Das Werk eines Künstlers durch seine Biografie zu erklären, ist eine Versuchung, der manchmal schwer zu widerstehen ist. Natürlich spürt jemand, der einen solchen Deutungsversuch unternimmt, dass er Gefahr läuft, den Genius eines Menschen auf einen einzigen Ausgangspunkt zu reduzieren.
Dies gilt auch für Gustav Mahler und seine zweite Sinfonie, deren Beiname "Auferstehung" übrigens nicht vom Komponisten selbst gewählt wurde. Dennoch ist ein Blick in die Lebensgeschichte eine wertvolle Verständnishilfe in Bezug auf den Inhalt und die emotionale Wucht dieses magnum opus, das in der neuen Einspielung von Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern nach 86.23 Minuten monumental ins Ziel kommt.
Mahler selbst hat berichtet, dass die Trauerfeier für den großen und von ihm sehr geschätzten Dirigentenkollegen Hans Bülow die Inspiration für das Finale der zweiten Sinfonie war. Seine Version lässt mit unfassbarer Eindringlichkeit die Auferstehung Klang werden. Eine solche Wucht kann vielleicht nur jemand entfalten, der dem Tod von frühester Kindheit an immer wieder begegnet ist. Von Mahlers dreizehn Geschwistern starben sechs früh, auch die Eltern verlor er beide, als er noch keine dreißig Jahre alt war.
Man möchte weinen
Leise, zögernd erst meldet sich der Chor, man entdeckt Zweifel in der Hoffnung, dunkle Flecken im Licht. Dann aber erheben sich die Sängerinnen und Sänger kraftvoll, das Orchester beginnt zu beben: "Mit Flügeln, die ich mir errungen, in heißem Liebesstreben, werd’ ich entschweben zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen!"
Simon Rattle hat diese Musik in allen ihren Nuancen zwischen dem Zaghaften, Leisen und dem Bedrohlichen, Überwältigenden, zwischen Heiter-Naivem und feierlicher Emphase auf das Feinste ausgelotet. Hervorzuheben aus dem fantastischen Klangkollektiv der Philharmoniker, des Rundfunkchors Berlin und der Solistinnen ist die Mezzosopranistin Magdalena Kožená. Man möchte weinen, so schön ist ihre Interpretation des "Urlicht", einem in die Sinfonie integrierten Lied der Mahler-Vertonung von Gedichten aus "Des Knaben Wunderhorn". Rattles Geheimnis, wie er sich Mahlers Musik nähert, ist ganz einfach: "First of all, you have to believe what he (Mahler) says." Eine Schwierigkeit könnte dabei sein, richtig zu verstehen, was er sagt. Für Rattle ist das wohl kein Problem, denn sein Verhältnis zu Mahler beschreibt er als "love at first sight". Und Liebende verstehen sich bekanntlich blind.
Mahler - Symphony No. 2. Berliner Philharmoniker, EMI Classics 6 47363 2.
Ralf Neite