Im Paradies der Spiele

Computerspiele zwischen Palmen, Sand und Flammen
Ausschnitt aus "Far Cry" Foto: Jens Palkowitsch-Kühl
Ausschnitt aus "Far Cry" Foto: Jens Palkowitsch-Kühl
Sehnsüchte nach paradiesischen Verhältnissen schlagen sich auch in den neueren Computerspielen nieder. Jens Palkowitsch-Kühl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik in Würzburg, stellt einige Spiele vor. Und er beleuchtet die hohe Attraktivität, die die scheinbar grenzenlose Freiheit solcher simulierten Paradiese nach sich zieht.

Sie lassen Ihren Blick durch die klare Morgenluft Richtung Küste schweifen. Die Palmenblätter wehen sanft in der frischen Brise. Die aufgehende Sonne taucht alles in ein wohliges Licht, welches die Haut allmählich erwärmt. Das Gezwitscher der Vögel vervollständigt die vor Ihnen gelegene Idylle. Man hätte es besser nicht einfangen können: das Bild von Frieden, Geborgenheit und innerer Ruhe. Doch der Schein trügt: Sie befinden sich nicht hier, um die Natur zu genießen oder die Seele baumeln zu lassen. Ganz im Gegenteil: Ihr Auftrag war es, eine Journalistin zu einer auf Karten nicht verzeichneten Inselgruppe im Südpazifik zu eskortieren und sie sicher wieder zurückzubringen.

Doch etwas lief schief und Ihr Boot wurde bei der Rückfahrt zerstört – das Einzige was Sie wissen ist, dass Sie die Journalistin finden und die Insel schnellstens verlassen müssen. Das sind Szenen aus dem Spiel Far Cry, einem der ersten digitalen Spiele, welches durch seine prachtvolle und bildgewaltige Umsetzung, eine malerisch traumhafte Inselwelt darstellen konnte. In dieser spiegelt sich funkelnd die Sonne im Wasser und der Wind bewegt die Gräser. Taucht man in das kristallklare Wasser ein, begegnen einem neugierige Südseefische. In diesem Inselparadies bewegt man sich wie in einem idyllischen Garten.

Eine Erkundung jener fruchtbaren Inselwelt hätte ihren Reiz, aber die vermeintlich wahre Intention der Spieledesigner liegt woanders. In diesem Action-Shooter muss der Weg des Helden von der Insel in Richtung sicheren Hafen ein flammender sein, voll von Schusswechseln, Explosionen und krperlichen Auseinandersetzungen. Manche vermögen die bis dahin grafisch unerreichte Qualität eines digitalen Spiels vielleicht für eine paradiesische halten; wahrhaft paradiesisch gestalten sich jedoch die Möglichkeiten, die man auf dieser Insel hat: den gottgleichen Einfluss auf die Natur und die Spielhandlung. Far Cry ist ein Open World Spiel, das heißt, die Spielenden können sich relativ frei im Inselparadies bewegen. Eine lineare Haupthandlung führt dabei anhand mehrerer Aufträge (Quests) durch das Spiel. Daneben bieten sich jedoch immer wieder Möglichkeiten die Welt anhand von Nebenmissionen individuell zu erkunden oder Einfluss auf das Biotop zu nehmen. Das gibt einem das Gefühl von Freiheit, in einem ansonsten bis dato rein linear konstruierten Genre. Es fühlt sich erfrischend an – auch noch heute.

Zwischenzeitlich veröffentlichen die Spieleschmieden unzählige digitale Spiele, die dieses Prinzip der Freiheit (Open-World) integrieren. Der Erfolg lässt sich anhand der zahlreichen Nachfolger (Sequels) messen. So ist Far Cry bereits mit einer fünften Auflage und diversen Ablegern vertreten, und die Möglichkeiten, in die unterschiedlichen Spielwelten einzugreifen, nahm von Teil zu Teil zu. Konnte man in Far Cry 2 (Ubisoft 2008) bereits Steppenbrände in der Grenzregion zur Sahara auslösen, so zähmte man im dritten Teil (2012) Tiere, auf denen man sich fortbewegen konnte. Im Teil „Far Cry Primal“ (2016) fand man sich in der Steinzeit wieder und stellte aus Mammutfellen Kleidung und Tierknochen Waffen her. Für die Spielenden steigt die wahrgenommene Freiheit mit den Möglichkeiten der Interaktion im Rahmen der virtuellen Spielewelt. Vielleicht ist dies auch eins der Erfolgsgeheimnisse von Grand Theft Auto (gta). Eine Freiheit, von der man annehmen könnte, dass diese außerhalb von digitalen Spielen ebenfalls wahrzunehmen ist: Hat man hier doch unzählige Handlungsmöglichkeiten, denn Gegenstände sammeln (World of Warcraft) und den Haushalt führen (Die Sims) kann man auch hier. Digital tolle Dinge tun Die Besonderheit liegt nicht in der Tätigkeit per se, sondern vielmehr im spielerischen Handeln. In den digitalen Spielelandschaften kann man Dinge tun, zu denen man oftmals im realen Leben keine Zugangsmöglichkeiten hat. Man kann sich an Tätigkeiten probieren, die einem moralisch verwerflich erscheinen und Szenarien erleben, die vollkommen frei fingiert sind oder nach denen man sich sehnt, diese aber wie die Sterne ungreifbar sind – zum Beispiel als Sternenschiffkapitän auf der USS-Enterprise entfernte Galaxien bereisen, um fremde Lebensformen zu entdecken, die Geschichte der französischen Revolution neu schreiben oder heile Familie spielen.

Gerade Simulationsspiele erwecken ungeahnte Bedürfnisse nach Handlungsmöglichkeiten, die leicht die realen (finanziellen) Ressourcen und Kompetenzen überschreiten können. Als Pilot einer Cessna in Flight Unlimited 2K16 (2016) über die schweizer Alpen fliegen, als Bauer in Landwirtschafs-Simulator 18 (2018) die Felder bestellen oder gar das Leben einer Ziege in Goat Simulator (2014) erleben. Mit der passenden Konsole und dem Gamepad in der Hand gelingt dies auf Spielstufe „einfach“ auch Neulingen des digitalen Spiels. Dann kann die oftmals als „Realitätsflucht“ verpönte Tätigkeit starten, der sich gerade jüngere Menschen stundenlang zwischen Palmen, Sand und Flammen hingeben können. Der digitale Möglichkeitsraum wird zugleich zum Fluchtort, dem „happy place“. Hier finden sich Ruhe- und Wohlfühloasen.

Auf das Spielgeschehen konzentriert und alles Alltägliche um sich herum vergessend, versinkt man in den Landschaften aus Polygonen. Wie im Lied von Reinhard Mey „Über den Wolken“ werden die Sorgen des Lebens beim Steuern einer Boing 747 nichtig und klein. Tagsüber arbeite ich gestresst im Büro, nachmittags kümmere ich mich um mein familiäres Leben und spätabends schalte ich beim American Truck-Simulator (2016) ab, wenn ich Sägespäne von Missouri nach Kalifornien fahre – auf der legendären Route 66 – in simulierter Echtzeit. Hier bin ich der König der Straße, wenn ich die weiten Landschaften, geschmückt von atemberaubenden und ikonischen Wahrzeichen, an mir vorbeiziehen lasse. Wo andere Entspannung und inneren Frieden beim Yoga finden, genieße ich, wenn ich mich überarbeitet fühle, die weiten Straßen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dabei fahre ich stundenlang oftmals nur geradeaus, achte auf die Geschwindigkeitsbegrenzung und versuche die richtige Abzweigung am Highway zu erwischen.

Etwa 30 Millionen Menschen in Deutschland gaben laut BITKOM Research für das Jahr 2017 an, Computerspiele zu spielen. Besonders spannend ist, dass es keinesfalls nur Männer sind, sondern die Anzahl der weiblichen Spielerinnen in etwa gleich groß ist. Die Mehrheit ist im Kinder- und Jugendalter, aber auch in der Altersgruppe der 50- bis 65-Jährigen gab jeder Fünfte an selbst in digitale Spielewelten einzutauchen. Neun von zehn 10- bis 18-Jährige spielen digitale Spiele. Für die allermeisten Kinder und Jugendlichen gehören Computer- und Videospiele heute zum Alltag.

Immer mehr digitale Spiele setzen auf Onlinefunktionen. Die Spielenden treffen sich gemeinsam in virtuellen Spielräumen, in denen sie oftmals einzeln oder miteinander gegeneinander antreten, beispielsweise in MMORPGS (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game) wie World of Warcraft (2004) oder Battle-Royals („Der letzte überlebt“) wie Playerunknowns Battlegrounds) (2017) oder Fortnite (2017). Sie treten dabei in einen Wettstreit, indem sie ihre jeweiligen Fähigkeiten in Bezug auf das jeweilige Spiel messen. Kommunikation und Anerkennung treffen hierbei aufeinander. In der sozialen Interaktion miteinander durchleben Spielerinnen und Spieler ihre Streifzüge etwa durch Azeroth oder Mordor. Gemeinsam gehen sie Herausforderungen in Arenen (Dungeons) als Krieger, Heiler und Magier an und bezwingen dabei den Einzelnen gegenüber übermächtige Kreaturen. Meistern sie nur knapp die Herausforderung, macht sich ein Flow-Erleben breit – ein Gefühl vollkommener Glückseligkeit ist die Belohnung der digitalen Klick-Mühen.

Dieses Flow-Erleben, das sich einstellt, ist ein von den Spieleentwicklern gewollter Effekt, der die Spielerinnen und Spieler an die Aktivitäten im Spiel binden. Freilich können diese Gefühle auch ein abhängiges Verhalten hervorrufen. Was zuvor wie ein Paradies erschien, verwandelt sich im physikalischen Raum zur Hölle, wenn die Familie, der Job und selbst der eigene Körper vernachlässigt werden. Erst kürzlich wurde diese Abhängigkeit offiziell pathologisiert, indem sie in der International Classification of Diseases (ICD-11) als behandlungsbedürftige Krankheit anerkannt wurde.

Einige digitale Spiele greifen auch explizit religiöse Vorstellungen eines Paradieses auf. Weniger als einen himmlischen Garten, vielmehr als Skizze einer Jenseitsvorstellung. Das Spiel Deponia (2012), ein Point-and-Click-Adventure, nimmt sich diesem auf besondere Weise an, indem Rufus, der Protagonist, den Müllplaneten Deponia in Richtung der schwebenden Stadt Elysium mit einem selbstgebastelten Fluggerät verlassen möchte. Aus einem Missgeschick der Hauptperson heraus stürzt diese ab und „Paradies“ und „Hölle“ treffen aufeinander. Die Hölle ist oftmals eher Schauplatz als der Himmel. In Diabolo 1–3 bekämpfen Sie den dunklen Höllenfürsten persönlich, in Dantes Inferno (2010) bezwingen Sie die Bannkreise der Hölle, um ihre engelsgleiche Frau aus der Verdammnis zu erretten, und in Bayonetta irren Sie durch die Dimension der Engel.

In Bioshock: Infinite (2014), einem Action-Shooter, spielt ebenfalls eine schwebende Stadt „Columbia“ eine große Rolle. Sie stellt eine utopische Gemeinschaft dar, die den Schein zu wahren versucht, ein Paradies zu sein. Der Hauptdarsteller bricht diese Fassade auf und zeigt auf das wahre Wesen der Gesellschaft: Intrigen, Freiheitsberaubung und Unterdrückung. Doch das Paradies erhält auch Risse. Digitale Spielwelten können zerbrechen, wenn externe Machtinteressen darin zur Wirkung kommen. Etwa, wenn sie das Spielgefühl negativ beeinflussen. Einen solchen Vorstoß wagte die Firma EA mit dem Spiel Star Wars Battlefront 2 (2017), indem sie das Erhalten von besser bestückten Loot-Boxen – Kisten, die im Spiel meist zufällig gefunden werden und in denen sich nützliche Gegenstände (Items) für den weiteren Spielverlauf finden – gegen Bezahlung anboten. Nicht diejenigen, die das Spiel mit ihrer Lebenszeit meisterten, waren nun die Erfolgreichsten, sondern diejenigen, die Geld dafür bezahlten. Das Paradies wurde infiltriert und der Aufschrei in der Gamergemeinde war riesig, sodass EA das Prinzip entschärfte.

Sich paradiesisch fühlen, kann auch synonym für sich himmlisch fühlen aufgefasst werden. Oftmals verbunden mit dem Gefühl der Sorgenfreiheit, generieren Spiele wie Flowers und Journey genau eine solche Stimmung. Die 15-jährige Sophia berichtete beim Spielen von Journey (2012) gemeinsam mit ihrem Vater „Your game changed my life“. Bei Sophias Vater wurde eine schwerwiegende Krankheit diagnostiziert. Während des Spielens von Journey verbrachte sie die schönste Zeit mit ihm seit der Diagnose der Krankheit. Es scheint für sie das Paradies gewesen zu sein. Wochen nach seinem Tod wagte sie sich wieder in digitale Spielwelten einzutauchen, und beim Spielen von eben jenem Spiel, Journey, kamen all die Gefühle ihrem Vater gegenüber wieder auf. Denn es wirkte für sie beide damals fast so, dass es in dem Spiel um sie ging. Noch heute spielt sie das Spiel in Erinnerung an ihren Vater und an die Freude, die sie beide im Spiel teilen durften. So bleibt es für sie ihr kleines Paradies.

Das Paradies in digitalen Spielen erweckt den Anschein vor allem etwas Individuelles zu sein. Jede dieser Spielwelten kann im übertragenen und emotionalen Sinn wahrhaft paradiesisch sein. In der alltagsgebräuchlichen Paradiesvorstellung als atemberaubend schöner Fleck auf Erden, etwa als wörtlich-biblische Vorstellung entsprechender Garten-Eden-Beschreibungen aus Genesis, aber auch in Bezug auf Jenseitsvorstellungen eines „Himmels“, greifen digitale Spiele deren Motive auf. Vielleicht ist es aber gerade auch die Fähigkeit, etwas im Auge des Betrachters sinnvolles mitzugestalten, was paradiesische Gefühle nach sich zieht. Im legoähnlichen Spiel Minecraft

(2009) gestalten immer mehr Heranwachsende gemeinsam ihre Wohlfühlorte und verlieren sich im Gestaltungprozess dieser. Ist es nicht genau das, was uns von Gott mitgegeben wurde? Die Welt aktiv mitzugestalten, die Sorgen loszulassen und miteinander Gemeinschaft zu haben?

Jens Palkowitsch-Kühl

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