelle dagegen gar nicht erst auf. In einer säkularisierten Gesellschaft spielen die Kirchen schließlich immer weniger eine wichtige Rolle. Und damit auch das von ihnen organisierte Christentum. Aber statt nun auf die böse Welt zu schimpfen, sollten Kirchenleute danach suchen, wodurch die Kirchen selbst dem Glauben im Wege stehen. Und bei den Gründen wird man in jedem Zeitalter fündig.

Umso mehr kommt es auf die Mitglieder der Kirche an, wie sie ihren Glauben leben und sich in die Gesellschaft einbringen, in der Familie, der Nachbarschaft, der bürgerlichen Gemeinde, in der Politik. Wenn Christen durch ihre Lebensweise ihren Glauben bezeugen und begründen können, warum sie dieses tun und jenes lassen – dann wird so auch der Menschensohn bezeugt.

Denn irgendwie sind wir Christen das Papier, auf dem die Mitmenschen lesen können, was Gott will und geschehen lässt. Auch wenn wir manchmal nur schlechtes Papier sind, Jesus macht uns im Schreiben des Lukas Mut, nicht aufzuhören, nicht zu verzagen, sondern es immer wieder neu zu versuchen.

 

Lust am Spekulieren

Totensonntag, 20. November

Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. (Markus 13,33)

Die ersten Christengemeinden hatten ein existenzielles Problem. Mitglieder waren gestorben, aber der Herr noch nicht wiedergekommen. Daraufhin fielen einige vom Glauben ab, und viele wankten. Der Evangelist Markus greift das Problem auf und verkündet, der Herr habe das Problem kommen sehen. Darum seine Abschiedsreden, darum der Ruf nach Wachsamkeit. Dass der Herr wiederkommen wird, ist klar. Aber wann wird das geschehen? Darüber zu spekulieren ist verboten. Auch wenn sich Fragen aufdrängen: Wann kommt der Herr? Wie kommt der Herr? Ist man selbst mit dabei? Und wo hält man sich als Toter bis zur Wiederkunft des Herrn auf? Auf diese Fragen wurden immer wieder Antworten gegeben. Eine lautete: Der Mensch hat eine göttliche Seele. So war der Mensch schon zu Lebzeiten irgendwie im Himmel. Andere haben die hellenistische Unterscheidung zwischen Körper und Geist aufgegriffen: Der Körper vergeht, der unsterbliche Geist aber bleibt, steigt als Geist oder Seele zum Himmel auf und wartet dort auf das Jüngste Gericht.

In der Alten Kirche, der Kirche der ersten fünf Jahrhunderte, gab es viele solcher Spekulationen. Und so entwickelten sich zahlreiche Lehren, deren Anhänger drauf und dran waren, eigene Kirchen zu gründen. Und so ist die Geschichte der Alten Kirche geprägt von immer neuen Synoden, die beschlossen und klarstellten, was in der Kirche gilt und was nicht. Nebenbei gesagt: Bei dieser Entwicklung spielte ein Bischof von Rom keine Rolle.

Die erwähnten Spekulationen sind interessant, haben aber mit Jesus nichts zu tun. Auch nicht die überaus schlauen Berechnungen des württembergischen Pietisten Albrecht Bengel (1687 – 1752). Er meinte 1740, am 18. Juni 1836 beginne das erste von zweimal tausend Jahren, bevor das Jüngste Gericht gehalten wird. Seine Anhänger aber übersprangen die zweitausend Jahre und nannten gleich den 18. Juni 1836 als Termin des Weltuntergangs und des Beginns des Jüngsten Gerichts.

Diese Spekulation hatte fatalen Folgen: Nicht wenige fromme Schwaben verkauften Hab und Gut und zogen in einem großen Auswanderungsstrom so weit nach Osten, wie es damals überhaupt ging – in den Kaukasus. Denn weil die Sonne im Osten aufgeht, war er der Ort, um gleich beim Beginn des Jüngsten Gerichts dabei zu sein. Andere Pietisten blieben zwar im Land, aber sie verkauften ebenfalls alles, was sie besaßen, und verschenkten den Erlös, um als Arme dem Erlöser zu begegnen. Als die Spekulation sich am 18. Juni 1836 um Mitternacht als falsch erwiesen, dürfte eine Schockwelle durchs fromme Deutschland gerollt sein.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Herr versagt sich allen Spekulationen. Zugleich macht er aber klar: Der Tag und die Stunde wird kommen. Also bleibt bereit. Lebt bis dahin Euren Glauben, und verlasst Euch darauf, dass Ihr in der Hand des Herrn seid, im Leben, im Sterben und – im Jüngsten Gericht!

 

Leicht katholisch

1. Advent, 27. November

Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. (Offenbarung 3,15–17)

Türkeitouristen kennen Pamukkale mit seinen heißen Kalksinterterrassen. Im Tal davor lag Laodizea, das die Johannesoffenbarung erwähnt. Es war eine Stadt der Bankiers, Goldschmiede und Färber. Letztere produzierten Gewänder aus Purpur. Und die Goldschmiede schufen kleine Götterstatuen, die die Pilger erwarben, um sie in den Becken von Hierapolis (Pamukkale) zu versenken, aus dessen Wasser eine Augensalbe gegen den Grauen Star angerührt wurde.

Im Jahr 61 vor Christus zerstörte ein Erdbeben mit der Stadt auch die Bank­-
gebäude und Handelshöfe. Aus Rom wurde Hilfe zugesagt. Aber die Laodizeaer lehnten dankend ab; sie seien so reich und könnten sich selbst helfen.

Dieses Selbstverständnis der Bürger hatte sich auch auf die christliche Gemeinde übertragen. Da fuhr der Prediger Johannes mit seiner Apokalypse dazwischen. Die Gemeinde bekam schriftlich eine schallende Ohrfeige. „Lau“ sei sie in ihrem Reichtum, also langweilig. Mehr noch, die Stadt der Augenheilkunde sei „blind“, arm statt reich, nackt statt in Purpur gewandet.

Die Christen von Laodizea hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Da verkündet der Herr selbst dem „Engel“, dem Gemeindevorsteher: Wer Christus nachfolgen will, hat sich an den Armen, Benachteiligten, Fremden, Flüchtlingen, Kranken und Verstoßenen auszurichten. Das ist der Maßstab und nicht die Ruhe auf einem christlichen Sofa.

Solch eine Gardinenpredigt, die Christen aufscheucht und „aus dem Schlaf der Sicherheit“ reißt, ist immer wieder notwendig. Sie hält uns seit den Zeiten des Johannes einen Spiegel vor. Auch manches in unseren Gemeinden erinnert an das Liegen auf einem bürgerlich-christlichen Sofa bei gleichzeitigem Jammern auf hohem Niveau. Ohne sich dabei an die Wurzeln des christlichen Glaubens zu erinnern.

Genau dazu ruft Prediger Johannes auf und wird dabei bereits leicht katholisch: „An ihren Werken sollt ihr sie erkennen!“ Als ob diese allein ein Zeichen des Glaubens wären. Da ist die Botschaft des Paulus bereits Vergangenheit. Aber ohne die Gnade des Herrn können wir nicht einmal glauben. Die Werke allein sind es nicht. Also festigt Euren Glauben. Damit Werke daraus werden. An beidem aber lasst nicht nach.

 

Lieder im Wirtshaus

2. Advent, 4. Dezember

Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen. … Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. (Hohelied 2,2 und 8–9)

Beim „Hohelied“ handelt es sich nicht um einen geistlichen Gesang. Vielmehr wurden die Lieder aus dem Buch „Hohelied“ noch im 2. Jahrhundert nach Christus in jüdischen Gasthäusern des Mittelmeerraums gesungen. Erst dann nahmen sich jüdische Theologen dieser Liebeslieder an und interpretierten sie als Ausdruck der Liebe zwischen Gott und seinem Volk. Dem folgten die christlichen Theologen und interpretierten die Liebeslieder als Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und der Kirche (so Hippolyt) oder zwischen Gott und der frommen Seele (so Origines) oder gleich als Beziehung zwischen Gott und der Jungfrau Maria (so Ambrosius von Mailand). Und Bernhard von Clairvaux, einer der Väter der Kreuzzüge, konnte darüber herzzerreißend predigen.

Wer der Meinung ist, der christliche Glaube sei asketisch und lehne die Erotik ab, sollte diese Lieder lesen. Sie haben den Weg in die Bibel gefunden, weil es immer wieder Menschen gab, die bekannten: Besser kann man das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen nicht ausdrücken als in erotischen Liebesliedern.

Wendet man diese Lieder auf das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen an, hört und liest man ein Bekenntnis Gottes: „Ich sehne mich nach Dir, Mensch!“ Und Gott verwirklicht diese Sehnsucht an Weihnachten. Deshalb passt dieser Text zum Advent, wenn Christen sich auf die Ankunft Gottes vorbereiten.

Aber da gibt es ein Problem: Zwischen den Liebenden besteht eine Mauer. In der Regel traut sich der Mensch nicht hinter der Mauer hervor. Das kann eine des Misstrauens sein, aber eine Begegnung mit Gott verändert alles. Oder eine Mauer der Faulheit. Das Sofa des bürgerlichen Christentums ist halt sehr bequem. Oder eine Mauer der Furcht vor Neuem. Aber Gott ist ein Freund, dessen Liebe keine bisherige Gewissheit bestehen lässt. Denn die Liebe ist schon immer ein Abenteuer gewesen. 

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