Weder kleingläubig noch mutlos
Um die politischen Interventionen der Evangelischen Kirche wird gestritten. Den einen Zeitgenossen ist sie zu politisch, den anderen ist sie in ihrer Haltung zu wenig pointiert. Sie schweige zu oft. Der politische Seegang wird rauer. Wir erfahren - mit den Worten des britischen Philosophen Michael Oakeshott gesprochen - eine immer härtere Konfrontation zwischen einer Politik der Zuversicht (politics of faith) und einer Politik der Skepsis (politics of scepticism). Wie kann in dieser Spannung die Kirche politisch sein?
Im gegenwärtigen Streit um das politische Engagement der Kirche gilt es vier theologische Fehloptimierungen zu erfassen und umsichtig zu korrigieren. Dies würde das Programm der Öffentlichen Theologie bereichern und vertiefen. Mit Fehloptimierungen meine ich - dies zur Definition - gut begründete Entscheidungen, die sich in ihrer radikalen Konsequenz als äußerst problematisch erweisen.
Erstens: Persönliches Christsein ist „nur“ privat. Dem Selbstverständnis der EKD ist zu Recht eine tief prägende Erfahrung eingeschrieben: Gegen die letztlich mörderische Diskriminierung der Juden in der Nazizeit hat die Kirche nicht Stellung bezogen. Sie hatte alle Verantwortung an die persönliche Frömmigkeit delegiert.
Nicht persönlich-unpolitisch
Angesichts dieser Erfahrungen wuchs schon während des Zweiten Weltkrieges bei Theologen wie Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Ernst Wolf und anderen die Einsicht: Schreiendes Unrecht erfordert ein öffentliches und eindeutiges Reden der Kirche als Gesamtkirche. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung und der darauf reagierenden Lernprozesse legte 1972 Wolfgang Huber das Programm einer gesellschaftlichen Diakonie, beziehungsweise dann Öffentlichen Theologie vor. Die vehement zurückgewiesene vermeintliche Alternative war ein nur persönliches-unpolitisches Christsein und damit verbunden eine sich des politischen Engagements enthaltende Kirche, die gerade darin konservativ-politisch die Verhältnisse stabilisiert.
Doch die damals aufgebaute Alternative erweist sich heute als falsch und fehlorientierend. Persönliches Christsein ist eminent politisch. Wer dies leugnet, vergräbt die Pfunde des Protestantismus. Dazu drei Beobachtungen:
Zum einen macht der Beruf persönlichen Glauben öffentlich und politisch, wirksam in der gesellschaftlich-politischen Sphäre, der Polis. Christen erfahren ihren ganz und gar weltlichen, die Polis mit Leben füllenden Beruf als Berufung. Dies entspricht dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Jeden Morgen, noch bevor ein Ratsvorsitzender oder eine Kammer der EKD sich politisch äußern, sind Millionen Christen in der Polis unterwegs: In Kindergärten, in Unternehmen, in Schulen, in Supermärkten, in Altenheimen und in Krankenhäusern sorgen sie für ein gutes und besseres Leben in der Polis. In Millionen von Einzelentscheidungen im Dickicht des Alltags vermitteln sie das Ethos ihres Glaubens mit den Anforderungen der Organisationen. Hier werden Spielräume der Humanität ausgelotet und nutzbar gemacht. Nur wer noch nie einen „half-failed state“ erlebt hat, kann so töricht sein, diese persönliche Dimension theologisch und politisch zu belächeln.
Zum anderen stellen Christen eine beachtliche Gruppe innerhalb sich ehrenamtlich engagierender Bürger dar. Ob in Nachbarschaftsnetzwerken, in der Patientenbegleitung, in Flüchtlingsinitiativen oder in der freiwilligen Feuerwehr - Christsein ermutigt Menschen, abseits des Berufs nicht nur für sich selbst zu sorgen. Sie sorgen sich um das Wohl der Polis und tragen zur ethisch-politischen Sensibilisierung bei.
Schließlich leistet das staatsbürgerliche Verhalten von Millionen von Christen in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt und zur Entwicklung dieses Gemeinwesens. Im Alltag als Bürger, in Wahlen und im Engagement innerhalb von Parteien als Organe der Willensbildung ereignet sich ein Öffentlich-Werden persönlichen Glaubens im Politischen im engeren Sinne. Warum sollte eine Kirche ihren Millionen Mitgliedern nicht unterstellen, dass sich an den Wahlurnen und in der Übernahme von Ämtern öffentliche Verantwortung ereignet? Die Kombination aus Nachfolge, Beruf und Bürgerschaft schafft Resonanzräume des Evangeliums. Diesen Schatz des Protestantismus gilt es wahrzunehmen, zu würdigen und zu fördern.
Zweitens: Die Kirche sollte als „Verband“ und Institution der Zivilgesellschaft zur Welt sprechen. Die Kirchen der Reformation kennen im Unterschied zur katholischen Kirche kein moralisches Lehramt. Gleichwohl ist theologisch wie politisch die Einsicht zu verteidigen, dass auch die Kirchen der Reformation in zugespitzten Situationen zu Recht ein Wort der Kirche zur Kirche und zur Welt sprechen müssen.
Die markante Weiterentwicklung dieser Einsicht findet sich wieder in Wolfgang Hubers Programmschrift. Im Anschluss an Jürgen Habermas hält er fest: Öffentlichkeit ist heute nur noch zu verwirklichen durch auf Öffentlichkeit hin festgelegte Organisationen, das heißt, durch Initiativen, Verbände, Gruppen. Aus einem soziologischen und rechtlichen Blickwinkel betrachtet, ist die Kirche ein solcher Verband. Im Raum der politischen Öffentlichkeit muss daher die gesellschaftliche Großorganisation Kirche ihr politisch-diakonisches Handeln „für andere“ als Verband entfalten. Die Kirche stellt hierin die traditionelle Bekenntnissituation sozusagen auf Dauer.
Die Fehloptimierung in der Ausgestaltung dieses Ansatzes besteht zum einen in der ungelösten Frage, wer mit welcher Autorität befugt ist, für „die Kirche“ zu sprechen? Sind es Gemeinden, Expertengruppen, Synoden, konziliare Verfahren oder die Bischöfe, oder sind es alle Getauften, die den Geist Gottes empfangen haben? Die begründete Vermutung ist nun: Es scheint über den Umweg der Sozialphilosophie doch darum zu gehen, amtskirchlich und bischöflich ein moralisches Lehramt einzurichten. Doch genau hier gilt es ganz gegenläufig zu den Erwartungen der Medien eine die Menschen befreiende, ermächtigende und auch zu Bürgern erhebende Dimension des Protestantismus unter den Gegenwartsbedingungen zu entfalten.
Zum anderen dürfte für den weiteren Einflussbereich der Habermas’schen Philosophie charakteristisch sein, dass ein simpler wie folgenreicher Sachverhalt übersehen wird: In der Politik im engeren Sinne geht es auch für die „Guten“ nicht einfach nur um Einsicht, sondern um Macht, die etwas durchsetzen will. Auch wer sich selbst - als Akteur „für andere“ - auf dem politischen Feld Selbstlosigkeit attestiert, bleibt im Ringen um Macht. Mit welchem theologischen Recht kann die Kirche als Verband politisch die machtvolle Durchsetzung von Barmherzigkeit erzwingen helfen?
Kanzleramt und Kirchenleitung
Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Ironie, dass die Kräfte, die angetreten sind, jenseits einer bürgerlichen Religion ein neues kritisches Verhältnis zwischen Kirche und Staat zu etablieren, nun ein Bündnis zwischen Kanzleramt, Parteivorstand und Kirchenleitung praktizieren.
Schließlich gilt: Repräsentative Demokratie ist immer anstrengend, oft peinlich und am Ende auch stets riskant. Nicht umsonst ist sie gegenwärtig von zwei Seiten bedroht. Die einen verachten den Rechtsstaat, seine langsamen Verfahren, seine vielen Ebenen und nicht zuletzt seinen Pluralismus. Die anderen, und dieser Gefahr droht die Kirche zweifellos eher zu erliegen, verachten den Plebs, also die Teile der Bevölkerung, die das Falsche wählten. Das links-grüne Milieu liebt die „richtigen“ Nichtregierungsorganisationen mehr als die vielen unklugen, unberechenbaren und irgendwie dummen Wähler. Politikwissenschaftler sprechen beschönigend von einer Mehrebenendemokratie. Aber eine Kirche muss sich die Frage gefallen lassen, was ihr wichtiger ist, die Ermächtigung von Bürgern in der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie oder der medial vermittelte „direkte“ Einfluss auf die Politik als Verband und moralische Agentur?
Drittens: Zwischen Kirche und Welt gibt es theologisch keine Grenze. Christen glauben, dass Gott in Christus die Welt real mit sich versöhnt hat. Die Grenze zwischen Kirche und Welt kann dann nicht mehr die Grenze zwischen dem liebend zugewandten und dem dunklen und willkürlichen Gott oder zwischen Religion und Säkularität sein.
Speziell für Dietrich Bonhoeffer, im deutschen Kontext der Kronzeuge für eine Öffentliche Theologie, stellen Kirche und Welt keine getrennten Räume dar. Wie die Kirche in der Welt existiert, so existiert die Welt selbst in dem einen Raum der Versöhnung. Die in Christus angezeigte Humanität ist in der Welt keine abstrakte, sondern eine konkrete politische Möglichkeit, die die Kirche der Welt politisch zumuten kann. Wenn also Kritiker der Öffentlichen Theologie vorwerfen, mit ihrem Moralisieren missachte sie die Grenzen zwischen Kirche und Welt, so erfassen sie damit ungewollt die theologische Pointe des Programms. Die Fehlorientierung zeigt sich in der Missachtung einer theologisch folgenreichen Unterscheidung. Die Barmer Theologische Erklärung spricht in der fünften These von der mit Gott versöhnten Welt als der zugleich noch nicht erlösten Welt. Solange Christen noch mit den Worten Jesu beten: „… und erlöse uns von dem Bösen“ bleibt diese Differenz bestehen.
Die Kirche weiß und lebt mehr, als die Welt wissen und leben kann. Nur dann, wenn die Kirche die Unterscheidung von geschehener Versöhnung und noch ausstehender Erlösung der Welt auch politisch mit kommuniziert, gleitet sie nicht in einen Empörungsmoralismus ab. Im Lichte dieser Unterscheidung stellt sich die Frage: Was kann, was darf und was muss die Kirche dem politischen Prozess angesichts der Botschaft Jesu zumuten? Was ist zu kleingläubig und zu mutlos, was ist illusionär und damit letztlich theologisch unredlich? Jedem, der die moralischen Maximalforderungen in Frage stellt, kann man moralisch-trotzig Zynismus vorwerfen, aber dann landet man schneller als gedacht wieder in zwei Räumen. Hier der Raum der moralisch Guten und Edlen, zusammengesetzt aus den richtigen Kirchenmitgliedern, den richtigen Parteimitgliedern und den richtigen ngos. Dort der Raum der „Anderen“, der Zyniker, der Verführten, des Plebs.
Diese Radikalität aber ist nicht mutig, auch wenn sie medial resonanzfähig ist. Sie ist in Wahrheit ein Zeichen geistlicher Mutlosigkeit, denn der Konflikt zwischen dem Universalismus und der Unbedingtheit der Menschenrechte und der christlichen Nächstenliebe einerseits und den Anforderungen individuellen, lokalen, regionalen, nationalen, internationalen und globalen Lebens andererseits ist nicht zu leugnen.
Viertens: Christen sind Weltbürger. Der Geist Gottes wurde an Pfingsten auf Menschen verschiedener Nationen ausgegossen. Es gehört zur produktiven und gefährlichen Erinnerung des Christentums, in seinen formativen Anfängen keine Nationalreligion gewesen zu sein. Der Universalität des Erlösungsgeschehens entspricht die letztlich transnationale Verfassung des „Volkes Gottes“. Nach den furchtbaren nationalreligiösen Verirrungen des Protestantismus betonen darum wichtige Teile der Nachkriegstheologie mit Recht den grundlegend transnationalen Charakter der Kirche. Die Fehloptimierung dieses wichtigen Impulses wird aber da sichtbar, wo die Kirche in den gegenwärtigen Konflikten um „nationale Interessen“ einerseits und den grenzenlosen Ansprüchen der Menschenrechte, beziehungsweise der unbegrenzten Nächstenliebe andererseits über keine theologischen Instrumentarien zu verfügen scheint, um Selbstverständlichkeiten und unvermeidbare Spannungen theologisch einzuholen. Der Nationalstaat ist da und bleibt. Auch für Christen. Und die katholische Weltkirche macht unablässig sichtbar: Der gegliederte territoriale Nationalstaat ist der blinde Fleck des universal-prophetischen Protestantismus.
Der Ruf nach Europa
Die Kirche kommt nicht umhin, ehrlich zu klären, wie sich in einer noch nicht erlösten Welt die nationalen Verantwortungsräume zu vielfach gegliederten weltpolitischen Räumen verhalten. Ein radikaler individualistisch-moralischer Universalismus würde den protestantischen Impuls, das Leben wesentlich durch funktionierende Staatlichkeit zu verbessern, unterminieren. Auch ein moralisch lupenreiner Habermas’scher Verfassungspatriotismus bleibt hier den Problemen äußerlich. Wer nur „Europa“ ruft, verschiebt die Probleme. Die modische Behauptung, Christen seien eben postnationale Weltbürger, entzieht sich bequem dem Problem. Christen bleiben auch als Bürger des kommenden Reiches Gottes hier immer noch Bürger spezifischer Staaten. Die sich hieraus ergebenden Fragen, zum Beispiel nach dem Recht von realen Grenzen und nach der Reichweite internationaler Hilfen dürfen nicht in jakobinischer Manier als Zynismus abgekanzelt werden.
Aufgrund dieser Einsichten gilt es, die Unterscheidung von Versöhnung und Erlösung deutlich zu markieren. Sie spannt einen eigenen Raum auf. In ihm wird umsichtig und vorsichtig experimentiert, werden Interessen gegeneinander abgewogen und machen sich die Akteure auch die Hände schmutzig. In diesem Raum werden zugunsten einer Verbesserung des Lebens von Menschen mutig Kompromisse gesucht und geschlossen. Dort werden theologisch-spirituell und politisch Hoffnung, Klage, die Arbeit am Möglichen und ein pragmatischer Optimismus jongliert.
Ganz und gar unstrittig ist: Die Ermächtigung und Ermutigung zur Weltgestaltung, der Impuls, „der Stadt Bestes“ zu suchen, ist einer der Pointen des christlichen Glaubens und ganz speziell des gegenwärtigen Protestantismus. Christen sind keine politischen Flaneure. Die Geduld und Ungeduld wie auch die Gegenwart und Zukunft der Hoffnung, die Möglichkeitsräume der Polis und der Politik, gilt es, risikobereit zugunsten von Humanität auszuloten - und doch realistisch, ohne Pathosformeln und ohne Empörungsrhetorik. „Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun, kann die Aufgabe sein.“ (Dietrich Bonhoeffer)
Günter Thomas
Günter Thomas
Günter Thomas ist Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum.