
Sie ist eine typische Keun-Heldin: Susanne Moder, die alle nur Sanna nennen. Selbständig, emanzipiert, geht sie mit einem wachen Blick durch die Zeit, in der viele die Realität nicht wahrnehmen möchten. Die Schauspielerin Lisa Wagner ist die ideale Besetzung für die 19-jährige Ich-Erzählerin in dem Hörspiel "Nach Mitternacht", das nach dem Roman von Irmgard Keun (1905-1982) in der Bearbeitung und Regie von Barbara Meerkötter reüssiert. Und das sich an zwei Tagen in Nazideutschland 1936 ereignet, in dem Verleumdung und Berufsverbote an der Tagesordnung sind. Wagner liefert mit der Modulation ihrer Stimme ein akustisches Glanzstück. Sie lässt die Erzählerin in ihren Beobachtungen zwischen scheinbarer Naivität und feiner Ironie variieren. So erzählt Sanna auch in Rückblenden aus ihrem Leben, nachdem sie mit ihrer Freundin Gerti einen Auftritt Hitlers auf dem Frankfurter Opernplatz erlebt hat.
Die Hörerin lernt den schlichten Kulmbach kennen, der sich für Hitler begeistert. Sie wird Zeugin, wie die linientreue Tante ihre Nichte Sanna denunziert. Und wie Franz und Sanna am Ende nach Holland flüchten. Alles in allem herrscht eine groteske Stimmung. Barbara Meerkötter lässt den Roman mit allen seinen Protagonisten und deren Geschichten durch ihre Inszenierung lebendig werden.
Dazu kommen die verschiedenen Stimmlagen der Schauspieler wie Thomas Wodianka und Hans Peter Hallwachs, der wohldosierte Einsatz von Musik und die zurückhaltende Geräuschkulisse, das Schreibmaschinengeklapper und die „Sieg Heil“-Rufe der Massen, all das sind die wirksamen Mittel, die den von Irmgard Keun 1937 im Amsterdamer Exil veröffentlichten Roman zum Gesellschaftspanorama dieser Zeit öffnen. Ein Glücksfall.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.