Der Kalte Krieg als Motor
Es ist 200 Jahre her, dass die europäischen Ambitionen Napoleons vom Wiener Kongress zu Grabe getragen wurden. Stattdessen errichteten die versammelten Staatsoberhäupter Europas das „Wiener System“ als das Ergebnis vielfältig verschachtelter Macht- und Interessenpolitik. Es wollte die Revolution mittels Restauration überwinden, nicht durch Reformen.
Auf dem Wiener Kongress 1814/15 war nicht von dem Recht der Völker und Nationen auf individuelle Vervollkommnung die Rede gewesen, sondern von legitimen Monarchien mit legitimen territorialen Ansprüchen, Wünschen und Forderungen, die unter der Federführung des Fürsten Klemens von Metternich in ein europäisches Vertragssystem eingebunden wurden, das die Aufgabe hatte, künftige revolutionäre Strömungen aufzuhalten und dem Kontinent selbst Frieden zu bescheren.
Das System gab den dazugehörigen Staaten das Recht, gegen revolutionäre Entwicklungen vorzugehen. Dieses Legitimitätsprinzip schuf somit in Europa die Grundlagen für ein neues Verständnis zwischenstaatlicher Beziehungen: Um einen bestimmten, für gut befundenen Status quo aufrechtzuerhalten, nahmen sich die Kongressmächte das Recht, gegen unliebsame Tendenzen überall in Europa intervenieren zu dürfen, auch wenn sich über die Frage, welche Entwicklung bzw. welches Ereignis als „illegitim“ einzuschätzen war, kaum Konsens erzielen ließ.
Dieses Wiener System stieß besonders bei jenen auf wenig Gegenliebe, die in den Befreiungskriegen gegen Napoleon Leib und Leben riskiert hatten und die nun ihre Hoffnungen auf bessere Zeiten schwinden sahen. Sie mussten erkennen, dass in Wien nur eine leicht verjüngte und überarbeitete Version des Konzerts der europäischen Mächte des 18. Jahrhunderts errichtet worden war, in dem die meisten romantischen Ideale der späten napoleonischen Zeit und der Befreiungskriege keinen Platz hatten. Stattdessen erklärten die Repräsentanten des Systems solche Ideale für revolutionär und damit für illegitim und gingen mit staatlichen Mitteln gegen all jene vor, die es wagten, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen.
Nährboden für den Europäismus
Diese Erfahrung teilten deutsche Burschenschafter mit italienischen Nationalisten, polnischen und griechischen Unabhängigkeitskämpfern. Sie bildete den Nährboden für den sogenannten „Europäismus“ des 19. Jahrhunderts. Diese Bewegung gewann paradoxerweise in einer Zeit an Bedeutung, die gemeinhin als das Zeitalter des Nationalstaats gilt. Es war eine im Wesentlichen von Intellektuellen getragene Strömung, die in einem europaweiten Diskurs ihre Überlegungen austauschten und weiterentwickelten, aber ohne konkrete politische Ergebnisse zu erreichen.
Anstatt grenzübergreifende Integrationsbemühungen vorzunehmen, driftete Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Imperialismus, in eine Zeit des vom Nationalismus beseelten Kampfes um globale Macht. Dieses Ringen um den „Platz an der Sonne“ wurde tatkräftig von Wissenschaftlern und Publizisten unterstützt. Die Geschichtswissenschaft konnte sich in diesen Jahren in Europa zur führenden Legitimationswissenschaft des Nationalstaates entwickeln, und unter dem Eindruck des Sozialdarwinismus definierten Philosophen Kulturräume als Quasi-Organismen, die Wachstums- und Verfallsperioden erlebten. An die Stelle europäischer Ordnungskonzepte traten nun vermehrt Europabilder als Projektionen nationaler Sehnsüchte.
So trieben im Zeitalter des Imperialismus manch europäisch verbrämte Zielsetzungen merkwürdige Blüten, die wie die deutschen Mitteleuropa-Planungen des frühen 20. Jahrhunderts und des Ersten Weltkrieges nationales Hegemonialstreben mit dem Deckmantel europäischer Ideale kaschieren wollten. Dabei wussten die Verkünder entsprechender Konzepte wohl, dass sie sich damit weit von den ursprünglichen Zielen europäischer Utopien entfernten, die allesamt von der Idee der europäischen Einheit ausgegangen waren. Dieser setzten sie nun neue Trennungslinien entgegen, die den Kontinent in drei Teile teilten: einen westlichen, geprägt von den Idealen der Französischen Revolution, einen mittleren, geprägt von den vermeintlichen Vorzügen der deutschen Kultur, sowie einen zivilisatorisch und kulturell unterlegenen östlichen. Von wenigen Konzepten abgesehen ging es den deutschen Mitteleuropa-Ideologen des frühen 20. Jahrhunderts jedoch nicht um die Einigung Europas im Sinne eines grenzübergreifend-föderativen Modells, sondern ausschließlich um die Etablierung einer deutschen oder deutsch-österreichischen Hegemonie im Herzen des Kontinents.
Ihre Ideen lagen auch den offiziellen deutschen Kriegszielen zugrunde, die Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im September 1914 verkündete. Damals freilich ahnte noch niemand, dass man sich am Anfang eines großen Krieges befand, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Nachdem sich aber die Bevölkerung Europas des Ausmaßes an militärischer Gewalt, das der Krieg mit sich gebracht hatte, und des damit verbundenen menschlichen Leides bewusst geworden war, stellte sich die Frage nach der Schaffung dauerhafter Rahmenbedingungen für den Frieden in Europa mit bislang nicht gekannter Dringlichkeit. Zudem hatte der Krieg die militärische und industrielle Stärke der USA gezeigt, der keine europäische Macht mehr allein gewachsen war. Die russische Revolution schließlich, deren Anhänger sich offen dazu bekannten, die traditionelle gesellschaftliche und politische Ordnung Europas umstürzen zu wollen, lieferte nach 1918 weitere Gründe dafür, dass in den Zwanzigerjahren eine Vielzahl europäischer Neuordnungskonzepte entwickelt wurden. Sie alle wollten dazu beitragen, die Trennungslinien zu überwinden, die Nationalismus und Imperialismus zwischen den Staaten aufgeworfen hatten.
Wohl am publikumswirksamsten bekannte sich zu dieser Zeit der Österreicher Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894–1972) zum Gedanken einer europäischen Föderation. Mit seiner 1923 gegründeten „Paneuropa-Union“ schuf er eine Organisation, der bald tausende von Parlamentariern und anderen einflussreichen Persönlichkeiten angehörten. Aber so imposant die Zahl der Unterstützer auch gewesen sein mochte, Skeptiker ahnten bereits damals, dass die Größe der Bewegung letztendlich auch ihre Schwäche darstellte: Nur die Unverbindlichkeit des paneuropäischen Programms erlaubte es der politischen Prominenz aus den verschiedenen europäischen Nationalstaaten, sich in der Paneuropa-Union zu engagieren, denn klare Vorgaben, wie die Ziele Coudenhove-Kalergis letztlich in konkrete Politik umgesetzt werden sollten, gab es nicht.
Die von den Nazis angestrebte „neue Ordnung“ Europas hatte mit den europäischen Entwürfen, auch mit den meisten Mitteleuropakonzepten der Zwanzigerjahre, nichts gemein. Im Gegenteil – selbst die meisten mitteleuropäischen Denkmodelle aus rechten antidemokratischen Kreisen der Weimarer Republik hatten dem Raum noch föderative Strukturen zugestanden. Dagegen ging das nationalsozialistische Ordnungsmodell von der Schaffung eines zentralistischen „Großgermanischen Reiches“ aus. Die Frage dabei war, wie eine Erweiterung der deutschen Außengrenzen erreicht werden konnte, so wie es Hitler in “Mein Kampf“ nach einer Vergrößerung des Lebensraums für das deutsche Volk gefordert hatte. In den entsprechenden Passagen des Buches war auch nachzulesen, dass diese Vergrößerung nötigenfalls mit Gewalt vorgenommen werden sollte.
Der sich spätestens seit 1943 abzeichnende Niedergang der Naziherrschaft über Europa ließ die Planungen über die Neugestaltung der Alten Welt nach einem Sieg der Alliierten konkreter werden. So wurden in konservativen, sozialistischen, kirchlichen und intellektuellen Kreisen Konzepte für eine europäische Neuordnung erarbeitet. Zumeist plädierten sie für ein föderal organisiertes Gesamteuropa. Darüber hinaus ging es um Aspekte wie die Wiederherstellung einer europäischen Zivilisation oder um Fragen europaweiter sozialer Gerechtigkeit. Auch für die „deutsche Frage“ galt es, eine Lösung zu finden, die die Staaten des Kontinents vor künftigen Hegemonialansprüchen Deutschlands schützen würde. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg wollte man diese Sicherheit nicht über ein Tribunal der Siegermächte erreichen, sinnvoller erschien es statt dessen, Deutschland als Ganzes unter die Vormundschaft der internationalen Gemeinschaft zu stellen, um die Deutschen so von vornherein in die internationale Gemeinschaft einzubinden. Deutsche Widerstandskreise griffen solche Überlegungen mit Interesse auf, da man hier die Gefährdung der politischen Stabilität des Kontinents durch die auf Mitteleuropa fixierten deutschen Ordnungsmodelle der Zwischenkriegszeit erkannt hatte und deshalb gleichfalls nach gesamteuropäischen Ansätzen suchte. Alle während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren vorgelegten Entwürfe für ein integriertes Europa sprachen sich für eine Föderation aus. Sie waren sich darin einig, dass diese vier Prinzipien gehorchen müssen: der Subsidiarität, der Garantie der Menschen- und Bürgerrechte, der Friedenswahrung und dem freien, gemeinsamen Markt.
Um 1950 freilich stellten die „Vereinigten Staaten von Europa“ ein immer noch weit entferntes Ideal dar, das selbst die Erinnerung an die Schrecken der Nazizeit und die Bedrohungssituation des Kalten Krieges nicht näher bringen konnte.
Zweifel an der Machbarkeit gemeinschaftlicher europäischer Strukturen haben den europäischen Integrationsprozess somit von Anfang an begleitet. Unklar war, wie ein funktionsfähiges Integrationsmodell aussehen könnte, das dazu taugte, den neu entstandenen westdeutschen Teilstaat so in die westeuropäischen politischen Strukturen zu integrieren, dass dieser sich zu einem politisch stabilen, wirtschaftlich gesunden und vor allem zuverlässigen Mitglied der westeuropäischen Familie entwickeln würde, von dem keine Gefahr mehr für die Stabilität des Kontinents ausgehen konnte. Erst unter dem Eindruck des Kalten Krieges, angesichts des zunehmenden äußeren Bedrohungspotenzials Anfang der Fünfzigerjahre, gelang es, jene entscheidenden Weichenstellungen vorzunehmen, die über den Schuman-Plan zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Keimzelle einer veritablen Europäischen Union führen sollten.
Am 23. Juli 1952 trat der Gründungsvertrag für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Montanunion, als der ersten echten supranationalen europäischen Gemeinschaft mit eigenen Zuständigkeiten und eigener unmittelbarer Rechtssetzungskompetenz in Kraft. Die politischen Entscheidungsträger in den sechs beteiligten Staaten – Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – waren sich vor dem Hintergrund der im Zweiten Weltkrieg gemachten Erfahrungen darüber einig, dass westlich des Eisernen Vorhangs eine Zone politischer Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstandes geschaffen werden musste, um die jahrhundertealten Gräben zuschütten zu können, die auf der Suche nach der Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen zwischen den europäischen Staaten aufgerissen worden waren. Um diesen Gründungskonsens verwirklichen zu können, galt es überdies, die Ursachen für die deutsch-französische „Erzfeindschaft“ zu beseitigen und Westdeutschland möglichst fest in die neue Staatengemeinschaft einzubinden. Dafür reichte die nur partielle Integration des Kohle- und Stahlsektors nicht aus. Die Gründung der Montanunion markiert lediglich den Beginn der wirtschaftlichen Integration der beteiligten Staaten, die ihrerseits als Grundlage eines politischen Integrationsprozesses dienen sollte, der in nicht allzu ferner Zukunft Grundlage eines europäischen Bundesstaates sein würde.
Neuerfindung notwendig
Doch auch wenn sich aus den bescheidenen Anfängen des Jahres 1952 bis heute die Europäische Union der 28 herausbilden konnte und der Integrationsgrad eine Tiefe erreicht hat, von der die Gründerväter der Montanunion nur träumen konnten, besteht nach wie vor keine Klarheit über das endgültige Design des europäischen Hauses, über die finalité politique des Integrationsprozesses. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive erscheint die europäische Integration als ein in drei größere, einander teilweise überschneidende Phasen unterteilbarer Entwicklungsprozess: In der Gründungsphase (1952–1973) fanden sich die westeuropäischen Demokratien mit Ausnahme jener wie Großbritannien, die aus bestimmten Gründen die Exklusion vom Integrationsprozess bevorzugten, unter dem Dach supranationaler Institutionen zusammen und legten gemeinsam die Richtung des Integrationsprozesses fest. Die Konsolidierungsphase (1970–1992) ist einerseits markiert durch den Beitritt der drei ehemals autoritär regierten Staaten Griechenland, Portugal und Spanien, anderseits durch die systematische Vertiefung der europäischen Binnenstrukturen, die im Maastrichter Vertrag von 1993 zusammengefasst wurde. Die Europäisierungsphase (seit 1991) ist schließlich gekennzeichnet von der Überwindung der Spaltung des Kontinents durch den Eisernen Vorhang, womit zunächst die Gründe für den Selbstausschluss einiger westeuropäischer Demokratien entfielen und die Erweiterung der Europäischen Freihandelszone (EFTA) von 1995 stattfinden konnte. Darüber hinaus wurden infolge des Zerfalls des Warschauer Paktes und der Sowjetunion die Voraussetzungen für die Osterweiterung der Europäischen Union geschaffen.
Für diese stellte das Ende des Kalten Krieges jedoch nicht nur eine quantitative Herausforderung dar, sondern auch eine qualitative. Schließlich hatte der Ost-West-Gegensatz der späten Vierzigerjahre die Einleitung des Integrationsprozesses mit vorangetrieben. Im Umkehrschluss bedeutete dessen Ende für die EU als Nachfolgerin der Montanunion von 1952 die Notwendigkeit, sich neu zu erfinden. Die Flüchtlingsproblematik der letzten Monate hat deutlich gezeigt, dass dieser Neuerfindungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Stattdessen wurde klar, dass es unter den Regierungen der Mitgliedstaaten unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob und inwieweit es sich bei der EU um eine Solidargemeinschaft mit gleichen Rechten und Pflichten für alle Mitglieder handelt.
Jürgen Elvert