Auf einer schräg nach oben gestellten Holzfläche, die an ein Schiffsinneres erinnert, sitzen und gehen sieben Personen. Mühsam bewahren sie das Gleichgewicht. Um nicht abzustürzen, halten sie sich an Holzzapfen fest und rutschen doch nach unten. Gelegentlich ächzt und knarrt das Holz. Wir sind in Rugbüll, dem "nördlichsten Polizeiposten Deutschlands", sind in Siegfried Lenz' Roman "Deutschstunde" im Jahr 1943. Im Hamburger Thalia-Theater wurde nur knapp zwei Monate nach Lenz' Tod am 6. Oktober 2014 sein Roman in der sorgsam genauen Regie des Niederländers Johan Simons aufgeführt.
"Deutschstunde" ist Siegfried Lenz erfolgreichster Roman, er erschien 1968. Am Beispiel Jens Jepsens, des Dorfpolizisten, wird die Verquickung von Pflicht und Schuld im Nationalsozialismus dargestellt. Jepsen hat ein 1943 ausgesprochenes Malverbot gegen den expressionistischen Maler Max Ludwig Nansen (der "reale" Maler Emil Nolde diente Lenz als Vorbild) zu überwachen. Jepsen, seit seiner Jugend mit Nansen befreundet, hat keinerlei Zweifel an seinem Auftrag und erfüllt ihn gewissenhaft. Seinen Sohn Siggi versucht er zu Spitzeldiensten zu bewegen, doch dieser beschließt seinem Vater nicht zu gehorchen ...
Die Dramatisierung von bekannten Romanen ist seit einigen Jahren an den deutschen Staatstheatern angesagt: Ob Cervantes "Don Quijote", Dostojewskijs "Schuld und Sühne", Melvilles "Moby Dick", Thomas Manns "Buddenbrooks", Kafkas "Prozeß" - den heutigen Intendanten und Regisseuren ist inzwischen jeder große epische Stoff recht, um die theatralischen Fähigkeiten ihrer Bühne unter Beweis zu stellen. Auch kann man so das Publikum eher locken als mit neuen Stücken unbekannter Autoren. Natürlich können aus den umfangreichen Romanen dann nur handlungsrelevante Teile verwendet werden, die reflektierenden Passagen werden weggelassen. Und hier beginnt das Problem: Denn eigentlich setzt die Dramatisierung von Romanen ihre Kenntnis voraus. Die aber ist gerade bei Jüngeren oft nicht mehr gegeben. Es werden zwar dicke Fantasy-Romane verschlungen, aber "Moby Dick" oder die "Brüder Karamasow" haben sie in der Regel nicht gelesen. Werden sie hinterher zum Roman-Original greifen? Eher nicht. Also, wäre eine Folgerung, dann ist es doch gut, dass sie die großen Stoffe, neben den Genannten auch Homers "Ilias" oder das Alte Testament wenigstens so kennenlernen. Die andere wäre der Vorwurf, das sei ein theatralischer Ausverkauf. Nicht selten aber gelingt auch ein Drittes - die Dramatisierung legt eine Sicht frei, die bei der Lektüre vielleicht nicht so deutlich wird.
So geschehen bei Lenz' "Deutschstunde" in Hamburg: Gestrichen sind die Gefängnisszenen und die Landschaftsschilderungen, Stimmungsgemälde von Meer, Deich und Wiesen, die Lenz so meisterlich beherrscht. Aber das kommt dem eigentlichen Handlungskern zugute. Die Geschichte stellt sich in der Theaterfassung als kleinbürgerliches Familiendrama in schrecklicher Zeit heraus, in dem das Ehepaar Jepsen das Verhalten seiner Kinder und damit die Welt nicht mehr begreift. Wie können sie uns das antun? Diese Frage stellen Jepsen und seine schon mal rassistisch argumentierende Frau. Sie sind autoritäre Charaktere, die die Anordnungen des Regimes nicht anzweifeln. So wird einem noch mal deutlich: es gab diese Normalität des Lebens, in der sich Eltern über die Tochter aufregen, weil sie sich von dem Maler Nansen als "Wellentänzerin" mit entblößter Brust malen lässt, aber das Grauen ringsum nicht wahrnimmt. Und die Kinder, die das erleiden, nehmen ihre Traumata mit in die Nachkriegszeit.
Informationen
Die nächsten Aufführungen der "Deutschstunde" finden am 28. Februar 2015 um 14 und 20 Uhr statt.
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict
Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich der Literaturtheologie.