Eine Geschichte der Schuld
Am 4. Juni 1936 übergab Pfarrer Wilhelm Jannasch eine Denkschrift der Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) an Adolf Hitler in der Reichskanzlei.
An grundsätzlichen theologischen und kirchenpolitischen Erklärungen hatte es seit Beginn des Kirchenkampfes nicht gefehlt. Ende Mai 1934 vollzog die Bekennende Kirche (BK) mit der Barmer Theologischen Erklärung ihren eigentlichen Gründungsakt und wies in sechs Thesen den Anspruch der Deutschen Christen zurück, eine neue völkische und antisemitische Reichskirche zu etablieren. Im Mai 1935 verfasste Margarete Meusel eine Denkschrift „über die Aufgaben der Bekennenden Kirche an den evangelischen Nichtariern“. Aus eigener Initiative und anonym schrieb die Berliner Studienrätin Elisabeth Schmitz im Sommer 1935 ein Memorandum „Zur Lage der deutschen Nichtarier“, worin sie die antisemitische „Aufhetzung der öffentlichen Meinung“ anprangerte und das Schweigen der Kirchen beklagte. Sollte denn alles, so mahnte sie die BK, was mit der derzeit so verachteten Humanität unvereinbar sei, mit dem Christentum vereinbar sein?
In diese Tradition ordnete sich die von der Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung seit März 1936 erarbeitete Denkschrift ein. Sie war ein Unternehmen der nach der Vierten Reichsbekenntnissynode von Bad Oeynhausen im Februar 1936 neu konstituierten Leitung, die allein den entschiedenen Flügel der BK, die so genannten Dahlemiten um Martin Niemöller, repräsentierte. Die Denkschrift war vertraulich und ausschließlich an Reichskanzler Hitler gerichtet. In mancherlei Hinsicht glich das Verfahren der traditionellen Praxis untertäniger Eingaben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts an den absolutistischen Monarchen. Eingangs entboten die Absender dem „Führer und Reichskanzler ehrerbietigen Gruß“. Mit ihrem Schreiben möchten sie, so heißt es, die Sorgen und Befürchtungen, die viele Christen im Blick auf die Zukunft des evangelischen Glaubens und der Kirche bewegten, zum Ausdruck bringen. Zunächst dankten die Männer der BK den Nationalsozialisten für den Sieg über den „Bolschewismus“ durch die Revolution von 1933. Inzwischen jedoch, so heißt es weiter, sei ein Kampf gegen die christliche Kirche zu beklagen, der heftiger als je zuvor seit 1918 geführt werde. Die Kirche habe sich daher der „angefochtenen Gewissen“ ihrer Glieder anzunehmen. Hohe Stellen in Staat und Partei würden den Christenglauben öffentlich angreifen. Die BK-Theologen richteten sodann „die klare Frage an den Führer, ob der Versuch, das deutsche Volk zu entchristlichen, durch weiteres Mitwirken verantwortlicher Staatsmänner (...) zum offiziellen Kurs der Reichsregierung werden soll“. Mit Besorgnis konstatierte die Schrift, dass maßgebliche Persönlichkeiten des Staates und der Partei das im NSDAP-Parteiprogramm von 1920 postulierte „positive Christentum“ willkürlich auslegten. Erwähnt werden Äußerungen von Goebbels, Rosenberg und Reichskirchenminister Kerrl. Niemals sei der Kirche die Möglichkeit eingeräumt worden, solche „Missdeutungen des christlichen Glaubens“ zu widerlegen.
Die Verfasser kritisierten Eingriffe des Staates in das kirchliche Leben. Das Projekt von Kirchenminister Kerrl, durch Einsetzung von Kirchenausschüssen die Konflikte zu befrieden, halte die Kirche in Abhängigkeit vom Staat und zwinge sie zur Duldung von Irrlehre. Schließlich wird eine generelle „Entkonfessionalisierung“ des öffentlichen Lebens beklagt. Die damit einhergehende Zurückdrängung der Kirchen betreffe vor allem die Schulen, die Jugenderziehung sowie die theologische Ausbildung an Universitäten. Inzwischen werde die NS-Weltanschauung als Ersatz für das zu überwindende Christentum ausgegeben: „Wenn hier Blut, Volkstum, Rasse und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, wird der evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen, wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe.“
Mit tiefer Sorge sehen die Verfasser, dass eine dem Christentum „wesensfremde Sittlichkeit“ in das Volk eindringt. Kritisiert wird die Willkür in Rechtsdingen: noch immer existierten die Konzentrationslager. Willkürmaßnahmen der Gestapo entzögen sich jeder richterlichen Nachprüfung. Das „Gift eines antichristlichen Geistes“ breite sich aus, wonach das Volk sich selbst zum Maßstab aller Dinge machen wolle. Dies jedoch sei menschliche Überheblichkeit, die sich gegen Gott empöre. Ebenso müsse Christen die wachsende Vergötterung „des Führers“ mit Sorge erfüllen.
Das waren zweifellos klare, mutige Worte an die Adresse Hitlers. Die Vorläufige Kirchenleitung (VKL) wollte zunächst keinen Druck durch Einschaltung der Öffentlichkeit ausüben und Hitlers Antwort abwarten. Doch die ließ auf sich warten. Am 16. Juli 1936, zwei Wochen vor Eröffnung der Olympischen Spiele, publizierte die New York Herald Tribune einen gut informierten Artikel über die geheime Denkschrift. Eine Woche später erschien die Denkschrift im Wortlaut in den Basler Nachrichten. Diese Indiskretionen lösten Unruhe und Empörung aus, auch im Lager der BK. Gerüchte machten die Runde, vielfach war von „Verrat“ oder „Vertrauensbruch“ die Rede. In diesem Zusammenhang geriet auch Friedrich Weißler, der Bürochef der VKL, in Verdacht. Der „nichtarische“ Jurist hatte im Frühjahr 1933 durch SA-Gewalt sowie infolge des Berufsbeamtengesetzes seine Stellung als Landgerichtsdirektor in Magdeburg verloren. Als evangelischer Christ schloss er sich 1934 in Berlin der BK an. An den Denkschriftberatungen hatte Weißler als Büroleiter und juristischer Berater mitgewirkt. In einem Gespräch mit der Kirchenleitung am 15. September räumte er ein, an einer verdeckten Zusammenarbeit mit Bonhoeffers Vikar Werner Koch und dessen Freund Ernst Tillich zwecks Weitergabe von Informationen an die Auslandspresse beteiligt gewesen zu sein. In diesem Kontext habe er auch eine vorläufige Fassung der Denkschrift an Tillich übergeben, jedoch mit der Auflage, diese nicht an die Presse weiterzureichen. Die VKL suspendierte daraufhin Weißler vom Dienst, erklärte aber zugleich wenig später, dass sie aufgrund vieler Ungereimtheiten die eigentliche Quelle der Indiskretion nicht habe aufklären können.
Mutige Denkschriftenaktion
Am 7. Oktober 1936 verhaftete die Gestapo Weißler und Tillich „wegen Verdachts illegaler Betätigung“ und lieferte sie in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz ein. Zwischenzeitlich hatte die BK selbst die Gestapo und andere staatliche Stellen gebeten, Ermittlungen aufzunehmen, da sie die Indiskretion nicht schlüssig aufklären konnte und um ihren Ruf nationaler Zuverlässigkeit fürchtete. In den Vernehmungen gab Weißler zu, die „Denkschrift in einem korrigierten Exemplar, das aber noch nicht die endgültige Fassung enthielt“, an Tillich herausgegeben zu haben. Dieser erklärte, er habe in Verbindung mit dem Nachrichtenbüro Reuter gestanden und dort monatlich Informationen über den Kirchenkampf abgeliefert, so auch eine Abschrift der Denkschrift, für die er 50 Reichsmark erhalten habe. Er habe geglaubt, man würde gegen die Pfarrer nicht so scharf vorgehen, wenn ausländische Zeitungen darüber berichteten. Tillich hatte ein paar Semester Theologie studiert und das Studium abgebrochen. Um 1936 lebte er in prekären privaten Verhältnissen und brauchte dringend Geld. Weißler räumte die Weitergabe von Nachrichten ein und argumentierte, dies sei keine strafbare Handlung gewesen. Er habe im Interesse der Ökumene gehandelt, denn es sei Wunsch der Christen im Ausland, mehr über die Vorgänge in Deutschland zu erfahren. Auf die Frage, ob er Veröffentlichungen in der Auslandspresse nicht für „staatsgefährlich“ hielt, entgegnete er: in der BK habe die Ansicht vorgeherrscht, ein Christ müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Konfrontiert mit der Frage, warum er ohne Wissen der VKL gehandelt habe, erwiderte er, nach seiner Überzeugung durchaus im Interesse seiner Kirchenleitung gehandelt zu haben. Auf die Frage des Gestapobeamten, ob er als „Jude“ (so die Formulierung im Protokoll) sich nicht größere Zurückhaltung hätte auferlegen sollen, entgegnete er: In der BK gebe es keinen Unterschied zwischen „Ariern“ und „Nichtariern“; auch habe er Tillichs Gesinnung für lauter gehalten und es nicht unehrenhaft gefunden, dass er Geld für die Nachrichten nahm.
Seit Oktober rückten die BK-Spitzengremien mehr und mehr von Weißler ab. Als der Reichsbruderrat am 29. Oktober über den „Fall Weißler“ diskutierte, überwog Distanznahme. Der westfälische Präses Karl Koch, die Pfarrer Hans Asmussen, Gerhard Jacobi und Martin Niemöller und weitere Theologen plädierten für Abkehr, während andere wie Pfarrer Fritz Müller und Hans Böhm eine verhalten solidarische Position einnahmen. Von Niemöller sind harte Sätze überliefert: „Gegen Weißler muß sofort ein klarer Strich gezogen werden. Wir müssen sauber und klar handeln, das sind wir der BK schuldig.“ Am 21. November 1936 verlautbarten Präses Koch und Pfarrer Müller für die Kirchenleitung: Bis auf den heutigen Tag sei nicht geklärt, wie die Denkschrift an die Öffentlichkeit gelangte. Sollte sich die Schuld eines Angestellten der VKL ergeben – damit konnte nur Weißler gemeint sein –, so beruhe die Veröffentlichung auf „Vertrauensbruch“.
Nach monatelanger Gefängnishaft wurden die „Schutzhäftlinge“ Weißler, Werner Koch und Tillich am 13. Februar 1937 in das KZ Sachsenhausen überführt. Weißler kam als „Nichtarier“ sofort in Einzelhaft in den „Zellenbau“. Als der Dienst habende SS-Wachtmann am 19. Februar gegen sechs Uhr früh die Tür zur Zelle Nr. 60 öffnete, fand er Weißler leblos auf dem Boden liegend vor. Entgegen erster Behauptungen des Lagerarztes und KZ-Kommandanten, die von Suizid sprachen, gelangte ein gründlicher gerichtlicher Untersuchungsbericht vom Juni 1937 aufgrund der zahlreichen inneren Verletzungen des Toten zu dem Befund, dass Weißler etwa fünf Tage lang schwersten Misshandlungen ausgesetzt war, an deren Folgen er in der Nacht zum 19. Februar starb. Er war Opfer eines aus vier bis fünf SS-Wachtmännern bestehenden Totschlägerkomplotts geworden. Allem Anschein nach war die Tat nicht von höherer Stelle angeordnet worden. Eine kleine Gruppe von SS-Männern, die Aufsicht im „Zellenbau“ führte, hatte faktisch absolute Gewalt über Weißler – in ihren Augen „ein Jude“. Die Täter wussten nichts von ihrem Opfer. Seine Zugehörigkeit zur BK und seine Verstrickung in die Denkschriften-Indiskretion spielte für die Gewalttäter keine Rolle. Maßgeblich war für sie allein der Umstand, dass sie in Weißler, dem gläubigen Christen, einen „Juden“ sahen.
An die Öffentlichkeit gelangte diese brutale Gewalttat nicht. Gegen mehrere Täter wurde ein Verfahren eröffnet. Der Hauptbeschuldigte brachte sich in Untersuchungshaft um, ein anderer wurde im Juli 1938 wegen „Totschlags“ zu einjähriger Gefängnisstrafe verurteilt. In die Fürbittelisten der BK für verfolgte Christen wurden Weißler und Vikar Koch nicht aufgenommen, da es sich – wie es damals hieß – um politische Vorgänge handelte. Es hatte keine Solidaritätskampagne der BK gegeben, als zwei ihrer Mitstreiter in Gestapohaft kamen. Es gab nicht die Spur eines öffentlichen Aufschreis im Februar 1937, als Weißler im KZ binnen Wochenfrist zu Tode gemartert worden war. Ein Jahr später, im März 1938, wurde Martin Niemöller nach langer Untersuchungshaft und faktischer Freisprechung vor Gericht als „persönlicher Gefangener“ Hitlers in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Er kam in Einzelhaft in jenen „Zellenbau“, in dem ein Jahr zuvor Weißler den Tod fand.
Die mutige Denkschriftenaktion von 1936 und das furchtbare Schicksal Friedrich Weißlers waren untrennbar miteinander verflochten. Der Skandal um die „Indiskretion“ seit Juli 1936 überschattete bald schon die eigentlich intendierten Zielsetzungen der Denkschrift. Ende August verkündeten mutige BK-Pfarrer (keineswegs alle) in einer Kanzelerklärung in abgeschwächter Version einige Anliegen der Denkschrift. Auch fand der Wortlaut der Denkschrift in Sonderdrucken und Abschriften in Bekenntniskreisen Verbreitung. Gleichwohl blieben die Wirkungen begrenzt. Die Art und Weise, wie Spitzengremien des entschiedenen BK-Flügels von ihrem „nichtarischen“ Mitarbeiter abrückten, muss beschämend wirken. Man rühmte den Toten als „ersten Märtyrer der BK“, aber man sprach wenig davon bis Kriegsende. Auch in der Nachkriegszeit vergingen Jahrzehnte, bevor eine historische Aufarbeitung und angemessenes Gedenken in Gang kamen. „Wir tragen als Kirche schwer an dem, was Friedrich Weißler angetan wurde. Verlassen war er nicht nur von der deutsch-christlichen Reichskirche, die auf Seiten der Nationalsozialisten stand. Auch die Bekennende Kirche, für die Friedrich Weißler gearbeitet hat und als deren Glied er sich fühlte, trat ihm nicht zur Seite. (...) Wir bekennen uns zu unserer Geschichte, die in diesem Fall eine Geschichte der Schuld ist.“ Diesen klaren Worten des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber anlässlich der Einweihung einer Gedenkstele im Februar 2005 auf dem Gelände des Lagers Sachsenhausen wird man sich nur anschließen können. Die Aufnahme Friedrich Weißlers in einen jährlichen Gedenkzyklus der Kirchen erscheint ebenso angebracht wie seine dauerhaft sichtbare Würdigung durch Benennung kirchlicher Einrichtungen und Häuser mit seinem Namen.
Manfred Gailus
Manfred Gailus
Manfred Gailus ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin.