Dieser intime Roman floss Georges Bernanos so leicht aus der Feder, dass er ernsthaft überlegte, ob er ihn unveröffentlicht lassen sollte. Eine Zeitlang gefiel ihm die Vorstellung, jemand könnte das Buch irgendwann zufällig in seinem Nachlass entdecken. Er hat es dennoch zu Lebzeiten in die Welt entlassen und sie mit der Leidensgeschichte seines jungen, unerfahrenen und doch bereits vom Tod gezeichneten Landpfarrers reicher gemacht. In seiner spirituellen Tiefe war das Buch schon bei seinem Erscheinen 1936 ein außergewöhnliches Werk. Bernanos, dieser wichtige Vertreter des Renouveau catholique, reflektiert über Gott, den Glauben, das Gebet und die Kirche. Heute, da sich die Literatur säkularisiert und ganz anderen Themen zugewandt hat, wirkt dieses Buch erst recht wie aus der Zeit gefallen.
Jetzt liegt eine flüssig zu lesende Neuübertragung des St. Pöltener Pastoraltheologen Veit Neumann vor, der das Werk zudem kundig eingeleitet und kommentiert hat. Bereits auf der ersten Romanseite gibt es zwölf Anmerkungen, bis zum Ende des Buches sind sie auf 265 angestiegen. Neumann gibt nützliche Informationen und macht Querverweise, erläutert auch für Bernanos typische Motive wie Stumpfsinn, Hoffnung, Verzweiflung und stellvertretendes Leiden. Nicht jede Anmerkung erscheint unbedingt nötig (etwa sich wiederholende Sachverhalte wie die Selbstbezichtigung des Pfarrers als armselig), aber Neumann rückt auch Seelsorgegespräche oder unpassendes Verhalten aus seiner Sicht als Pastoraltheologe zurecht. Der letzte Tagebucheintrag bleibt in seiner Übersetzung allerdings unverständlich, so dass Jakob Hegners klassische Übertragung zu Hilfe kommt: „Wenn aber aller Stolz in uns gestorben wäre, dann wäre die Gnade der Gnaden, sich selbst demütig zu lieben als irgendeinen, wenn auch noch so unwesentlichen Teil der leidenden Glieder Christi.“
Kontemplation und Aktion – will sagen: pastorale Aufgabe – schließen sich nicht aus, und alles Natürliche hängt bei Bernanos mit dem Übernatürlichen geheimnisvoll zusammen. Er schildert das schwere Tagwerk des Lebens anhand einer katholischen Pfarrei, die ein Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft abgibt. Der ungeschickte Pfarrer kommt ins Gerede, leidet an den und für die stumpf gewordenen Menschen. „Nicht mehr zu lieben, das ist die Hölle“, sagt er im profunden Gespräch mit der Gräfin. Der Romancier zeichnet seine Priesterfigur als demütige, mit sich und anderen ringende Seele – und das ohne psychologische Arroganz, dafür mit einer Zärtlichkeit, die wohl nicht viele Autoren für ihre Figuren empfinden. Bernanos will nicht einmal den Namen seines Landpfarrers preisgeben. Der Protagonist bleibt anonym und kommt doch in seinen persönlichen Aufzeichnungen ganz nah. Gespräche mit einem Mitbruder und schwierige Begegnungen mit Personen aus seinem Umfeld sind in einen nur selten abreißenden Gedankenstrom eingebettet. Das gewinnt zuweilen auch kraftvoll essayistische Züge.
Am Ende lässt der Literat sein Werk mit den Worten ausklingen: „Was macht das schon aus? Alles ist Gnade“: Vordergründig beziehen sie sich auf die Sterbesakramente, die der todkranke Pfarrer nicht mehr erhält, weil sich der herbeigerufene Kaplan verspätet. Aber sie weiten sich zu einer Lebens- und Sterbensmystik und bekommen Gewicht, weil dem Pfarrer auch die Gottesferne in der Nachfolge Jesu nicht erspart geblieben ist. Die Furcht, die Christus selbst am Vorabend der Kreuzigung erleiden musste, sei in der Todesstunde „für den Menschen Mittlerin zu Gott“, hat Bernanos anderswo geschrieben. Auch die Todesangst ist ihm ein Zeichen der Gnade.
Roland Mörchen
Roland Mörchen
Roland Mörchen ist Diplom-Theologe und Kulturjournalist.