Angekommen im Lügenzeitalter
Im Februar 1908 bebte in Wien die Erde. Und die Tageszeitung Neue Freie Presse bat ihre Leser um Beobachtungsberichte.
Ein angeblicher Zivilingenieur, J. Berdach, Wien II, aus der Glockengasse 17, meldete sich, weil er angeblich Experte sei. Offenbar, schrieb er, handele es sich um ein „tellurisches Erdbeben (im engeren Sinn), das von dem kosmischen Beben (im weiteren Sinn) wesentlich verschieden“ sei. Bei dem tellurischen Beben in Wien komme es vor, dass jemand, der im Nebenzimmer sich aufhalte, nichts bemerke. Das sei auch ihm und seiner Familie so gegangen. Seine Frau habe drei Erschütterungen gespürt. Die Kinder nebenan hätten nicht das Geringste bemerkt.
Die Neue Freie Presse druckte den Text - Wien lachte. Die Blattmacher waren auf den Schriftsteller Karl Kraus hereingefallen, der sich als J. Berdach ausgegeben hatte. Kraus verachtete die Blattmacher der Zeitung. Er wollte mit seiner Zuschrift die Inkompetenz der Redakteure nachweisen und die Glaubwürdigkeit des gedruckten Wortes in Frage stellen.
Die Geschichte des Journalismus kennt viele Beispiele, in denen Behauptungen aufgestellt werden, die schon auf den ersten Blick als unsinnig erkennbar sind. In Amerika interviewte vor einigen Monaten der Radiomoderator Alex Jones einen ehemaligen CIA-Agenten, der erzählte, die NASA unterhalte eine geheime Kolonie auf dem Mars. Jedes Jahr würden die tausende Kinder, die in den USA verschwinden, mit Raketen zum Mars geflogen, um ihnen das Mark aus den Knochen zu saugen.
Der Radiomoderator, der diesen Unsinn auf Sendung brachte, unterhält den Blog inforwars.com, den Millionen Amerikaner für die Wahrheit halten. Sein Radioprogramm wird von mehr als fünfzig Stationen ausgestrahlt, und US-Präsident Donald Trump hält Jones für einen ausgezeichneten Journalisten, der höchste Preise verdiene.
Lauter Bescheidwisser
Was in Wien zu Zeiten von Karl Kraus noch ein Witz war, gilt heute vielen als Realität. Die Verbreiter alternativer Fakten geben sich wie die wahren Aufklärer. Angeblich blicken nur noch sie durch. Lauter Bescheidwisser, denen nicht mal die Ungeheuerlichkeiten, die angeblich auf dem Mars passieren, fremd sind. Es gibt Fake News, es gibt alternative Fakten und 2016 wurde der Begriff „postfaktisch“ zum deutschen Wort des Jahres gewählt.
Mancher tut heute so, also ob Fakten von gestern seien. Es gibt Leser, Mediennutzer, bei denen nicht mehr die Begriffe wahr oder unwahr die entscheidende Rolle spielen, sondern: Gefällt mir, gefällt mir nicht. Was mir gefällt, ist wahr. Was mir nicht gefällt, ist unwahr. So sieht es ein Teil des Publikums. Launen, Gefühle sollen ganz wichtig sein. Diese Entwicklung hängt auch mit einer revolutionären Technologie zusammen, die in der Menschheitsgeschichte früher unbekannte Möglichkeiten zur Verifikation und Information bietet. Sie ermöglicht aber auch eine Reise, auf der Menschen nur noch eine Bestätigung für das suchen, was sie glauben wollen. Das Internet gibt uns viele neue Möglichkeiten, aber es hat auch die Fluttore für Verleumdungen, Müll, Lügen und Halbwahrheiten geöffnet. In dieser Welt verbreitet sich die Lüge mit der gleichen Geschwindigkeit wie das sorgsam Recherchierte. Und manchen Menschen ist der Unterschied egal, weil man den Medien doch sowieso nicht trauen kann.
Ganz neu ist das alles nicht. Es gab eine ähnliche Phase nach der Verbreitung des Buchdrucks. Flugblätter mit vielen Ungeheuerlichkeiten und Lügen erschienen, und es wurde damit Jagd auf Menschen gemacht. Desinformation und Information konkurrierten also schon vor Jahrhunderten miteinander. „Jede Medienrevolution bringt eine Periode der Anarchie und des Experimentierens“, hat die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston in einem Interview erklärt.
Jede Zeit bringt es mit sich, eine Endzeit zu sein, eine Zeit, in der die Entscheidung über das Überleben der Gesellschaft fällt. Auch heute leben wir wieder in einer solchen Phase. Aber wenn wir zurückschauen, stellen wir fest, dass vieles schon mal da war. Irgendwie anders und doch ähnlich. Mit Falschmeldungen beispielsweise wurde auch früher schon Politik gemacht. 1903 erschien ein Text, der den Titel „Protokolle des Weisen von Zion“ trug. Der Text stammte aus dubiosesten Quellen. Die Erfindung von der angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“ wurde weltweit transportiert. Die Lügengeschichte verbreitete sich und ohne die angeblichen „Protokolle“ hätte es möglicherweise den Holocaust gar nicht gegeben. Noch heute berufen sich Rechtsextremisten und Islamisten auf diese Lügenfibel.
„Niemand hat je Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet, Lügen scheint zum Handwerkszeug nicht nur des Demagogen, sondern auch des Staatsmannes zu gehören“, schrieb Hannah Arendt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“. Und es hat immer Medien gegeben, die Lügen verbreitet haben.
Als vor knapp fünfzehn Jahren die damalige US-Regierung die Gründe für den Irakkrieg erfand, machten auch viele Blätter und zahlreiche Geheimdienste mit. Ähnlich wie Konspirationsfanatiker, die sich die Bausteine für ihre Verschwörungstheorien suchen, bastelte sich im Pentagon ein „Office of Special Plans“ seine eigene Weltsicht. Nichts stimmte. Die Entstehungsgeschichte des so genannten Islamischen Staates (IS) ist eng verwoben mit den Lügen des Weißen Hauses. Der damalige Präsident George W. Bush hat im Großen wie im Kleinen gelogen. Bewusst und geplant.
Wichtig war für die Erfinder dieses Irakkrieges, dass Medien all den Unsinn über angebliche biologische, über chemische und atomare Waffen, die im Irak versteckt sein sollten, verbreiteten. Selbst die New York Times veröffentlichte abenteuerliche Geschichten. Als fest stand, dass Saddam Hussein diesmal das Land nicht aufgerüstet hatte, erklärten die Kriegslügner, Saddam habe offenbar die Waffen rechtzeitig verschwinden lassen, was auch eine Lüge war. Und erneut fanden sich Journalisten, die diese neuen Fakes gern verbreiteten.
Konservative Vormänner in den Medien wie die Fernseh- und Radiomoderatoren Joe Scarborough und Rush Limbaugh oder rechtspopulistische Autoren wie Sean Hannity und Mike Savage machten weiter in Hurrapatriotismus. Brexit-Befürworter haben mit gefälschten Zahlen Politik gemacht, Erdogan und seine Leuten machen das ähnlich, Trump macht das und Putin auch. Die Liste ließe sich verlängern. Und zu allen Zeiten haben fast alle Dienste das Spiel mit der Desinformation betrieben. Die Meldung, das Aids-Virus stamme aus amerikanischen Geheimlaboren, hatten Spezialisten vom russischen KGB ersonnen. Die Geschichten über den angeblich organisierten Organklau mit ausgeschlachteten Babys in der so genannten Dritten Welt wurde auch von einem Geheimdienst ausgeheckt. Die Fachabteilungen der Dienste lancieren alles, was den Gegner destabilisiert und für Schlagzeilen sorgt.
Dass eine Lüge im bewussten Behaupten einer nach eigener Überzeugung falschen Aussage besteht, darin kamen selbst Antipoden wie Kirchenvater Augustinus und Friedrich Nietzsche überein. Franz Josef Strauß hatte sich die Dinge ähnlich zurechtgelegt: „Lüge heißt, in Kenntnis der Wahrheit - also bewusst - die Unwahrheit zu sagen.“ Strauß war ein Meister im Erfinden. Er schaffte es, mit chinesischen Kommunisten zu kungeln und gleichzeitig zu behaupten, er sei der von den Kommunisten meistgehasste Mann. Es gab immer Blätter, die jeden seiner Schritte mitvollzogen haben.
Und dennoch ist manches, was wir heute bestaunen, schon ein bisschen anders als früher: größer, gewaltiger, erfolgreicher. Beispielsweise gibt es eine Lobby aus libertären US-Milliardären und Energiekonzernen, die mit ungeheurem finanziellen Aufwand bestreiten, was nicht zu bestreiten ist: Dass die Klimaerwärmung einen menschlichen Ursprung hat. Die amerikanischen Koch-Brüder beispielsweise, die ein riesiges Vermögen haben und in der fossilen Welt eine große Rolle spielen, sollen in den vergangenen Jahren hunderte von Millionen Dollar für klimaskeptische Propaganda ausgegeben haben. Und sie finden ihren Platz in den Medien. Gezielt wurde und wird so Desinforation betrieben. Pseudoexperten ziehen durch die Lande und erzählen, dass da keine dramatische Klimaveränderung sei. Klimawandelleugner können im Medienreich des Rupert Murdoch beispielsweise auf allen Kanälen senden.
Barack Obama hat angesichts der Geschichten, die der rechtskonservative Sender Fox News verbreitet, einen schönen Satz gesagt: „Wenn ich das anschaue, würde ich mich auch nicht wählen.“ Der grassierende Rechtspopulismus bedient sich ähnlicher Techniken wie die Klimawandelleugner. „Der Krieg gegen die Wahrheit“ hieß ein Aufsatz, der im Dezember 2017 in der Zeit erschien und die Autoren kamen zu dem interessanten Schluss, dass Rechtspopulisten nicht die Fake News erfunden, sondern vorgefunden hätten. Auch in der Truppe der angeblichen Klimaexperten.
Natürlich hat das Internet die Entwicklung beschleunigt. Das Internet ist zu einem Sammelsurium von Echokammern geworden, in denen man die Bestätigung dafür findet, was man immer schon vermutet hat. Das kennt man auch im Journalismus. Es gibt da wenige Leute, die Neues zu sagen haben, aber es gibt noch viel weniger Leute, die etwas Neues hören möchten. Guter Mann - schreibt das, was ich denke, haben Leser schon früher gesagt. Schlechter Mann, wenn er das nicht schreibt, was der Leser denkt?
Die Lüge als Kompass
Und Desinformation verfängt. Es gibt verschiedene Studien, die zum selben Ergebnis kommen: Eine Falschnachricht wird mit der ständigen Wiederholung angeblich glaubwürdiger. Es gibt eine amerikanische Metastudie, die sogar zu dem Schluss kommt, dass ausführliche und kritische Berichte über Fake News unabsichtlich deren Wirkung verstärken. Wer ständig belogen werde, glaube am Ende gar nichts mehr, meinte noch Hannah Arendt. Heute scheint es manchmal so, dass die, die belogen werden, belogen werden wollen und dass sie die Lüge für eine Art Kompass halten.
Fake News und Donald Trump sind eine Einheit geworden. Er lügt, er schwindelt, behauptet Dinge, die nachgeprüft werden können und sich zumeist als falsch herausstellen. Er hält offenbar die Lüge für ein Machtinstrument und hat auch da eifrige Unterstützer in den US-Medien.
Aber auch für Kontrolle gibt es einen wachsenden Markt und ein Publikum, das sich brennend für die Ergebnisse dieser speziellen Nachforschungen interessiert.
Der Geschäftsmann Trump beispielsweise ist durch sein bloßes Da-Sein zu einem Geschäftsmodell für den aufklärerischen Journalismus geworden. Es gibt nicht nur in den USA die Sehnsucht, dass ein kritischer, investigativer Journalismus den Präsidenten kontrollieren kann. In vielen amerikanischen Redaktionen werden Journalisten eingestellt, die mit aller Kraft ihrem Handwerk nachgehen und die Welt der Fake News durchleuchten.
Manchmal hilft nur noch Comedy: „Der beste Weg, die Legitimität eines Herrschers zu untergraben, ist, ihn lächerlich zu machen“, hat die Historikerin Lorraine Daston gesagt. Und: „Es gab nie ein besseres Ziel als Donald Trump.“
Hans Leyendecker