Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm lud den Vorsitzenden der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx am 18. Mai 2015 ein, aus Anlass der „Erinnerung“ an das „Symboldatum“ 31. Oktober 1517 „gemeinsam ein Christusfest zu feiern“.
In dem Brief bekundet die EKD ihren Wunsch, „nach den vielen Erinnerungsfeiern dieses Datums in früheren Jahrhunderten, die der polemischen Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche und der nationalen Aufladung dienten, eine Erinnerungskultur zu entwickeln, die den ökumenischen Errungenschaften zwischen unseren Kirchen ebenso angemessen entspricht wie der Befreiung aus allen nationalen Konnotationen“. Dass man bei der anstehenden „Vergewisserung eines protestantisch geprägten Glaubens heute dankbare Freude und kritische Reflexion verbinden“ könne, verdanke man „den gewichtigen ökumenischen Erkenntnissen der letzten Jahre und Jahrzehnte“ und dem gewachsenen „ökumenischen Vertrauen zwischen unseren Kirchen, das Bereiche eines gemeinsamen Gestaltens des Erinnerns erlaubt; dafür ist die EKD sehr dankbar“.
In seiner Antwort dankte Marx wiederum der EKD, dass sie in ihrer Einladung „neben der Freude über den reformatorischen Aufbruch auch Versagen und schuldhafte Entwicklungen wahrgenommen“ habe. Die diversen Aktivitäten zum „ökumenischen Christusfest“ 2017 begrüßte er: eine „ökumenische Bibel-Tagung“, eine gemeinsame Pilgerfahrt von EKD-Vertretern und katholischen Bischöfen ins „Heilige Land“ zur „Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln unseres Glaubens“ und vor allem den „Prozess einer ‚healing-of-memories‘ mit einem zentralen Versöhnungsgottesdienst am Vorabend des 2. Fastensonntags 2017“. Das „gemeinsame Zeugnis für Jesus Christus“ sei „heute in unserer Gesellschaft und der Suche vieler Zeitgenossen nach Halt und Orientierung von besonderer Dringlichkeit“.
Hatten Vertreter der römisch-katholischen Kirche im Lande, aber auch in Rom selbst, gegen die Rede vom „Reformationsjubiläum“ mit dem Argument protestiert, dass man die „Spaltung“ der einen Kirche nicht feiern könne, und stattdessen den einst auch im liturgischen Kalender verschiedener protestantischer Landeskirchen für den 31. Oktober verwendeten Begriff des „Reformationsgedenkens“ in die Debatte gebracht, verständigten sich EKD und Bischofskonferenz nun offiziell auf die Rede vom „Christusfest“.
Vage Antworten
Allerdings weiß niemand prägnant zu sagen, was damit gemeint ist. Das Kirchenjahr kennt ja mehrere Christusfeste wie Weihnachten, Karfreitag und Ostern. Und so wüsste man gern, was am Christusfest des 31. Oktober gefeiert werden soll.
Die Antworten führender protestantischer Kirchenvertreter fallen vage aus. Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider bot nur konventionelle Kulturkritik, als er im Oktober 2013 in Zürich beim internationalen Kongress „500 Jahre Reformation - Herausforderung und Bedeutung heute“ sagte: „Heute sind Menschen in einer ganz anderen Weise auf der Suche nach einem gnädigen Gott als zu Luthers Zeiten. Menschen, die von ihrer Geburt an darauf getrimmt sind, zu arbeitsmarkttauglichen Kompetenzträgern zu werden, brauchen den ganz anderen Klang, den das Heilshandeln Gottes in ihr Leben einspielt. Während die Spirale von Leistung zu Effizienz zu noch mehr Leistung und immer weiter gesteigerter Effizienz beständig weitergedreht wird, brauchen Menschen den Einspruch des Evangeliums: Nicht die Leistung und das Können, nicht die Anstrengung und der eigene Erfolg entscheiden über mich und meinen Wert.“
Hier werden nicht nur „Wert“ und „Würde“ miteinander verwechselt. Vielmehr muss man fragen: Sollte die „staunenswerte Gnadentheologie“ der Reformatoren den Unterschied zwischen Kompetenten und Unfähigen vergleichgültigen? Enthielt sie gar die Botschaft, dass Leistung für den Menschen schädlich ist?
Ärgerlich an Schneiders Äußerung ist nicht allein, dass er all die Debatten ignorierte, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert über das „Prinzip des Protestantismus“ und um 1900 über die „protestantische Ethik“ und den „weltlichen Beruf des Christen“ geführt wurden. Schlimmer noch ist die Gedankenlosigkeit, mit der Schneider pathetisch behauptete, „dass uns der Chris-tusglaube ein Leben ohne Angst, ohne den inneren Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstüberhöhung schenkt“. Sind diesem Christusfestprediger niemals Menschen begegnet, denen der „Christusglaube“ ihrer Eltern eine Jugend in Angst und Moralterror bescherte? Kennt er keine Protestanten mit dem „inneren Zwang“ immer neuer Bußübungen, die nur eine spezifisch religiöse Form der Selbstbezogenheit sind? Hat er nichts von protestantischen Fundamentalismen gehört, deren Opfer den Satz, dass „uns der Glaube frei macht vor Gott und für Gott“, nur als Hohn empfinden können?
Bei seinem Nachfolger Bedford-Strohm dient die Rede vom „Christusfest“ primär dazu, aus ökumenepolitischen Motiven die schlichte Tatsache zu überspielen, dass Protestanten 2017 nun einmal mehr zu feiern haben als Christen anderer Konfessionen: den theologischen Beginn jener Pluralisierung des lateinischen Christentums, die in der Dauerkonkurrenz selbstständiger Konfessionskirchen Gestalt gewonnen hat.
Gern betont Bedford-Strohm, dass „die Reformatoren ... keine neue Kirche gründen, sondern auf Christus verweisen“ wollten. Soll man also bedauern, dass es zur - wie er sagt - „Kirchenspaltung“ kam? „Wir feiern das Reformationsjubiläum nicht als Anlass zur protestantischen Selbstprofilierung ..., sondern wir wollen neu auf Christus hinweisen“, erklärte der Ratsvorsitzende im August 2015 in einem Interview des Evangelischen Pressedienstes.
Wie lässt sich unter den Bedingungen des konfessionellen Pluralismus die gewollte „Vergewisserung eines reformatorisch geprägten Glaubens“ leisten, ohne auch Unterschiede der protestantischen Christentümer gegenüber anderen Konfessionskulturen wahrzunehmen? Will man kein Profil mehr haben?
Der 31. Oktober 1517 ist nur deshalb zum „Symboldatum“ geworden, weil hier - ob historisch zu Recht oder falsch, ist irrelevant - der theologische Ursprung der diversen Protestantismen lokalisiert wurde. Wer meint, man könne dem mit ein paar Pathosformeln vom „Christusfest“ entrinnen, ist geschichtspolitisch naiv. Zu Recht hat Magnus Striet, der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau Fundamentaltheologie lehrt, gefragt, „ob ein pluralisiertes Christentum nicht nur unvermeidlich, sondern auch theologisch legitim ist“. Und wer 1517 feiert, setzt die Legitimität christlicher Vielfalt in Szene.
Mehrdeutiger Begriff
Aber das steht in elementarer Spannung zur Erwartung der katholischen Bischofskonferenz, mit dem großen Glaubensfest 2017 „der vollen sichtbaren Einheit der Kirche näher“ kommen zu wollen. Der Öffentlichkeit diese Spannung zu verschweigen, zeigt einen Mangel an ökumenischer Aufrichtigkeit.
Theologisch nur gedankenlos ist, dass EKD und Bischofskonferenz die „healing of memories“ mit dem Thema Schuld verknüpft haben. Schuld ist nicht nur ein Grundbegriff religiöser und speziell auch biblisch inspirierter christlicher Sprache, sondern zugleich ein zentrales Konzept moderner ökonomischer und philosophischer Sprachen. Schuld ist darin ein notorisch mehrdeutiger Begriff - was man seit langem wissen kann.
„Schuld hat zwei Bedeutungen, die oft in einander spielen; woraus leicht Zweideutigkeit, Misverstand und Irrthum hervorgeht“, heißt es im „Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte“, das der liberalprotestantische Philosoph Wilhelm Traugott Krug, zunächst Nachfolger Immanuel Kants auf dem Philosophie-Lehrstuhl in Königsberg, dann Ordinarius für Philosophie in der Universität Leipzig, 1828 veröffentlichte. Die elementare Zweideutigkeit des Begriffs der Schuld erläutert Krug so: „In der ersten Bedeutung versteht man dasjenige darunter, was einer dem Andern rechtlicher Weise zu leisten oder zu entrichten hat; was man also im Lateinischen auch debitum nennt. Wenn daher jemand viel an Andre zu bezahlen hat, sei es für Waaren oder Arbeit oder Miethe, seien es erborgte Gelder oder rückständige Zinsen von denselben: so sagt man, er habe viele Schulden oder er sei viel schuldig. Wer dergleichen Schulden ... hat, heißt daher selbst ein Schuldner (debitor) so wie der Andre, welchem er schuldet, ein Gläubiger (creditor), weil dieser Glauben oder Vertrauen in Bezug auf die Zahlungs-Fähigkeit und Willigkeit des Schuldners hat oder wenigstens ursprünglich hatte, bevor er die Vermögensumstände und den Charakter desselben genauer kennen lernte.“
Die Pointe dieses Begriffs der Schuld liegt nun - wie Krug in Fortschreibung von Grundunterscheidungen der Praktischen Philosophie und Religionstheorie Kants betont - darin, dass hier „bloß von einem äußern Verhältnisse der Menschen zu einander in Ansehung des Eigentums“, also nur von einer „äußeren Schuld“ die Rede ist. So kann es dem Creditor gleichgültig sein, ob der Debitor selbst seine Schuld begleicht oder irgendein anderer aus welchen Motiven auch immer der Rückzahlungspflicht Genüge leistet. Äußere Schuld kann „sehr leicht und ohne irgendeinen Anstoß von dem Einen auf den Andern übergehn oder übertragen werden, wie es im täglichen Leben so häufig geschieht“. „Es kann folglich auch Einer für den Andern zahlen, gutsagen, Bürgschaft leisten; ja es kann sogar ein förmlicher Handel mit solchen Schulden getrieben werden, wie es wiederum tagtäglich auf unsern Börsen mit den Staatsschulden geschieht.“
Kein Problembewusstsein
Schuld in der zweiten Bedeutung des Wortes, moralisch relevante oder sittliche Schuld, lateinisch culpa, ist von ganz anderer Art. Wie Kant in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ und viele ihm folgende Theologen mit faszinierender Prägnanz gezeigt haben, kann die „Sündenschuld“ als „innere Schuld“ nicht von irgendeinem oder vielen anderen übernommen werden. Sie ist, wie Kant schreibt, „keine transmissibele Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt), auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag noch so großmütig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann“.
Krug fügt hinzu: „Man kann sie nur selbst tilgen, indem man sich bessert, mithin zu sündigen aufhört.“ Es sei nur Folge einer unheilvollen Verwirrung und Verwechslung der beiden ganz unterschiedlichen Bedeutungsgehalte von „Schuld“, dass man sich in alten theologischen Debatten einbildete, „der Sünder sei durch seine moralische Verschuldung ein äußerer Schuldner geworden, und der Gläubiger dieses Schuldners sei Gott selbst, der aber auch dadurch befriedigt (versöhnt) werden könne, daß ein Andrer, wenn gleich ganz Schuldloser, für jenen Schuldner mit seinem Leben bezahle (die Schuld gleichsam abbüße)“.
Nun mag man verstehen, dass höchste Repräsentanten der beiden großen Kirchen sich die rationale Kritik eines opfertheologisch entworfenen Satisfaktionsdogmas, der Lehre vom stellvertretenden Opfertod Jesu Christi zugunsten der erbsündigen Menschheit, nicht zueigen machen. Die klerikale Klasse klebt gern am eigenen dogmatischen Jargon, auch wenn man die alten Debatten selbst gar nicht mehr zu kennen und verstehen scheint. Aber ein Problembewusstsein für die mit dem Stellvertretungsgedanken gegebenen theologischen Aporien, die Vordenker der radikalen Reformation schon im späten 16. Jahrhundert sehr klar benannt haben, sollte man schon erwarten dürfen, gerade von Protestanten.
Krug schreibt: „Auch gründet sich auf jene Theorie der Handelsverkehr mit den Sündenschulden ... genannt Ablaß.“ Das muss Vertretern einer sich „evangelisch“ nennenden, infolge der Reformation entstandenen Kirche erst einmal einfallen: Sie wollen 1517 feiern, indem sie mit ökumenischem Versöhnungspathos genau jenes Ablassdenken symbolisch reinszenieren, das Martin Luther und die anderen Vertreter der reformatorischen Protestbewegungen bekämpft haben.
Wer die Schuld irgendwelcher anderer, sei es auch die der eigenen Vorväter oder Urgroßmütter, bekennen will und für sie stellvertretend um Entschuldigung bitten zu können meint, verwandelt moralische Schuld in äußere Schuld und gibt so nur zu erkennen, dass er nichts, wirklich gar nichts von „Sündenschuld“ verstanden hat. Ich kann meine Schuld vor Gott bekennen, auch gemeinsam mit anderen. Und dies geschieht, wenn ein Vaterunser gebetet wird. Alles Weitere erübrigt sich und ist bloß peinlich, lässt es doch erkennen, dass man der eigenen Bitte um Vergebung und mehr noch der eigenen Bereitschaft zu vergeben nicht ernsthaft traut. Es zeigt nur moralische Arroganz, sich wechselseitig für die „schuldhaften Entwicklungen“ in früheren Zeiten entschuldigen zu wollen. „Zeig mir Deine Wunden“ ist obendrein eine irritierend eitle Aktion. Vernünftige Theologie, etwa ökumenische Denkarbeit am Schuldbegriff, dürfte also hilfreicher sein als eine gemeinsame Reise nach Israel.
Friedrich Wilhelm Graf
Friedrich Wilhelm Graf
Dr. D. Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik. Er lebt in München.