Von 1871 bis 1945 sorgte Deutschland … für Instabilität in Europa. Seine Größe und seine zentrale Lage – die sogenannte Mittellage – waren der Grund dafür, dass es zu mächtig für ein Mächtegleichgewicht war, aber nicht mächtig genug, um Hegemonie auszuüben“, formuliert Hans Kundnani in seinem neuem Buch. Er untersucht den Zeitraum deutscher Geschichte seit 1871 bis heute aus dem Blickwinkel des britischen Politologen. Dabei stützt er sich auf die historische Darstellung wie sie in Heinrich August Winklers zweibändigem Werk „Der lange Weg nach Westen“ vorliegt. Im Nachwort bedankt er sich dafür ausdrücklich bei diesem.
Bedeuteten Deutschlands Großmachtgelüste nach der Reichsgründung und Bismarcks defensiver Diplomatie eine Gefährdung für seine Nachbarn, so hatte es andererseits eine „Einkreisungspolitik“ provoziert, durch die es sich selbst gefährdet fühlte. In dieser Situation führte eine kleine Ursache zu der katastrophalen Folge des Ersten Weltkriegs. Auch danach baute sich eine ähnliche Konstellation von neuem auf, die zu noch furchtbareren Konsequenzen führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der westliche Teil Deutschlands zunächst durch den Marshall-Plan seitens der USA bewusst stabilisiert und anschließend mittels Nato und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft in eine militärische und ökonomische Partnerschaft eingebunden. Das funktionierte gut bis zur „europäischen Wende“, als Deutschland durch die Wiedervereinigung erneut zur europäischen Mittelmacht avancierte. Anfangs, schreibt Kundnani, sei Deutschland durch die hohen Kosten der Aufbauarbeit in der ehemaligen DDR geschwächt und ökonomisch gebunden gewesen. Doch spätestens mit der Regierung Schröder sei Deutschland zum ökonomischen Hegemon in Europa herangewachsen. Das ist zunächst einmal keine Wertung. Nach Charles Kindleberger (Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939) bedürfe es sogar eines solchen, um Bündnispartnern Richtungsweisung und das Gefühl der Sicherheit zu geben.
Genau das aber habe Deutschland in dem zurückliegenden Jahrzehnt nicht geleistet. Deutschland hätte, meint Kundnani, entsprechend „der US-Haltung gegenüber Europa nach 1945 Maßnahmen ergreifen können, um den eigenen Handelsbilanzüberschuss zu verringern, … verschuldeten Volkswirtschaften einen Wachstumsweg aus der Rezession zu ermöglichen und damit ihre Schuldenlast zu reduzieren. Doch Deutschland weigerte sich beharrlich, einen solchen Ansatz zu verfolgen. Stattdessen bestand es auf Austerität überall in der Eurozone, was … die Krise verschärfte.“ Dazu fehlte auch ein „hegemoniales Einverständnis“ in die von Deutschland beeinflussten Maßnahmen – „eines der zentralen Merkmale der Hegemonie, das sie vom Imperium unterscheidet“. In der Flüchtlingsfrage forderte dann die deutsche Regierung vergeblich jene Solidarität von ihren europäischen Partnern ein, die sie denen in der Finanzkrise verweigert hatte.
Inzwischen ist – so resümiert Kundnani – die „deutsche Frage“ in „geoökonomischer Form wieder aufgetaucht“ und als Störfaktor in die internationale Politik zurückgekehrt. „Heute“, schreibt Kundnani, „besteht in Europa die Gefahr, dass es innerhalb Europas zu einer geoökonomischen Variante der Konflikte kommt, die 1871 auf die Reichsgründung folgten“, das „Wiedererstehen eines von Deutschland dominierten Mitteleuropa“. Allerdings – so lautet der Schlusssatz: „Europa kann nicht von Berlin aus regiert werden.“
Nach dem Brexit hat die Studie noch an Aktualität gewonnen und ist allen Befürwortern des europäischen Projekts dringend zur Lektüre empfohlen.
Götz Planer-Friedrich