Echter Gewinn

Neue Luther-Biografie
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Es lohnt sich, diese Biografie zu lesen. Neues tritt zutage, Widerspruch meldet sich, das Nachdenken wird angeregt.

Noch eine Lutherbiografie?“ Das habe ich mich auch gefragt. Auch macht das Vorwort von Köhler wenig Lust auf Lektüre, denn es strotzt von einem in gewisser Weise stellvertretenden Beleidigtsein, wenn er schreibt: „Man findet, dass Luther der heutigen Deutschen nicht mehr wert sei.“ Oder: der Thesenanschlag löse „Stirnrunzeln“ aus, es werde ein „ablehnende(s) Bild“ von Luther gezeichnet. Das befremdet, wird doch von anderer Seite moniert, Luther werde zu sehr auf den Sockel gehoben.

Aber die Lektüre selbst erweist sich als ein echter Gewinn. Köhler provoziert Lust, zu streiten. Die Darstellung des deutsch-amerikanischen Analytikers Erik H. Erikson zum problematischen Verhältnis zum Vater, wird vielerorts als überholt angesehen. Köhler greift genau diesen Aspekt intensiv auf. Und er lässt Mythen und Legenden schlicht leben. Es gab für ihn definitiv ein „Turmerlebnis“, Eugen Biser hin oder her. Die Thesen hat Luther für Köhler eindeutig selbst an die Schlosskirchentür gehämmert, und zwar „hörbar“. Und „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, so „ungefähr“ hätten Luthers Worte in Worms gelautet. Da würde ich Köhler gern im Streitgespräch mit dem Historiker Heinz Schilling erleben.

Interessant ist, wie Köhler das Verhältnis Luthers zu seinem Förderer Johann von Staupitz (1465–1524) beleuchtet, die Denkbewegungen hin zu den 95 Thesen beschreibt und die Einflüsse von Augustin und Johannes Tauler (1465–1524) aufzeigt. Die Thesen werden im Grunde als Konstrukt dargestellt, mit dem Friedrich der Weise seine eigenen Ziele durchsetzen wollte, ohne persönlich in Erscheinung zu treten, und so gezielt „die Konfrontation auf Nebenschauplätzen“ suchte. Staupitz wird als Mittlerfigur dargestellt, die im Sinne Friedrichs in einer koordinierten Aktion Luther „unsere Thesen“ verfassen ließ.

Geradezu beschwingt wird Luthers theologische Entwicklung dargestellt. Seine Sakramentenlehre, die vom Priestertum aller Getauften, oder die Darstellung der Paradoxie des lutherischen Freiheitsbegriffes, lassen sich gut nachvollziehen. Auch beim Disput mit Thomas Cajetan können nicht nur Fachkundige die theologischen Gedankengänge gut verfolgen, das ist eine hervorragende Leistung des Philosophen Köhler. Spannend ebenso, wie er das Marburger Gespräch mit Zwingli 1529 geradezu als Brennpunkt von Luthers Theologie darstellt.

Manches scheint überraschend neu. So die Bedeutung, die Köhler Luthers frühem Aufenthalt in Magdeburg bei den Nullbrüdern beimisst. Dass er erklärt, der Bauernkrieg habe keine Niederlage bedeutet, sondern eine Verbesserung der Lage der Bauern. Und dass der Titel der Bauernschrift vom Herbst 1525 bei Luther gelautet habe: „Wider die stürmenden Bauern“ und damit eine Differenzierung im Sinne hatte. „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ sei sozusagen eine moderne, sensationsheischende Schlagzeilenmacherei der Drucker gewesen. Immer wieder meint Köhler, so das „Bild der Moderne“ von Luther, dem Befreiten, korrigieren zu müssen.

Köhler ordnet Luther in das Zeitalter von Kopernikus, Galilei und Kepler, auch in den Nominalismus von Wilhelm von Ockham ein. Manchmal scheint er allzu schnell voranzugehen, etwa, wenn er den Streit mit Erasmus um den (un)freien Willen beschreibt oder Luthers Antisemitismus kurz abhandelt. Und er differenziert bei den Lutherzitaten nicht zwischen dem alten Luther, der zurück blickt, und dem jungen Luther, der frisch schreibt. Dennoch: Es lohnt sich, diese Biografie zu lesen. Neues tritt zutage, Widerspruch meldet sich, das Nachdenken wird angeregt.

Margot Käßmann

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