Universitäre Sternstunde
Der „Akademische Festakt“ ist ein scheues Reh. Jedenfalls wenn er nicht quasi geschäftsmäßig aus Anlass der Verabschiedung eines oder einer verdienten Kollege/in aus dem Professorium in den Ruhestand stattfindet. Das Institut für Religion und Gesellschaft der Ruhr-Universität Bochum (RUB) veranstaltete zu Beginn des neuen (Kirchen-)Jahres einen „Akademischen Festakt zum Reformationsjubiläum“. So etwas gab es sonst nirgends - jedenfalls ist dem Autor aus der deutschen Universitätslandschaft nichts Vergleichbares bekannt geworden.
Was schon im Vorfeld auf die Veranstaltung im prachtvollen Saal des Audimax der Ruhr-Universität, in dessen Mitte ein großer Herrnhuter Stern gravitätisch strahlte, neugierig machte, war die Tatsache, dass nicht weniger als 15 (in Worten fünfzehn) Beiträge von Professoren auf dem Programm standen, in Form von „dreiminütigen Gedankenimpulsen“, wie es hieß. Innerhalb dieser kurzen Spanne sollte jede und jeder der 15 - so der Wille der Initiatorin und Institutsleiterin Isolde Karle - „in festlichem Rahmen über die Auswirkungen der Reformation in Wissenschaft und Kultur“ laut nachdenken. Die ersten Lacher erntete auch gleich der Rektor der Universität, Axel Schölmerich, der in seinem Grußwort von „eifrigem E-Mail-Verkehr“ am Vormittag berichtete, in dem Bange nachgefragt worden wäre, ob es denn vielleicht auch vier Minuten sein dürften .
Nun soll man Minuten nicht auf die Goldwaage legen, doch siehe da: Die meisten der Vortragenden hielten sich an die Vorgabe - zumindest insofern, dass niemand die vorgegebenen drei Minuten mehr als verdoppelte. Eine für Professorinnen und Professoren reife Leistung, die es per se zu würdigen gilt. Doch zu würdigen ist vielmehr, wie lustvoll, geistreich und kurzweilig die meisten der fünfmal drei Beiträge daherkamen, so dass es schwer fällt, einzelne hervorzuheben.
Grandios geriet gleich der Einstieg des katholischen Neutestamentlers Thomas Söding: „Hier stehe ich - ich armer Tor, und bin katholisch, wie zuvor“, variierte er das Veranstaltungsmotto, den bekannten, wenn auch nicht ganz authentischen Luthersatz vor Kaiser und Reich in Worms („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“). Um dann fröhlich zu begründen, warum er dies auch weiterhin gerne zu bleiben gedenke. Unter anderem weil seine Kirche „einen Mann in Weiß an der Spitze“ habe, „der im Moment einen ziemlich guten Job macht, als Sprecher nicht nur der Christenheit, sondern der Menschheit“. Und weil er „die katholische Liturgie liebe und alle sieben Sakramente brauche, von denen ich sechs einmal empfangen zu haben hoffe“. Dieser feinsinnigen Anspielungen auf die Priesterweihe und damit auf einen gewichtigen Dissens zwischen den Konfessionen zum Trotz bedankte sich Söding für das „erste Jubeljahr des Protestantismus, das nicht anti-katholisch war“. Auch nutzte er die Gelegenheit um den anwesenden „lieben Kolleginnen und Kollegen“ aus den anderen, weltlichen Professionen zu danken: „(.) Ohne Eure Expertise würde die Theologie sich in ihren eigenen Gedankengängen einbuddeln. Das darf nicht sein. Glück auf.“
Neben solch herrlichen Rundumschlägen gab es bei diesem geistreichen Speeddating auch erstaunliche Tiefenbohrungen. So zeigte die Germanistin Nicola Kaminski auf, dass die Neuere Deutsche Literatur von Anfang an ein „konfessionell codiertes Projekt“ gewesen sei. Zwar falle in dem epochemachenden „Buch von der Deutschen Poeterey“ von Martin Opitz, von 1624, das die neuere deutsche Dichtkunst begründete, der Name Luther nicht ein einziges Mal. Aber schon die Beispielverse für die Opitzsche Versreform sprächen Bände, lautet doch das erste Beispiel für einen jambischen Vers: „Erhalt vns Herr bey deinem wort.“ Da klang damals zumindest der zweite Vers des Verses mit: „. vnd steur des Bapsts vnd Türcken Mord“. Dies erkläre, so Kaminski, dass katholische Dichter in Deutschland lange Zeit weiter lateinisch schrieben und wenn sie Deutsch benutzten, dann die bayerisch-oberdeutsche Variante und nicht die als „Lutherisch-Deutsch“ identifizierte Spielart des Meißnischen. Kaminski dankte ausdrücklich ihrem ersten Bochumer Assistenten Andreas Beck, der in seinem Habilitationsprojekt „beharrlich der oberdeutsch-katholischen Poeterey“ nachgespürt habe, und sie so dieser „Schieflage“ in ihrem Fach hatte gewahr werden lassen.
Bewegend schließlich, wie Herold Dehling, Inhaber des Lehrstuhls „Mathematik XII - Wahrscheinlichkeitstheorie und ihre Anwendungen“ über seine Erlebnisse als Konfirmand schilderte. Er habe den gesamten Kleinen Katechismus Martin Luthers „vor genau fünfzig Jahren“ auswendig gelernt, und dazu „die Texte von Hand abgeschrieben und sie an den Wänden des elterlichen Kuhstalls aufgehängt, wo ich sie jeden Abend während des Melkens unserer Kühe zwei Stunden lang vor Augen hatte und mir so einprägen konnte“.
Dehling endete mit einem berührenden Bekenntnis, das bei einem Mathematiker nicht unbedingt zu erwarten ist: „Ich bin unendlich dankbar für alles, was Gott mir geschenkt hat, für Familie und Freunde, für einen Lehrstuhl, für Vernunft und alle Sinne, die mich zu schönen mathematischen Entdeckungen geführt haben, und dafür will ich Gott loben und danken solange ich es kann.“
Zwischen den professoralen Blöcken sorgten Chor und Orchester der RUB für erhabene Momente: Gleich zu Beginn durch die romantisch-bombastische „Kirchliche Festouvertüre“ von Otto Nicolai, dann durch fein ziselierte Motetten von Schütz und Mendelssohn, und auch die 1998 im Audimax erbaute Klais-Orgel, ihres Zeichens die größte Konzertsaalorgel in NRW, sorgte für erhebende Momente.
Als der Augen- und Ohrenzeuge in der Dunkelheit Richtung U-Bahn entschwand und sich mehr und mehr vom eindrucksvollen Bochumer Audimax mit dem gezackten Dach entfernte, nistete sich in ihm der Gedanke ein: „Die Oper in Sydney, die Elbphilharmonie in Hamburg, sie sind auch nicht besser, und in ihnen strahlt kein Herrnhuter Stern.“ Wie auch immer, Bochum erlebte eine universitäre Sternstunde. Chapeau!
Reinhard Mawick