Aus der Isolation geholt

Ein Besuch bei der evangelischen Binnenschiffermission in Duisburg
Pfarrer Frank Wessel ist Leiter der Binnenschiffermission der Rheinischen Kirche. Foto: Wolfgang Thielmann
Pfarrer Frank Wessel ist Leiter der Binnenschiffermission der Rheinischen Kirche. Foto: Wolfgang Thielmann
Ein Pfarrer der Rheinischen Kirche betreut mit seinem Team Binnenschiffer zwischen Emmerich am Niederrhein und Trier an der Mosel. Der Journalist Wolfgang Thielmann hat das Kirchenboot in Duisburg bestiegen und sich bei einer Fahrt umgesehen und umgehört.

Frank Wessel muss sich konzentrieren. Immer wieder löst er das Tau aus den Pollern, die senkrecht untereinander in die Betonwand eingelassen sind, und wirft die Schlaufe über das nächstniedrige. Dann das Tau über der Klampe belegen, die aluglänzend auf das Deck geschraubt ist, und langsam wieder nachgeben. Hielte er zu lange fest, während das Boot in der Schleuse an Höhe verliert, würde das Boot krängen und das Tau die Klampe aus dem Deck reißen.

Frank Wessel ist Pfarrer und auf dem Wasser zu Hause. Zusammen mit Schiffsführer Reinhard Kluge hat er die „Johann Hinrich Wichern“, das Boot des Evangelischen Binnenschifferdienstes in Duisburg vom Liegeplatz im Kanalhafen geholt. Um das Brückenfundament für die A59 herum liegt die Meidericher Schleuse, das Tor zum Rhein. Das Obertor ist offen. Und vor dem Untertor wartet der Tanker „Ailena“, 110 Meter lang, mehr als ein Fußballfeld, und 11,04 Meter breit, die Schleuse. Hinter der Kohle- und der Ölinsel passieren sie den Tanker „Rhoen III“, ebenso groß wie die „Ailena“. Er ist auf dem Weg in den südholländischen Seehafen Moerdijk. Ein Mann winkt, so wie auf den meisten Schiffen, denen sie begegnen. Pfarrer Wessel winkt zurück. Winken ist eine pastorale Arbeit auf dem Wasser. Präsenz zeigen. Die Kirche ist da. Bietet Hausbesuche an. „An Bord gerufen zu werden, ist die Krönung“, sagt Wessel. Dann haben die Leute ein Problem. Und Vertrauen. Oder wollen ihre Kinder taufen lassen. Dann geht die „Wichern“ längsseits eines Schiffs und macht fest. „Über Land wäre es viel umständlicher“, erklärt er.

Der Pfarrer scheint sie alle zu kennen. „Der hatte bei mir Religion“, sagt er beim Vorbeifahren. Wessel unterrichtet am Duisburger Schifferberufskolleg Rhein 150 Leute in drei Klassen. Inzwischen sind mehr Frauen dabei.

Taufen und Trauungen

„Die habe ich getraut“, lässt er beim nächsten Schiff fallen, und noch eins weiter: „Da habe ich zwei Kinder getauft.“ Das Kirchenboot ist auch Kirche. Im Bauch können sich 15 Leute versammeln. Und das reicht für eine Taufe. Fünf oder sechs seiner früheren Berufsschüler hat Wessel im vergangenen Jahr getraut. Und Schiffsleute wollen auf dem Wasser feiern. „Bei Taufen hatten wir immer schönes Wetter“, sagt Wessel. Früher wuchsen die Binnenschifferkinder auf den Frachtern auf, bis sie spezielle Internate bezogen. Heute existiert nur noch eines, in Würzburg. Inzwischen wohnen viele Familien an Land. Die Väter arbeiten vierzehn Tage am Stück und haben vierzehn Tage Pause. Wenn ihnen das Schiff nicht gehört.

„Die Arbeit der Einrichtung ist offen für Menschen aus allen Ländern dieser Erde, unabhängig von Religion und Konfession“, heißt es auf der Homepage des Evangelischen Kirchenkreises Duisburg. „Sie ist konsequent als aufsuchende Arbeit konzipiert und hat ihren Schwerpunkt im Bereich Seelsorge und Beratung sowie Diakonie.“

Frank Wessel ist in Deutschland einer der weniger werdenden hauptamtlichen Pfarrer für Schiffsleute. Und er hat ähnliche Sorgen wie sie. Die Arbeit wächst, die Einnahmen werden weniger. Vor zwei Jahren musste er das Haus der Schiffergemeinde mit seinen neobarocken Schweifgiebeln und Übernachtungszimmern und einer Offenen Jugendarbeit schließen. Jetzt haben sie eine Etage in Ruhrort gemietet. Ein Büro, eine Küche, Gruppenräume. Auf dem Regal steht ein Eins-zu fünfzehn-Modell des Kirchenbootes. Und eine Tafel sagt: Rechte Sprüche werden hier nicht geduldet .

Das Team ist auf vier Leute geschrumpft: Wessel, Schiffsführer Kluge, Diakonin Gitta Samko, die heute nicht dabei ist, und Frau Goerke. Sie putzt die Schlafräume und die Küche im Bauch. Auch sie hat auf dem Boot geheiratet. Und ihre Tochter wurde hier getauft. An der Schifferbörse, in der Nähe der Horst-Schimanski-Gasse, steigt sie aus.

Eigentlich sollte der Zuschuss der Rheinischen Kirche von 67.000 Euro gestrichen werden. Zwar gehört der Binnenschifferdienst zum Kirchenkreis Duisburg. Aber die Landeskirche bestritt mit ihrem Zuschuss den größten Teil des Haushalts. 2015 kürzte die Synode ihren Beitrag auf 40.000 Euro. Und noch einmal so viel kommt vom Kirchenkreis. Dazu gibt es eine Kollekte, die in der ganzen Rheinischen Kirche gesammelt wird. Aber die Verteilung der Kollekten ist umkämpft.

Damit geht die Arbeit die nächsten Jahre weiter, ist Pfarrer Wessel sicher. Und das Boot bleibt, das ist wichtig. „Mit dem Boot nehmen wir teil am Leben auf dem Wasser“, sagt er.

Eine Tankfüllung, tausend Liter Diesel, verschlingt 800 Euro. Die Mission ist für alle 36 Häfen, die Verladeeinrichtungen in Duisburg und die 700 Kilometer Wasserstraßen im Bereich der Rheinischen Kirche zuständig, von Emmerich an der holländischen Grenze bis Trier. „Nach Trier und zurück sind wir vierzehn Tage unterwegs“, erzählt Wessel. Dreimal Treibstoff bunkern. Sie können auf dem Boot leben. Unten sind zehn Schlafplätze, Küche und ein Bad. Das Bistum Essen hat seine Barkasse „St. Nikolaus“ 2010 nach fast 50 Jahren aufgegeben und nutzt die „Johann Hinrich Wichern“ mit.

Wichern, ein Theologe, der nie Pfarrer wurde, aber viel bewegte, regte sich über die sittliche Verwahrlosung in den Häfen auf. 1870 schickte er den ersten Diakon zu den Seeleuten im Hamburger Hafen. Und der erste deutsche Seemanns-pastor reiste nach England, um sich bei der anglikanischen Kirche umzusehen. 1848 hatte Wichern mit einer flammenden Rede auf dem ersten Kirchentag in Wittenberg die Innere Mission gegründet, die heute Diakonie heißt.

Bei den Kirchentagen kommen heute noch Vertreter der 32 Stationen der Seemannsmission auf der ganzen Welt zusammen. In der Nachkriegszeit hat sich die Arbeit international ausgebreitet. Und trug den Seeleuten die Heimat in die großen Häfen nach. Seeleute vereinsamen leicht.

„Wichtig ist, die Isolation aufzubrechen“, sagt Pfarrer Wessel. Jedes Jahr besuchen sie tausend Schiffe. „Wir fahren immer“, schiebt er nach, „nur nicht bei Nebel.“

Schifffahrt ist der Indikator der Globalisierung. Container haben die Branche revolutioniert. Man kann sie Tag und Nacht umschlagen, und das verkürzt die Liegezeiten. Die Matrosen haben nie Ruhe. Menschen werden zum Kostensenkungsfaktor. Und haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Jahrelang gab es zu viele Containerschiffe. Aber in diesem Jahr hofft die Branche auf Erholung.

In Duisburg machen auch Hochseeschiffe fest. Diakonin Samko besucht sie vom Land aus. Bringt den Leuten Telefonkarten mit, damit sie zu Hause anrufen können, und fragt, was sie brauchen. Stammen sie nicht aus den Schengenstaaten, dürfen sie nicht an Land. Oft kommen Besatzungen aus ganz verschiedenen Ländern und können sich kaum untereinander verständigen. Monatelang sind sie von der Familie getrennt.

Im Parallelhafen passieren wir ISPS-Terminals. Hermetisch abgeriegelt, alle Container werden durch Röntgenbrücken geschoben. Die Terminals sollen die Seefracht in die USA vor Terroristen schützen. Das hat die US-Regierung den Häfen der Welt vor drei Jahren aufgezwungen. Die Liegeplätze sind mit Stacheldraht bis zum Wasser abgesperrt. „Wenn ein Seemann einen Infarkt kriegt, kommt auch kein Rettungswagen mehr rein“, meint Pfarrer Wessel.

Logistikknoten Europas

Wenige Flüsse auf der Welt sind so stark befahren wie der Rhein. 600 Schiffe pendeln im Schnitt pro Tag zwischen Rotterdam und Duisburg, 400 bis Köln und 300 bis Mainz. Duisburg liegt günstig. Deshalb boomt der Hafen. Durch die Meidericher Schleuse führen die Ruhr und der Rhein-Herne-Kanal mit seinen Verbindungen zu Ems, Weser und Elbe. Die schwarzen Berge auf der Kohleninsel stammen aus China und Australien. 20 Kilometer nordöstlich, in Bottrop, wird mit riesigen Subventionen die letzte einheimische Kohle aus tausendzweihundert Metern Tiefe geholt. Aber nächstes Jahr ist Schluss. Für den Hafen fällt das kaum noch ins Gewicht. Mit Kohle und Stahl wurde er groß. Doch jetzt ist er der Logistikknoten Europas. Bahngleise reichen bis an den Hafenkanal, den Parallelhafen und ans Kombiterminal in Rheinhausen.

Das Jahr 1987 ist Geschichte, als die Rheinhausener Krupphüttenwerke geschlossen werden sollten und zehntausend Stahlarbeiter mit einer Menschenkette über die Brücke der Solidarität bis nach Dortmund das Ruhrgebiet lahmlegten. Gegenwart ist, dass genau zur gleichen Zeit im nahen Erkelenz der erste „Fressnapf“-Discounter für Tierbedarf öffnete. Seit Weihnachten 2016 löschen in Rheinhausen 80 „Fressnapf“-Lageristen in zwei Schichten Containerschiffe aus Asien und den usa, Kratzbäume und Hamsterräder. Per Schiff, Bahn und Lastwagen gelangen sie in die 1500 Filialen. Der Konzern ist europäischer Marktführer und beschäftigt auf dem ganzen Kontinent fünftausend Menschen, doppelt so viel wie bei der Stahlwerksschließung arbeitslos wurden.

Rettungsanker des Ruhrgebiets

Immer noch entsteht ein Drittel des deutschen Stahls in Duisburg, in Marxloh, wo vor elf Jahren auch die erste Großmoschee in Deutschland öffnete. Vom Hafen aus wird der Stahl weitertransportiert. Aber das Geschäft schrumpft.

Dafür kommen die Container. An seinen acht Terminals wird Duisburg in diesem Jahr wahrscheinlich 140 Millionen Tonnen Frachtgut umschlagen und damit Hamburg überflügeln. Der Containertransport wächst schneller als die Weltwirtschaft. Aber das ist nicht alles. „Trimodale Logistik“ lautet die Duisburger Zauberformel, Warenverkehr auf Schiene, Straße und Wasser. Das ist ein Vorteil im beinharten Wettbewerb der Häfen. In Duisburg endet nach einer Viertelerdumkreisung der Güterzug aus dem chinesischen Chongquing. Und ins 200 Kilometer entfernte Rotterdam, dem für Deutschland wichtigsten Seehafen, verkehren nicht nur Schiffe. Bald soll ein Viertel der Fracht mit Zügen vom Meer nach Duisburg transportiert werden. Und über drei Autobahnen rollen Lastwagen bis ans Wasser.

Schiffsführer Kluge zeigt auf die Mercatorinsel westlich von der Kohle- und der Schrottinsel. „Da kommt Mercedes hin.“ Wo Kräne einst Eisenerz aus den Schiffsbäuchen klaubten, gähnt eine Brache. 2019 will die Bahnspedition Schenker hier Mercedesteile aus zwei riesigen Hallen in die usa verschiffen. Audi und VW sind schon länger da. Gegenüber der Inselspitze, an der Friedrich-Ebert-Brücke, die die Hafeneinfahrt und den Rhein überspannt, entsteht ein neuer Anleger für Flusskreuzfahrer. Die meisten Binnenschiffe transportieren Fahrgäste.

„Vierzigtausend Arbeitsplätze hängen vom Hafen ab“, sagt Reinhard Kluge. Duisburg ist der Rettungsanker des Ruhrgebiets. Gut 221 Millionen Tonnen wurden im letzten Jahr über deutsche Flüsse und Kanäle transportiert. 2015 waren es noch 100.000 Tonnen mehr. Der Rhein fällt öfter auf Niedrigwasser als früher, das hat den Durchgangsverkehr einbrechen lassen. Und wie sich der Klimawandel auf die Schifffahrt auswirken wird, weiß noch keiner.

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Wolfgang Thielmann

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