Nicht nur unter uns bleiben
Ulrich Körtner ist schnell bei der Hand: Ein Luthertum meint er zu erkennen, "das an sich selbst irre zu werden und die Orientierung hinsichtlich seiner geschichtlichen Sendung zu verlieren droht". Anlass für diesen "besorgniserregenden" Befund ist die Lektüre des Studiendokuments "Vom Konflikt zur Gemeinschaft", das eine internationale "Lutherisch/Römisch-Katholische Kommission für die Einheit" im Auftrag des Lutherischen Weltbunds (LWB) und des vatikanischen Einheitssekretariats erarbeitet hat, um "Perspektiven für ein gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017" zu entwickeln. Dieser Text sei so nachhaltig auf die "Klage über die Spaltung der abendländischen Christenheit" gestimmt, dass eine lutherische Freude über die Ursprünge der eigenen Genese kaum mehr zu erkennen sei. Die reformatorische Theologie sei so konsensorientiert, "weichgespült" dargestellt, dass man sich am Ende frage, "warum die Reformation überhaupt stattfinden musste". Vor diesem dunklen Hintergrund strahlt umso heller die "Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa" (GEKE), die in ihrem Aufruf zum Reformationsjubiläum die Reformation als "kirchlich-religiösen Aufbruch mit weltweiter Ausstrahlung und Wirkungen bis heute" gefeiert und klar die aus der Rechtfertigungsbotschaft entspringende christliche Freiheit als den inneren Fokus der Reformation aufgewiesen habe. Angesichts dieses schrillen Kontrasts wundert es nicht, dass Körtner abschließend den "anderen protestantischen Kirchen" pathetisch zuruft, das Reformationsjubiläum 2017 sei "zu wichtig, als dass man es dem LWB überlassen darf".
Schlüsselwort Freiheit
Es mag befriedigend sein, Licht und Schatten so eindeutig zu verteilen. Aber das schöne Bild kann dennoch so nicht stehen bleiben.
Niemand wird bestreiten, dass eine Konfession ihr Gründungsjubiläum nur dann angemessen begeht, wenn darin die Freude über ihre eigene Geschichte und fortdauernde Existenz überzeugend zum Ausdruck kommt; andernfalls könnte sie gleich ihre Selbstauflösung betreiben. Unstrittig ist ebenfalls, dass sich die Reformation des 16. Jahrhunderts einer religiös-theologischen Befreiungserfahrung verdankte. Daher ist die "Freiheit eines Christenmenschen" zu Recht bis heute das Schlüsselwort, wenn es um die Selbstverständigung über "protestantische", auch "lutherische Identität" geht. Ich kenne im LWB niemanden, der beides anders sieht. Im Gegenteil, der Lutherische Weltbund hat seine eigenen Beiträge im Horizont von 2017 dezidiert unter die Überschrift "Befreit durch Gottes Gnade" gestellt und will die vielfältigen Dimensionen reformatorisch inspirierter Freiheit heute unter dem Stichwort "Not For Sale" beleuchten: Weder Heil noch Menschen, noch Schöpfung sind verkäufliche Handelsgüter. Wer auch nur einen kurzen Blick auf die entsprechenden Dokumente wirft, wird hier keinen Unterschied zur GEKE erkennen können.
Nun gehört zum Selbstverständnis des LWB als weltweiter Gemeinschaft lutherischer Kirchen freilich auch, dass das Reformationsgedächtnis nicht in protestantischer Selbstabschließung, sondern in ökumenischer Verantwortung gefeiert werden soll. Es bringt wenig, die reformatorische Freiheit zu beschwören und zugleich den Blick davor zu verschließen, dass namentlich die römisch-katholische Schwesterkirche die Reformation lange Zeit überhaupt nicht und auch heute keineswegs primär als Wiederentdeckung des frei machenden Evangeliums wahrnehmen konnte und kann, sondern vor allem das damit verbundene Zerbrechen der organisatorischen Einheit der abendländischen Christenheit bedauert. Dies kann umso weniger ignoriert werden, als in den vergangenen fünfzig Jahren eine historisch einzigartige Annäherung zwischen evangelischen und katholischen Christen eingetreten ist, die auf allen Ebenen zu einem intensiven Geflecht von Beziehungen geführt hat. Die Erfahrungen tiefer christenmenschlicher Gemeinschaft machen es unmöglich, sich weiter einfach durch wechselseitige Abgrenzung zu definieren. Wenn aber katholische Christen in der Reformation gemeinsame christliche Anliegen verwirklicht sehen können und evangelische Christen im gegenwärtigen Katholizismus vielfältige Elemente gelebter Evangeliums-Treue zu erkennen vermögen, wird die Frage drängend, ob und wie auch ein gemeinsames Reformationsgedächtnis möglich ist.
Es verdient hohen Respekt, dass sich die "Kommission für die Einheit" dieser Herausforderung gestellt hat. Es ging um die schwierige Aufgabe, nicht einfach die eigenen Großnarrationen zu wiederholen, sondern die eigene Geschichte gleichsam auch mit den Augen des je anderen zu lesen und umgekehrt die Geschichte des anderen aus ihren je eigenen Motiven verstehen zu lernen. Nur unter Würdigung dieser Intention ist - bei aller berechtigten Kritik im Einzelnen - die Studie "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" angemessen zu beurteilen.
Auf Luther konzentriert
Wie geht sie vor? Den Anfang bilden instruktive Überlegungen zum "Reformationsgedenken im Zeitalter von Ökumene und Globalisierung", die den Aufstieg der Pfingstkirchen und das Verschwinden christlichen Traditionswissens in modernen Gesellschaften als wichtige Momente des hermeneutischen Horizonts für ein gegenwärtiges Reformationsgedächtnis aufzeigen.
Das zweite Kapitel gibt einen Abriss über die Entwicklung der Lutherforschung im 20. Jahrhundert, die neue Impulse für einen ökumenischen Zugang zur Reformation gegeben habe. Dieser Abriss beschränkt sich freilich weitgehend auf die katholische Seite evangelische Entwicklungen werden nur sehr knapp und auch inhaltlich verkürzt angesprochen.
Das dritte Kapitel bietet: "Eine historische Skizze der lutherischen Reformation und der katholischen Antwort." Sie ist ganz auf Luther konzentriert, mit Ausnahme des Augsburger Bekenntnisses, das als Ausdruck eines "differenzierenden Konsenses" mit der römischen Kirche gelesen wird - obwohl diese in der Confutatio dem doch deutlich widersprach. Während die lutherische Entwicklung nur bis 1555 nachgezeichnet ist, wird an das Trienter Konzil unmittelbar das II. Vatikanum angeschlossen, zum Aufweis der ökumenischen Öffnung der römischen Kirche. Diese Asymmetrie ist insofern bedenklich, als für die Formierung des Luthertums und sein gegenwärtiges Selbstverständnis natürlich auch die nachreformatorische Geschichte prägend ist.
Ausgelagert in das vierte Kapitel ist die Behandlung von vier "Hauptthemen der Theologie Martin Luthers im Licht der lutherisch/römisch-katholischen Dialoge", nämlich Rechtfertigung, Herrenmahl, Amt sowie Schrift und Tradition. Nach einer Darstellung von Luthers Position werden hier jeweils die entsprechenden katholischen Anliegen namhaft gemacht, ehe die aus den ökumenischen Dialogen erwachsenen Annäherungen und die gleichwohl bleibenden Differenzen resümiert werden. Kapitel V reflektiert Bedingungen und Formen gemeinsamen Reformationsgedenkens. Zu Recht wird die wechselseitig anerkannte Taufe als "Grundlage für Einheit und gemeinsames Gedenken" angeführt. Lutheraner feiern, so wird betont, nicht die Spaltung der abendländischen Christenheit, sondern das von "Luther und (den) anderen Reformatoren" eröffnete "Verständnis des Evangeliums"; wegen der in jüngerer Zeit erkannten großen Übereinstimmungen können Katholiken diese Freude teilen. Sehr viel ausführlicher kommen allerdings Klage, Bedauern und Sündenbekenntnis zu Wort: über die zerbrochene Einheit, über Missverstehen und mangelnden Verständigungswillen, über die Verquickung religiöser mit politischen Motiven, etc. Die Studie schließt mit "fünf ökumenischen Imperativen", die die Aufgabe variieren, das Gemeinsame zu akzentuieren und das Evangelium, wo immer möglich, gemeinsam zu bezeugen.
Nicht unter uns bleiben
Geleitet ist die Studie von dem Interesse, die Reformation als aus heutiger Sicht auch für Katholiken annehmbare Gestalt der Kirchenreform verständlich zu machen. So zeichnet sie Luthers Wirken in den religiös-theologischen Horizont des Spätmittelalters ein und liest es als eine Variante innerhalb eines Spektrums von Kirchenreformbemühungen. Dieses die Kontinuitäten betonende Verfahren ist in vielerlei Hinsicht erhellend und instruktiv. Es hat aber auch seinen Preis: Unterbelichtet bleibt dadurch nämlich die Entschlossenheit, mit der Luther lang eingespielte kirchliche Traditionen wie Pflichtzölibat, Kelchentzug und Fegefeuer kritisierte und abschaffte. Auch der radikale Neuansatz im Amtsverständnis - genauer: der Verzicht auf eine priesterliche Deutung des ordinationsgebundenen Amtes - wird kaum mehr erkennbar. Mehr noch: Das lutherische Amt erscheint als grundsätzlich legitimierungsbedürftig. Nur so erklärt sich die in der Tat inakzeptable Aussage, das kontinuierliche Gegebensein eines ordnungsgemäßen Amtes in der Geschichte des Luthertums sei dadurch belegt, dass sich lutherische Kirchen in der "Gemeinsamen Erklärung" mit der katholischen Kirche über "Grundwahrheiten" der Rechtfertigungslehre verständigen konnten. Die Frage, ob denn in der katholischen Kirche ein ordnungsgemäßes Amt existiert, wird nirgends gestellt, sondern offenbar als bereits beantwortet vorausgesetzt.
Auf diese kritischen Aspekte hat Ulrich Körtner zu Recht aufmerksam gemacht. Nicht nachvollziehen kann ich dagegen seine Kritik, die Studie habe die Pointe der reformatorischen Rechtfertigungslehre, nämlich das "allein durch den Glauben", nicht herausgestellt. Dass Gottes Gerechtigkeit - so Körtner - "reine Gabe und kein Verdienst" ist, steht schon in der "Gemeinsamen Erklärung" und wird auch in der Studie unzweideutig ausgesagt. Auch sein Einwand, die Reformation dürfe nicht nur auf Luther reduziert, sondern müsse in ihrer Vielfalt wahrgenommen werden, ist historisch natürlich einleuchtend. Die Beschränkung auf Luther kann aber in einem lutherisch-katholischen Dokument durchaus pragmatisch sinnvoll sein und muss auch keineswegs eine Abwertung anderer Reformatoren implizieren.
Sie macht freilich zugleich auf die begrenzte Funktion dieses Dokuments aufmerksam: Es bietet keine umfassende Darstellung der Reformation. Geboten wird auch nicht "die" normative, gleichsam LWB-offizielle Lesart der Reformation. Die Studie bildet weder den einzigen noch den programmatisch-grundsätzlichen Beitrag des LWB zum Reformationsjubiläum. Sie ist aber Ausdruck jener ökumenischen Verantwortung, die in der Sicht des LWB wesentlich zu einem ebenso ursprungstreuen wie zeitgemäßen und zukunftsoffenen Reformationsgedenken gehört. Sie steht nicht in Konkurrenz zur innerprotestantischen Ökumene, wie Körtner anscheinend annimmt, sondern ergänzt sie. Sie ist sicher nicht das letzte Wort, aber sie kann ein Gespräch eröffnen, das unerlässlich ist. Das Reformationsjubiläum ist zu wichtig, als dass wir Protestanten unter uns bleiben sollten.
Bernd Oberdorfer