Der Bürger als Souverän
Es scheint, als habe Europa die Krise gepachtet. Schuldenkrise, Eurokrise, Griechenlandkrise, Ukrainekrise, Terrorkrise, Flüchtlingskrise. Alles Krise. Der Umgang der EU mit diesen verschiedenen Krisen stellt indes kaum jemanden zufrieden. Brüssel hat einen schlechten Ruf und das zu Recht. Die Technokratie der EU hat mit demokratischen Grundprinzipien wenig gemein, und die institutionelle Trilogie aus Europäischem Rat, Parlament und Kommission agiert bürgerfern, noch genügt sie den Ansprüchen der Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus. Europa braucht ein neues Ziel, ein neues Leitmotiv, eine Utopie, die europäische Republik.
Europa befindet sich nicht per Zufall im Dauerkrisenmodus. Der Grund liegt nicht in einer Verkettung unglücklicher Umständen, sondern in tiefen strukturellen Mängeln. Angesichts der Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte darf die These gewagt werden, dass die EU in ihrer heutigen Form zum Scheitern verurteilt ist. Bei den Bürgern unbeliebt, von einer wachsenden Anzahl nationaler Politiker bekämpft und auch international weiß man immer noch nicht so Recht mit ihr umzugehen. Wenn Barack Obama wissen will, was in Europa los ist, ruft er wohl eher Angela Merkel an und nicht Federica Mogherini, die „Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“. Es kündigt sich unüberhörbar an: Die immer engere Union hat als Leitprinzip ausgedient.
Viel mehr erscheint die EU heute als ein Rosinenpicker nationaler Akteure und ihrer Interessen. Die Unstimmigkeiten bei der Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen oder das drohende „No“ beim kommenden Referendum in Großbritannien zeigen: Das nationale Ego ist zurück im politischen Rampenlicht.
Auch Deutschland nutzt die EU vor allem als Vehikel zur Durchsetzung nationaler Interessen. Ein Beispiel dafür ist die Austeritätspolitik, die von südlichen Ländern, vor allem natürlich Griechenland, medienwirksam eingefordert und für die Deutschland als strahlendes Beispiel präsentiert wird. Indes ist die häufig vertretene Meinung, dass Deutschland die gesamte EU finanziert, an den Haaren herbeigezogen. In Wirklichkeit ist es so, dass die Bundesrepublik von einer Gemeinschaftswährung profitiert, die viel zu schwach ist gemessen an der deutschen Wirtschaftskraft. Dies führt Jahr um Jahr zu einem eklatanten Handelsüberschuss und dem darauffolgenden Rüffel der EU-Kommission. Es ändert sich aber nichts. Und gleichzeitig profitiert der deutsche Staat von einer Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die ihresgleichen sucht.
Vor allem der Europäische Rat präsentiert sich als eine Bühne zur Zuschaustellung nationaler Egoismen. In verlässlicher Regelmäßigkeit werden auf den zahlreichen Gipfeln die Bürger und Bürgerinnen Europas gegeneinander aufgewiegelt und ausgespielt. Unter diesen Voraussetzungen und bei der resultierenden Frustration der Bürger verwundert es dann auch nicht, dass der Populismus überall in Europa Hochkonjunktur hat. Ein Populismus, der den Nationalismus weiter nährt und Angst und Hass schürt, der der Front National in Frankreich, der Alternative für Deutschland, der Pis in Polen und so weiter und so fort.
Es wäre allerdings fatal sich diesen Tendenzen der Renationalisierung des Politischen nicht entgegenzustemmen. Die oft beschworene schweigende Mehrheit ist gefragt. Denn Europa ist nach wie vor etwas, dass sich eine Mehrheit der Bürger wünscht. Nicht die EU, aber Europa. Als Ort der Möglichkeiten, als Wertegemeinschaft, als Raum an dem an der Zukunft gebaut wird. Wie also Europa neu denken im Angesicht des Scheiterns der EU?
Ein mutiger und visionärer Schritt nach vorn ist gefragt. Die Zeit ist gekommen, dass wir laut und deutlich über die europäische Republik nachdenken. Bei näherer Betrachtung europäischer Ideengeschichte erweist sich der Begriff, aber auch das Konzept der Republik als zentrales Motiv. Schon bei den großen politischen Philosophen der griechischen Antike ist die res publica, also die öffentliche, gemeinsame Sache ein zentraler Begriff und ein erstrebenswertes Ziel. Auch der Philosoph Immanuel Kant meinte, dass die „bürgerliche Verfassung in jedem Staate (…) republikanisch sein“ sollte. Was also eignete sich besser zum Wiederbeleben des europäischen Projekts, als die europäische Republik?
In einer solchen ginge es per Definition um das Bürgerwohl, das Gemeinwohl, die gemeinsame Sache. Die staatliche Schutzfunktion würde wieder betont. Die Republik garantiert politische Gleichheit für alle. Damit ist nicht sozialer Egalitarismus gemeint, sondern die Schaffung von Wahlrechtsgleichheit, steuerlicher Gleichheit und den gleichen Zugang zu sozialen Rechten für alle Bürgerinnen und Bürger.
Denkt man über die europäische Republik nach, muss man auch eine territoriale Neuausrichtung Europas ins Auge fassen. Europa ist als ein Netzwerk von relativ autonomen Regionen und Metropolen denkbar. Die Regionen würden sich in vielen wichtigen Fragen selbst verwalten. Schon heute ist Schotten, Katalonen und Bayern diese Idee nicht unsympathisch.
Sie alle fänden Schutz unter dem gemeinsamen Dach einer europäischen Republik, die sich um überregionale Politikfelder kümmern würde. Das Vorhandensein der Regionen trüge zum einen der Tatsache Rechnung, dass viele Aspekte des Zusammenlebens besser in relativ kleinen Gemeinschaften (von einigen Millionen Bürgern) organisiert werden können, und zum anderen würde das Bedürfnis der Bürger nach Identität und Heimat bedient. Vertreter der Regionen könnten in einer zweiten Kammer, ähnlich dem amerikanischen Senat, ihre Interessen vertreten, während die erste Kammer direkt, gleich und proportional von allen Bürgern der Republik gewählt würde. Und an der Spitze der Republik stünde eine direkt von den Bürgern gewählte Präsidentin oder ein Präsident.
Man muss es ehrlich zugeben, Nationalstaaten sind in diesem Denkmodell nicht vorgesehen. Im Vergleich zur Republik sind die Begriffe „Staat“ und „Nation“ oder eben der daraus konstruierte Nationalstaat historisch betrachtet sehr junge Konzepte. Und sie sind, das hat die Geschichte immer wieder bewiesen, bei allen Vorteilen auch sehr krisen- und stimmungsanfällige Konstruktionen. Warum also an ihnen festhalten, wenn sie nur der Aufstachelung von europäischen Bürgern gegeneinander dienen und ohnehin konstruiert sind?
Neben dem territorialen und politischen Neudenken Europas, ist ein wirtschaftliches Update unerlässlich. Die momentane wirtschaftliche Realität ist, dass mit den Maastrichter Verträgen von 1992 Markt und Staat entkoppelt worden sind. Der Markt hat dabei das Primat. Im Gegensatz zur Politik agieren großen Konzerne längst transnational, und auch Wertschöpfungsketten sind schon lange nicht mehr national. Wie sollen staatliche Strukturen diese wirtschaftlichen Akteure regulieren und bändigen können, wenn sie im nationalen Denken und Handeln feststecken? Zu den oben angesprochenen Aufgaben der Republik als schützendem Dach über den Regionen gehörte auch eine gesamteuropäische Fiskal- und Sozialpolitik. Ebenfalls durch die Maastrichter Verträge leben wir momentan in der abstrusen Situation in Europa, beziehungsweise in der Eurozone, eine gemeinsame Geldpolitik ohne entsprechende Fiskal- und Sozialpolitik zu haben. Das widerspricht jedweder wirtschaftswissenschaftlichen Intuition.
Betrachtet man all dies, wird deutlich: Ein „Weiter so“ geht nicht. Wir sollten den Mut fassen, grundlegend und von allen Ängsten befreit über Europas Zukunft nachzudenken. Und die europäische Republik ist solch ein Denkweg. Deshalb: Weg mit nationalen Grenzen und nationalem Denken! Wenn wir Nationalstaat und Demokratie entkoppeln und das kaputte EU-System umkrempeln, kann der Bürger den Nationalstaat als wahren Souverän ablösen. Denn ultimativ ist es ja das, was Demokratie bedeutet: Der Bürger als Souverän, die Herrschaft des Volkes über sich selbst zum Wohle aller. Wie schon Jacques Delors feststellte, kann sich in einen Binnenmarkt niemand verlieben. In die Idee einer europäischen Republik, geprägt von politischer Gleichheit, europäische Werte und Demokratie in der Welt vertretend und als Vorreiter einer neuen globalen nachnationalen Ordnung, kann man sich sehr wohl verlieben. Ich bin es bereits.
Ulrike Guérot