Ein Bassist erzählt von seiner großen Enttäuschung, als er zum ersten Mal unter Claudio Abbado proben durfte. Der Maestro sagte kaum etwas, gab nur wenige Hinweise, wie das Werk zu spielen sei. "Das soll der berühmte Abbado sein?", fragte der Musiker nachher einen Kollegen. "Warte nur ab bis zum Konzert", lautete die Antwort. In diesem Konzert, so schließt die Erzählung des Musikers, habe er wie unter Drogen gespielt - als ginge es um sein Leben.
"Die Magie eines lebendigen musikalischen Augenblicks lässt sich nicht durch dirigentische Kommandos erzwingen", verriet Abbado in einem Interview mit der zeit. Der Dirigent müsse vielmehr eine Atmosphäre der Offenheit erzeugen und die Bereitschaft zuzuhören. Abbado: "Die Musik zeigt uns, dass Hören grundsätzlich wichtiger ist als das Sagen." Und er äußert noch eine ungewöhnliche These: Der Schlüssel sei der "Mut, nichts zu wollen".
Dass er einer ist, der dem Schöpfungsgeist des Kollektivs vertraut, statt dem Orchester seine Interpretation eines Werkes überzustülpen, macht den Italiener zu einer Ausnahmefigur im Musikgeschäft. Abbado kann auf ein Leben zurückblicken, in dem er künstlerisch alles erreicht hat, was ein Dirigent erreichen kann: Er hat das Orchester der Mailänder Scala geleitet, das London Symphony Orchestra, die Wiener Staatsoper und die Berliner Philharmoniker. Obendrein hat er zahlreiche Orchester selbst gegründet.
Mit diesem Ensemble hat er nun Schumanns zweite Symphonie sowie die Ouvertüren zu "Manfred" und "Genoveva" aufgenommen. So macht sich Claudio Abbado zum Advokaten eines vielfach verkannten Werkes, das im Schatten der berühmteren vierten Symphonie leicht übersehen wird. Doch die Zweite, von Schuberts großer C-Dur-Symphonie inspiriert und in derselben Tonart geschrieben, sei "möglicherweise die fortschrittlichste von allen", urteilt der gebürtige Mailänder - komponiert in Schumanns besonders verliebten Jahren.
Ihr Reichtum an Ideen und Emotion wird in der Neueinspielung schon im fein differenzierten Kopfsatz hörbar, aber noch schöner im folgenden Scherzo, das anfangs einem klaren, in der Sonne glitzernden Gebirgsbach gleicht und bald eine machtvolle Strömung entwickelt. Doch selbst im prächtig auftrumpfenden Schlusssatz ist immer noch für Momente der quirlige Gebirgsbach zu erahnen.
Wer dann mehr Lust auf Abbados symphonisches Wirken bekommt, dem sei die Retrospektive "Claudio Abbado: The Symphony Edition" wärmstens ans Herz gelegt. 41 CDs zu einem erstaunlich günstigen Preis, unter anderem mit den kompletten Zyklen von Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Brahms und Mahler.
Schumann - Symphony No. 2 & Overtures. Orchestra Mozart unter der Leitung von Claudio Abbado.
Ralf Neite