Herrschaft des Rechts
In großer Einmütigkeit haben sich die Kirchen in Deutschland an die Seite der Flüchtlinge gestellt. Das besondere Augenmerk und die besondere Empathie für Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, sind tief in der biblischen Botschaft verankert. Im Alten Testament wird das Gebot, Fremdlinge nicht zu bedrängen und ihnen wie Witwen und Waisen einen besonderen Schutz zu gewähren, mit der Erinnerung an Israels Geschichte begründet: „Ihr seid auch Fremdlinge gewesen“ (2. Mose 22,20). Und im Neuen Testament ist das Unterwegssein in der Welt Sinnbild christlicher Existenz: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebräer 13,14).
In der Hilfe für Fremde wird das getan, was das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe nahelegt, dem Fremden so zu begegnen, wie man es, wäre man in seiner Situation, für sich selbst erhoffen würde. In der Rede vom Weltgericht reiht Christus die Aufnahme eines Fremden nicht nur in die später so genannten „Werke der Barmherzigkeit“ ein. Die Hilfe für einen Fremden ist Hilfe für Christus und so Begegnung mit ihm.
Orientiert an dieser Botschaft haben sich die Kirchen in Deutschland entschieden an die Seite von Flüchtlingen gestellt. Sie weisen auf ihre besondere Situation hin, mahnen menschliche Behandlung an und versuchen selbst nach Kräften zu helfen. Beides gehört zusammen: anwaltschaftliche Vertretung in der politischen Debatte und unmittelbare Hilfe. Es ist beachtlich, wie viele Menschen sich in der aktuellen Situation engagieren. Und nicht wenige entdecken dabei für sich, was es bedeutet, christlich zu leben.
Das Flüchtlingsthema ist kein Randthema. Es ist eng mit dem Zentrum der biblischen Botschaft verbunden. So engagieren die Kirchen sich schon seit langem in Flüchtlingsberatung und Flüchtlingshilfe. Auch Kirchengemeinden haben sich immer wieder eingebracht, wenn sie in Einzelfällen gefordert waren – bis hin zur nicht unumstrittenen Gewährung von Kirchenasyl. Im politischen Raum haben die Kirchen in Deutschland seit vielen Jahren eine menschengerechte und weitsichtige Flüchtlingspolitik gefordert, die auch die Bedürfnisse der Flüchtlinge einschließt. Dabei war immer klar: Die eigene, in der christlichen Botschaft verankerte Motivation kann nicht zum Maßstab für alle gemacht werden. Die jüdisch-christliche Tradition kann aber insofern in die politische Debatte eingebracht werden, als das Gemeinwesen sein säkulares Wertgefüge auch in dieser Tradition begründet sieht. Dazu gehören das im Grundgesetz verankerte Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Genfer Flüchtlingskonvention und dem sie erweiternden Protokoll von 1967 sind bisher 147 Staaten beigetreten. Der Schutz von Flüchtlingen und die Wahrung ihrer Menschenrechte werden als globales humanitäres Anliegen gesehen.
Auf dieser Grundlage haben die Kirchen in Deutschland zusammen mit ihren Werken Diakonie und Caritas eine Flüchtlingspolitik gefordert, die sich an der Menschenwürde jedes Einzelnen orientiert. So wurde immer wieder auf die Problematik der Kettenduldungen und der Situation von Menschen ohne Aufenthaltsstatus, der sogenannten „Illegalen“, hingewiesen und Abhilfe gefordert. Die Kirchen haben Wert darauf gelegt, dass Abschiebungen, wenn sie sein müssen, ohne Menschenrechtsverletzungen erfolgen. An den Flughäfen Frankfurt und Düsseldorf haben die Kirchen eine Abschiebebeobachtung eingerichtet, deren Arbeit die Bundespolizei ausdrücklich begrüßt.
Zu den kirchlichen Äußerungen zur Flüchtlingspolitik gehörten in der Vergangenheit auch immer wieder eindringliche Hinweise darauf, dass man sich angesichts der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Weltlage dauerhaft auf größere Migrationsbewegungen einstellen müsse. Damit ging die Forderung einher, über die humanitäre Flüchtlingsaufnahme hinaus politisch zu klären und in Konzepten zu verankern, was es heißt, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Dazu müssen neben der humanitären Flüchtlingsaufnahme Wege für Arbeitsmigration geschaffen und vor allem Integrationskonzepte entwickelt werden. Hier geht es nicht darum, utopische Gesellschaftsmodelle zu entwickeln, sondern anzuerkennen, was längst Wirklichkeit ist und bewusst gestaltet werden muss: lebendige Vielfalt und das friedliche gleichberechtigte Miteinander von Menschen unterschiedlicher kultureller, sprachlicher und religiöser Herkunft. Dabei kann mit guten Gründen angenommen werden, dass Deutschland aus demografischen und ökonomischen Gründen Zuwanderung brauchen kann und in der Lage ist, Integration kulturell zu gestalten.
Obwohl in der Vergangenheit sicher Fehler gemacht wurden, hat die Bundesrepublik mit den unterschiedlichen Formen der Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg gute Erfahrungen gemacht. Diese hat dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik ein vielfältiges und offenes Land ist. Dass dies nicht in Konkurrenz zu Freiheit, Recht und Sicherheit steht, sondern gerade damit zusammengeht, wird weltweit mit großem Respekt gesehen und anerkannt. Die Kirchen haben in den vergangenen Jahren, insbesondere angesichts der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, immer wieder eine gemeinsame Flüchtlingspolitik der EU gefordert. Der Anspruch besteht nicht zuletzt aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention, die von allen europäischen Staaten unterzeichnet und auch als Grundlage des Handelns der Gemeinschaft akzeptiert wurde. Allerdings ist es bisher nicht gelungen, in der Flüchtlingsaufnahme EU-weite Standards zu gewährleisten. Dies ist ein wesentlicher Grund, warum das Dublin-System nicht mehr funktionierte, als in den vergangenen Jahren mehr Flüchtlinge nach Europa kamen.
Neben der Revision von Dublin haben die Kirchen als besonders dringlich gefordert, ein europäisches Seenotrettungssystem einzurichten und vor allem legale Zuwanderungsmöglichkeiten zu schaffen und Neuansiedlungsprogramme (Resettlement) für Menschen aus Krisengebieten wie Syrien oder dem Irak aufzulegen. Denn legale und gefahrenfreie Zuwanderungsmöglichkeiten verhindern, dass Menschen sich kriminellen Schlepperbanden ausliefern. Und sie ermöglichen eine geordnete Flüchtlingsaufnahme in europäischer Solidarität.
Die Europäische Union hat stattdessen prinzipiell auf Abschottung gesetzt. Sicher, es wurde auch bei der Seenotrettung einiges geleistet, aber die Grundlinie war doch immer, alles zu vermeiden, was noch mehr Flüchtlinge anziehen könnte. Das hat allerdings nicht verhindert, dass Menschen sich auf den Weg gemacht haben, weil es für die allermeisten schlicht darum ging, ihr Leben zu retten.
In den vergangenen Monaten haben die Kirchen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel unterstützt. Sie haben dies in der Überzeugung getan, dass die Bundeskanzlerin tut, was christlich geboten ist und – das ist für den politischen Diskurs das entscheidende Argument – dass dies in Übereinstimmung steht mit der rechtlichen Verpflichtung durch Grundgesetz, Genfer Flüchtlings- und Europäische Menschenrechtskonvention. Es geht also gerade nicht um eine „Herrschaft des Unrechts“, sondern um die Orientierung am Recht und an den Menschenrechten. Alles andere hätte bedeutet, Schutzsuchende abzuweisen und ihnen in ihrer Not nicht zu helfen.
Die Zustimmung zur Politik der Bundeskanzlerin ist zugleich auch von der Einschätzung getragen, dass Deutschland als starkes Land helfen kann. Dass das mit Belastungen verbunden sein kann, ist unbestritten. Aber sie sind zu bewältigen. Niemand behauptet, dass Deutschland alle Probleme lösen kann. Und niemand meint ernsthaft, dass es alle Flüchtlinge aufnehmen kann. Aber das ist auch gar kein realistisches Szenario. Denn nicht alle Menschen suchen in Deutschland Schutz. Und zudem müssen andere Länder wie der Libanon und Jordanien mit ungleich größeren Belastungen und Herausforderungen zurechtkommen als Deutschland.
Auch der Vorwurf, die Kirchen würden rein „gesinnungsethisch“ argumentieren, ohne mögliche Folgen abzuschätzen, greift nicht. Der Rückblick auf die kirchlichen Positionen der vergangenen Jahre zeigt: Es geht nicht darum, wie manche behaupten, christlichen „Gesinnungsterror“ auszuüben, sondern auf der Grundlage bestehender humanitärer Rechtsverpflichtungen für eine verantwortliche Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik zu plädieren.
Eine solche hat freilich mehrere Ebenen. Sie hat sich grundlegend den Herausforderungen globaler Migration zu stellen. Wanderungsbewegungen wird es immer und in Zukunft wohl noch stärker geben. Anzustreben wäre, dass Menschen sich nicht – wegen Krieg, Hunger, Verfolgung – auf die Flucht begeben müssen. Die zu Recht geforderte Bekämpfung von Fluchtursachen muss dies in den Blick nehmen und das gemeinsame Handeln der Vereinten Nationen einfordern. Auch die konkrete Hilfe in Krisen- und Katastrophensituationen gehört in diesen Zusammenhang. Deshalb müssen in der aktuellen Situation Hilfsorganisationen, die wie der UNHCR und andere, die Flüchtlinge in ihren Herkunftsregionen unterstützen, ausreichend finanzielle Mittel erhalten.
Individuelle Prüfung
Eine herausragende Aufgabe bleibt nach wie vor eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik. Das Flüchtlingsthema ist – gerade auch in seiner globalen Dimension – das Thema, an dem sich die EU weiterentwickeln kann, ja muss. Es wäre wichtig, viel Energie und Ressourcen darauf zu verwenden, dass Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen registriert, beraten und von dort verteilt werden. Dies wird wohl nur gelingen, wenn allen klar ist, dass die Berechtigung ihres Anliegens individuell geprüft wird. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass im Fall der offensichtlichen Aussichtslosigkeit auch die freiwillige Rückkehr gefördert wird. Angesichts des anhaltenden Krieges in Syrien müssen auch außereuropäische Staaten gefragt werden, ob sie zur Aufnahme nennenswerter Flüchtlingskontingente bereit sind.
In Deutschland sollten die Hilfesuchenden möglichst schnell aus der Erstaufnahme heraus in die Kommunen verteilt werden, so dass die Integration so schnell wie möglich beginnen kann. Sinnvoll sind beschleunigte Formen der Anerkennung derer, deren Antrag offensichtlich begründet ist. Dazu gehören momentan besonders Menschen aus Syrien und Eritrea.
Es gibt nach wie vor viel Bereitschaft, Menschen individuell zu unterstützen. In der Erstaufnahme kann die Beratung verstärkt werden – besonders auch für diejenigen, deren Asylantrag voraussichtlich keine Erfolgsaussicht hat. Empfehlung und Unterstützung der Rückreise ist in allen Fällen sinnvoller als spätere Abschiebungen.
Debatten über Obergrenzen sind nicht hilfreich. Denn die Aufnahme von Flüchtlingen kann ihrem humanitären Wesen nach nicht begrenzt werden. Grenzen, wenn wir denn an solche stoßen, werden sich zeigen. Zu einem verantwortlichen Umgang mit der Situation gehört natürlich, Probleme – auch der Integration – realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen.
Die Aufgabe ist groß, und niemand hat eine Patentlösung. Umso wichtiger ist es, die großen Zusammenhänge und Fragen in den Blick zu nehmen, und nicht nach Begrenzungsstrategien zu suchen, die keine Probleme lösen. Hierzu gehört auch die vor kurzem beschlossene Beschränkung des Familiennachzugs. Gerade angesichts des Druckes, den der zunehmende Rechtspopulismus ausübt, ist eine klare, sachliche und differenzierende Sicht gefragt. Daraus muss um der friedlichen Zukunft unserer Gesellschaft willen eine Haltung erwachsen, die sich den Blick für die Not von Menschen erhält und die humanitären Grundlagen unseres Gemeinwesens nicht infrage stellt.
Volker Jung
Volker Jung
Volker Jung (geboren 1961) studierte Theologie in Bielefeld-Bethel, Heidelberg und Göttingen. Seit 2009 ist er Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er gehört seit 2015 dem Rat der EKD an und ist seitdem auch Vorsitzender des Aufsichtsrats des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik in Frankfurt/Main.