Die neue Bundesregierung hat sich festgelegt: Im gemeinsam von CDU, CSU und SPD ausgehandelten, 177 Seiten starken Koalitionsvertrag kündigt sie an, die Pflege und die häusliche Versorgung zu verbessern. Sie beabsichtigt, „die Arbeitsbedingungen von Fachkräften und Betreuern in der Pflege so attraktiv zu machen, dass ausreichend Menschen den Pflegeberuf ergreifen, beibehalten und damit die Versorgung sicherstellen“. Damit spricht die Große Koalition das gravierendste Problem in der Kranken- und Altenpflege an: Es arbeiten in der Branche zu wenig professionelle Fachkräfte.
Tatsache ist: Die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen werden unter dem hohen Arbeits- und Zeitdruck verheizt. Ihr Krankenstand ist überdurchschnittlich hoch, insbesondere psychische Erkrankungen werden erschreckend häufig gemeldet. Pflegekräfte fielen im Jahr 2015 im Schnitt 24 Arbeitstage krankheitsbedingt aus, während es in den übrigen Branchen 16 Fehltage im Jahr waren, wie der aktuelle „Gesundheitsatlas“ der Betriebskrankenkassen ausweist. Pflegekräfte halten die Belastungen nicht aus und steigen früher als andere Berufsgruppen aus dem Job aus oder wechseln den Beruf. Außerdem fehlt es in der Branche an Nachwuchs.
Den Personalmangel kriegen auch die Pflegebedürftigen zu spüren: Sie erleben Pflegekräfte in Zeitnot, die von einem „Kunden“ zum nächsten hetzen. Sie erleben Pflegekräfte, die gegen sie gewalttätig werden: verbal, psychisch und sogar körperlich.
Tropfen auf den heißen Stein
Die Bundesregierung will die dramatische Situation in der Pflege entschärfen und hat deshalb im Koalitionsvertrag vereinbart: „Wir werden die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in der Alten- und Krankenpflege sofort und spürbar verbessern. Es werden Sofortmaßnahmen für eine bessere Personalausstattung in der Altenpflege und im Krankenhausbereich ergriffen und dafür zusätzliche Stellen zielgerichtet gefördert.“ Und: In einem Sofortprogramm will sie in Pflegeeinrichtungen 8.000 neue Fachkraftstellen schaffen. „Dem Sofortprogramm werden weitere Schritte folgen.“ Vertreter der Sozialbranche reagieren eher skeptisch auf die versprochenen 8.000 neuen Arbeitsplätze. Diakoniepräsident Ulrich Lilie sprach, ebenso wie andere Repräsentanten der Wohlfahrtsverbände, von einem „Tropfen auf den heißen Stein“. Der wohl bekannteste Pflegekritiker in Deutschland, Claus Fussek, benutzte ein Bild: „Wenn zur Abwendung eines Hochwassers in der Innenstadt von Passau 80.000 Sandsäcke gebraucht, aber nur 8.000 Sandsäcke zur Verfügung gestellt werden, dann wird ja wohl auch keine Jubelstimmung aufkommen.“
Wie viel zusätzliches Personal in der Pflege tatsächlich benötigt wird, weiß niemand genau. Expertenschätzungen schwanken zwischen 50.000 und 100.000 Fachkräften.
Klar ist aber auch: Stellen zu schaffen, bringt noch keine Lösung. Die Arbeitsplätze müssen auch mit ausgebildetem Personal besetzt werden. Und hier hakt es schon heute: Nach den Ergebnissen des „Pflege-Thermometers“ sind derzeit in den 13.500 Pflegeheimen 17.000 ausgeschriebene Stellen vakant. Bei den ambulanten Pflegediensten sind nach der Untersuchung weitere 21.000 Arbeitsplätze nicht besetzt. Was nützen angesichts 38.000 vakanter Stellen 8.000 von der Bundesregierung angekündigte zusätzliche Arbeitsplätze?
Im Bundestagswahlkampf haben betroffene Pflegekräfte in Fernsehsendungen drastisch die Folgen der Personalnot in den ambulanten und stationären Einrichtungen geschildert. Weil niemand Zeit für sie habe, müssten Menschen stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen. Hier werde die Menschenwürde tagtäglich angetastet, klagten Pflegekräfte an. Die auf diese Weise mit dem Pflegealltag konfrontierte Bundeskanzlerin wirkte in den Livesendungen ziemlich hilflos.
Die Gewerkschaft ver.di berichtet schon seit Jahren, dass Pflegekräfte regelmäßig aus ihrem freien Tag in die Klinik oder ins Heim gerufen werden, weil die Kollegen es einfach nicht schaffen. Nach einer ver.di-Studie kümmert sich eine Pflegekraft in Deutschland im Schnitt um 13 Patienten, in der Schweiz und in Schweden nur um acht. Nachts seien Pflegekräfte in deutschen Kliniken und Heimen durchschnittlich für 26 Patienten zuständig. Das sei nicht zu bewältigen, erklärt die Gewerkschaft. Sylvia Bühler vom ver.di-Bundesvorstand fordert deshalb „eine gesetzliche Regelung für die Personalausstattung, die sich am individuellen Pflegebedarf der Patienten orientiert“.
Wenn es tatsächlich gelingen soll, mehr Menschen in die Pflegeberufe zu locken und dort auch zu halten, dann müssen die Arbeitsbedingungen verbessert und die Gehälter angehoben werden. Das sieht auch der neue Pflege- und Gesundheitsminister, Jens Spahn (CDU), so. Er erklärte deshalb kurz nach seinem Amtsantritt, dass er sich im Interesse der Beschäftigten für einen allgemeinverbindlichen Tarif einsetzen werde. Denn viele der 1,5 Millionen Pflegekräfte in Deutschland werden nach unterschiedlichen Haustarifen bezahlt - und das oft schlecht.
Ein Tarifvertrag für die gesamte Branche würde das Lohndumping, das insbesondere von privaten Pflegeanbietern ausgeht, wirksam außer Kraft setzen. Allerdings ist der Versuch, einen allgemeinverbindlichen Tarif einzuführen, schon zwei Mal gescheitert: Für die Altenpflege in Niedersachsen und Bremen lehnte dies der Tarifausschuss, der zur Hälfte mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern besetzt ist, ab. Nach diesen Erfahrungen fordert der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Wolfgang Stadler, ein neues Gesetz: Es soll verhindern, dass die - in der Regel branchenfremden - Arbeitgeber in den Tarifausschüssen einen allgemeinverbindlichen Tarif für die Altenpflege blockieren können.
Von der Einführung eines allgemeingültigen Tarifs würden die Beschäftigten in der Pflegebranche erheblich profitieren. Nach Angaben der Gewerkschaft ver.di verdienen sie in tarifgebundenen Einrichtungen gut 24 Prozent mehr als ihre Kollegen in nicht tarifgebundenen Betrieben. In der Altenpflege ist aber, laut ver.di, nur ein geringer Teil der Einrichtungen und Dienste tarifgebunden. Bei Caritas und Diakonie sind die Gehälter in den kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) geregelt, was in der Wirkung einem flächendeckenden Tarif entspricht.
Die relativ niedrigen Gehälter sind laut der Online-Jobplattform StepStone ein Grund dafür, dass Pflegekräfte deutlich wechselwilliger sind als andere Fachkräfte. Eine Analyse der Jobbörse zeige, dass 43 Prozent aller Pflegekräfte schon mindestens einmal auf eigenen Wunsch ein Unternehmen innerhalb der Probezeit verlassen haben. Zum Vergleich: Unter allen Fachkräften waren es 29 Prozent.
Neue Pflegeausbildung
Doch wer soll die von der Bundesregierung angekündigten neuen Stellen und die höheren Gehälter bezahlen? Hier haben die Wohlfahrtsverbände klare Vorstellungen. Caritaspräsident Peter Neher und die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, erklärten einmütig, dass die zusätzlichen Stellen und die bessere Bezahlung der Pflegekräfte solidarisch von allen Bürgern finanziert werden müssten: aus Steuermitteln und aus Beiträgen der Pflegeversicherung. Es dürfe nicht zu einer Erhöhung des Eigenanteils der pflegebedürftigen Menschen in den Heimen kommen.
Die Große Koalition will nicht nur neue Stellen schaffen und sich für eine bessere Entlohnung einsetzen. Sie will außerdem die Pflegeausbildung reformieren. Bundesgesundheitsminister Spahn hat dazu im März einen Entwurf für eine neue Ausbildungs- und Prüfungsordnung vorgelegt und zur Abstimmung an die, ebenfalls zuständigen, Bundesministerien, die Bundesländer und die Fachverbände geschickt. Ziel ist eine weitgehend einheitliche Ausbildung von Kranken- und Altenpflegekräften, die diesen mehr Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten eröffnen soll. Die so genannte „generalistische dreijährige Pflegeausbildung“ soll zum 1. Januar 2020 kommen. Wenn auch die geplante Reform der Pflegeausbildung sinnvoll erscheint - ein gewaltiger Schub an neuen Azubis ist von ihr nicht zu erwarten.
Laut einer Umfrage von ver.di unter 3.500 Pflege-Auszubildenden sind diese oft unzufrieden. Sie beklagen häufige Überstunden, kurzfristige Versetzungen und fehlende praktische Anleitung - Defizite, die sie in erster Linie auf Zeitdruck und Personalmangel zurückführen. „Wer will, dass die jungen Menschen mit Freude in ihrem Beruf bleiben, muss unverzüglich handeln“, kommentierte Sylvia Bühler von ver.di die Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2015.
Für den Pflegewissenschaftler Frank Weidner greifen die Pläne der Bundesregierung insgesamt viel zu kurz. „Mit Kleckern kommt man nicht weiter, man muss jetzt klotzen, um die Pflege zu retten“, sagte der Leiter des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung der Nachrichtenagentur Evangelischer Pressedienst (epd). Angesichts der „dramatischen Situation“ braucht es nach Weidners Ansicht einen „echten Masterplan Pflege für Deutschland und ein milliardenschweres Stellen- und Investitionsprogramm“. Rund zwölf Milliarden Euro seien pro Jahr zusätzlich aus Mitteln der Sozialversicherung und Steuermitteln erforderlich, präzisiert Weidner, was er unter „klotzen statt kleckern“ versteht. Im vergangenen Jahr gab die gesetzliche Pflegeversicherung knapp 40 Milliarden Euro aus.
Markus Jantzer