Die gebildete Öffentlichkeit interessiert sich heutzutage mehr dafür, wer etwas sagt, als für das, was gesagt wird. Wenn sich also der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour über Religion äußert, dann ist das als solches schon eine Nachricht wert. Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis das 2002 in Frankreich erschienene Buch ins Deutsche übersetzt wurde. Der französische Originaltitel gibt das Anliegen des bekennenden Karl-Barth-Kenners Bruno Latour besser wieder. "Jubilieren - Über religiöse Rede" heißt es im Deutschen, "Jubiler - ou les tourmentes de la parole religieuse", also "Jubilieren - oder die Qualen der religiösen Rede" heißt es in der Originalausgabe. Bruno Latour berichtet von den Qualen eines Gottesdienstbesuchers, mehr noch: von der Scham über das, was ihm Sonntag für Sonntag geboten wird. Er will aber auch den Religionsverächtern und Spöttern das Feld nicht kampflos überlassen. Und so beschreibt er seine eigene Gemütslage: "Schämt sich, wenn er hingeht, schämt sich, wenn er nicht zu sagen wagt, dass er hingeht. Hört er, was drinnen gesprochen wird, knirscht er mit den Zähnen; hört er aber, was draußen gesprochen wird, schäumt er vor Wut."
Wie die religiöse Sprache aus ihrer kirchlichen Gefangenschaft befreien und ihr gesellschaftliche Aufmerksamkeit verschaffen? Latours Ratschläge klingen nur auf den ersten Blick paradox: "Vor allem nicht glauben", sodann: "nicht an 'Gott' glauben", auf jeden Fall nicht an einen Gott, den man wie einen Glaubensprüfstein vor sich her trägt. Es gebe keine hermeneutischen Regeln, auf die sich ein Prediger verlassen dürfe. "Man muss jedes Mal dasselbe Risiko eingehen, jedes Mal ein anderes."
Religion informiert nicht. "Die Beziehung eines religiösen Textes zu der Sache, von der er spricht, ist nicht die einer Karte zu ihrem Territorium." Vielmehr gilt: "Diese Texte, diese Worte eröffnen Zugang zu überhaupt nichts." Religiöse Kommunikation ist vielmehr einem Gespräch zwischen Liebenden vergleichbar. Fragt der eine: "Liebst Du mich?", dann geht es gerade nicht um einen Informationsaustausch. Es geht um das Herstellen von Nähe. Glaube als Vertrauen ist für Latour so unentbehrlich wie die Luft, die wir atmen.
Warum sind die Hörer religiöser Reden so oft so tief enttäuscht? Weil die religiösen Redner der irrigen Meinung anhängen, sie hätten "eine Botschaft zu überbringen". Engel zum Beispiel überbringen nach Latour gar keine Botschaften. "Sie verändern das Leben derer, an die sie sich wenden." Die Welt, von der die Religion spricht, ist keine andere als die, von der die Wissenschaft spricht. Beide haben den gleichen Gegenstand, aber sie thematisieren ihn auf unterschiedliche Weise. Die Wissenschaft sucht die Referenz zum Fernen, die Religion das immer riskante Ereignis der Nähe. "Was Liebende ihre Liebe nennen, diese zu Dauer und Vertiefung fähige Liebe, steigt für sie stets aus der Fragilität eines riskanten Sprechaktes auf, der sie verpflichtet, den Einsatz stets neu zu wählen." Gerade deshalb ist auch die Rede von Gott so riskant.
Schlechte religiöse Rede "wendet sich nicht mehr an mich, hier und jetzt, sondern an irgendwen, irgendwann, überall". Darin sieht Latour das Elend der Theologie: "Indem man die Religionen vor dem Feuer der Kritik retten wollte, hat man sie in ein schales Universelles verwandelt, das nicht einmal mehr die soliden Netzwerke physischer Konstanten hinter sich hat." Aber auch die gebildeten Verächter der Religion tragen aufgrund der Destruktion aller Traditionen eine schwere Verantwortungslast. "Liegen die Institutionen erst einmal am Boden, richten sie sich ebenso wenig wieder auf wie die Initiationsriten: Einmal lächerlich gemacht, bleiben sie es. Und in diesen Trümmern müssen ihre Nachkommen leben."
Offenbarung ist für den Wissenschaftstheoretiker Latour nichts Übernatürliches. "Wenn es eine Offenbarung gibt, dann quillt sie von unten, aus der Sache selbst hervor." Gottesvergegenwärtigung - darum ist es Latour zu tun. Wie es Liebende tun, die ihre Liebe zwar nicht immer wieder neu erfinden müssen, die aber immer wieder vergegenwärtigt werden will. Für die Kunst des Predigens heißt das: "Die Tradition wird tatsächlich wieder aufgegriffen, aber so gewendet, dass sie von neuem Gegenwart erzeugt." Dabei muss der Prediger sich Folgendes vor Augen halten: "Das Original steckt nicht in der Vergangenheit, sondern immer in der Gegenwart, immer in der Gegenwart, dem einzigen Gut, das wir haben." Leicht ist die Gottesvergegenwärtigung nicht. "Es gibt keine religiöse Rede, die nicht zögerte, stotterte, unbeholfen wäre." Gerade so ist sie sachgemäß. Jeder Urheber ist abhängig von seinem Werk. "Wer hat je einen Konstrukteur gesehen, der seine Konstruktion beherrschte? Wo ist der Schöpfer, der sich fähig fühlte, seine Schöpfung zu kontrollieren?" Auch für den Produzenten religiöser Rede gilt: Die Vergegenwärtigung Gottes ist sein Werk - und zugleich weiß er, wie wenig er über den Sprachakt der Predigt verfügen kann. "Um von Religion zu sprechen, gibt es keine bessere Welt als die unsere, diese hier, die einzige, die wir haben, da sich an diese gegenwärtige Welt in seiner eigenen Sprache wenden muss, wer will, dass die Worte der Überlieferung von neuem danach klingen, dass sie der Wahrheit entsprechen."
So wenig es eine private Sprache gibt, so wenig gibt es für Latour eine private Religion. Sprache wie Religion sind öffentliche Angelegenheiten. Und deshalb benötigen beide Institutionen, die ihre Überlieferung durch die Generationen hindurch gewährleisten. Es komme deshalb darauf an, "den Geschmack an den Institutionen" wieder zu finden und sie als Orte der Erneuerung zu nutzen.
Die Wiedergewinnung einer neuen religiösen Redekultur ist so schwer wie unabdingbar. Nach Latour sind viele Prediger nicht einmal imstande, gut über die Gegenwart zu reden. Sie verwechseln Predigen mit Kulturkritik. Und so ist Latours Frage keine rhetorische Frage: "Wer wird die Energie aufbringen, sich alle Sermone, alle Predigten, alle Exegesen, alle Rituale neu vorzunehmen, damit sie aufhören, zwischen armseligen psychologischen Ratschlägen und ungeschickter Aufhäufung objektiver Beweise hilflos hin und her zu schlingern, und sakramental werden, das heißt, ganz einfach beginnen, zu bewirken, was zu bewirken sie vorgeben?"
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Bruno Latours Essay über die Qualen religiöser Rede ist eine homiletische Pflichtlektüre für Bischöfe und Predigerseminarleiter, für Kompetenzzentrenmitarbeiter und Predigtkunstlehrer, für Pfarrerinnen und Pfarrer. Weil Bruno Latour dieses Buch als gequälter Predigthörer geschrieben hat, ist es aber auch ein Trostbuch für regelmäßige Gottesdienstbesucher.
Bruno Latour: Jubilieren - Über religiöse Rede. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 247 Seiten, Euro 24,90.
Rolf Schieder
Rolf Schieder
Rolf Schieder ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.