Ein hoher Grad an Receptivität

Was privat, was öffentlich war, hatte schon immer mit den Geschlechterverhältnissen zu tun
Arbeits- und Familienwelt noch ungetrennt: Heimarbeit um 1900. Foto: dpa
Arbeits- und Familienwelt noch ungetrennt: Heimarbeit um 1900. Foto: dpa
Löst sich das Private auf, wird alles gleich öffentlich? Heinz-Gerhard Haupt, Professor em. für allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld, zeigt, dass die Grenzen zwischen beidem immer veränderlich waren. In historischer Perspektive ließe sich, so sein Fazit, weder von einem Bedeutungsverlust des Privaten noch des Öffentlichen sprechen, sondern nur von sich verändernden Beziehungen.

Unter den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der vergangenen zweihundert Jahre spielte die Kategorie der Privatheit eine zentrale Rolle - allerdings selten allein, sondern zumeist als Teil einer binären Weltsicht, die dem Privaten das Öffentliche, das Politische entgegenstellte. Die Inhalte und Semantiken der beiden Bereiche standen nicht von vornherein fest, sondern veränderten sich je nach den gesellschaftlichen Konstellationen der sie benutzenden Akteure und Akteurinnen und deren Interessenlagen. Die Grenzen und Grenzverschiebungen zwischen "privat" und "öffentlich" waren Teil gesellschaftlicher und politischer Aushandlungsprozesse, Herrschaftsstrategien und Konflikte, die je nach Gesellschaft durchaus unterschiedlich verlaufen konnten.

Dies wird in der Gegenwart vor allem in den Kontroversen darüber deutlich, ob Politiker aufgrund ihrer öffentlichen Funktion ihr Privatleben offenlegen sollten oder ob dieses zu schützen sei. In der angelsächsischen Welt und in skandinavischen Gesellschaften wird auf eine vollständige Transparenz des Privatlebens von Politkern und Politikerinnen geachtet, dieses wird an Kriterien der traditionellen Moral und einem idealisierten Familienmodell gemessen. Bill Clinton entging deshalb 1998 wegen seiner Affäre nur knapp dem "impeachment", einem Misstrauensvotum.

Im Unterschied zu dieser Transparenz des Privaten hält sich etwa in der französischen Gesellschaft der Schutz des Privatlebens. Anfang der Siebzigerjahre hatte der damalige Präsident Pompidou das "Recht auf Respektierung des Privatlebens" im französischen Zivilrecht verankert und damit auch eine Einstellung kodifiziert, die in der französischen Öffentlichkeit verbreitet war und noch ist. Selbst nachdem Sarkozy sein Privatleben politisch instrumentalisiert hatte, waren zu Beginn dieses Jahres noch 77 Prozent aller befragten Franzosen der Meinung, die Liebesaffäre des jetzigen Präsidenten sei seine Privatsache.

In der Debatte um Privatheit und Öffentlichkeit geht es aber nicht nur um Diskurssysteme, sondern auch um historische Prozesse, in denen diese stattfinden und aus denen sie ihre Plausibilität gewinnen. Über die Entstehung des Gegensatzes von privat und öffentlich gibt es in der Forschung zwei einflussreiche Thesen. Eine geht zurück auf die am Ende des 18. Jahrhunderts festgestellte "Dissoziation von Erwerbs- und Familiensystem"(Karin Hausen). Die soziale Triebkraft dieser Entwicklung, in der das Haus als Produktions-und Lebensgemeinschaft aufgelöst wurde, war vor allem das sich langsam herausbildende deutsche Bildungsbürgertum, das sich aus Beamten, Rechtsanwälten, Ärzten und Professoren zusammensetzte.

Prinzipien der Rationalität

Diese gingen ihrer Berufstätigkeit in der Regel außerhalb des Hauses nach und mussten sich in ihren Karrieren und Verhaltensweisen seit dem 17. Jahrhundert an den Prinzipien der Rationalität orientieren. Gegenüber der öffentlichen Berufsarbeit wurde das Haus zum Ort des Privaten, das heißt der Intimität und Emotionalität, der bürgerlichen Liebe und der Erziehung der Kinder. In ihm fand der arbeitende Mann dank der vielfältigen Aktivitäten der Hausfrau Erholung und Erbauung. Nicht mehr führten berufliche Tätigkeiten im Haus Hausvater und Hausmutter zusammen, sondern das Berufsleben außerhalb des Hauses und die häusliche Sphäre mussten miteinander in Beziehung gebracht werden. Dazu war eine harmonische Geschlechterbeziehung günstig.

Der Mann stand für rationales Verhalten, die Frau für Emotionalität. Diese Komplementarität wurde in so genannten Geschlechtscharakteren verfestigt, in denen die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften als naturgegeben dargestellt wurden. So hieß es im Rheinischen Conversationslexikon des Jahres 1830 zum Stichwort "Weiblichkeit", man könne darunter "alle Eigenschaften fassen, welche aus dem Naturwesen des Weibes hervorgehen und es vom Manne unterscheiden. Es sind geistige und körperliche Unterschiede. Im Ganzen ist der Charakter des Weibes ein hoher Grad Receptivität mit wenig Energie, und umgekehrt der des Mannes viel Energie mit wenig Sensibilität".

Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts verlor die Familie in Westeuropa immer mehr den Charakter einer Produktion und Reproduktion umfassenden Institution, zunächst in den städtischen, dann auch in den ländlichen Gesellschaften. Gleichwohl blieb das Haus als Gestaltungsraum der Familie und als Ort der Privatheit bestehen. Die moderne Konsumgesellschaft, die mit den Warenhäusern im 19. Jahrhundert einen öffentlichen Raum für männliche und weibliche Konsumenten geschaffen hatte, nahm sich im 20. Jahrhundert verstärkt des Hauses und seiner Ausgestaltung an. Tapeten und Möbel, Waschmaschinen und Radios, Elektrizität und Gas sollten den privaten Bereich ausschmücken und rationalisieren. Das Haus und die Familie wurden zu Symbolen der Privatheit, die mit Werten wie der Individualisierung einherging.

Auch die geschlechtliche Rollendifferenz, die in zahlreichen Diskursen und Politiken des 20. Jahrhunderts einflussreich war und festgeschrieben wurde, bestand fort. Die Rolle der Frau, der als "Hausfrau und Mutter" der private Bereich zugeordnet war, veränderte sich allerdings mit der Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit, die zunächst in Kriegszeiten, dann aber auch im Frieden zunahm. Auch die Entfaltung staatlicher Kontroll- und Leistungssysteme entlasteten die Familie von Aufgaben. Die Erziehung der Kinder wurde in das öffentliche Schulsystem, die Sorge für Kranke und Alte sozialstaatlich ausgelagert, wenngleich der Familie bei der Kindererziehung, der Kranken- und Altenversorgung weiterhin eine wichtige, über Lebenschancen der Individuen entscheidende Rolle verblieb.

Der zweite zentrale Ansatz ist Jürgen Habermas' Konzept der Öffentlichkeit. Er siedelte deren Entstehung im 17. Jahrhundert an und charakterisierte sie durch die Trennung von Staat und Gesellschaft, Öffentlichkeit und Privatheit. In der politischen, im Unterschied zur literarischen, Öffentlichkeit melden Privatleute gesellschaftliche Interessen öffentlich an, rechtfertigen diese und bringen sie in den Diskurs mit anderen, durch Besitz und Bildung legitimierten Bürgern ein: "Die zum Publikum versammelten Privatleute machten die politische Sanktionierung der Gesellschaft als einer privaten Sphäre öffentlich zum Thema." Die Öffentlichkeit war ein Medium der öffentlich agierenden Privatleute, um ihre Interessen zu formulieren und sie mit denen anderer Privatleute abzustimmen.

Dieses Modell der politischen Öffentlichkeit wird nach Habermas durch die privatkapitalistische Entwicklung der Medien und die Verschränkung von privatem und öffentlichem Bereich in Frage gestellt. Mit den Zeitungen, Revuen und Büchern beeinflussten diesen Kommunikationszusammenhang zunehmend privatwirtschaftliche Interessen, die die öffentliche Vernunftsuche störten. Da das "Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit (...) mit der strikten Trennung des öffentlichen vom privaten Bereich rechnete", wurde es "im Maße der Verschränkung des öffentlichen mit dem privaten Bereich ... unanwendbar".

An seine Stelle tritt die Herrschaft der Verbände und Parteien, die die öffentliche Vernunftsuche monopolisieren und sie ihren partikularen Interessen unterwerfen. Nach Habermas "zerfällt" damit die bürgerliche Öffentlichkeit: "Es entsteht nämlich eine repolitisierte Sozialsphäre, die sich weder soziologisch noch juristisch unter Kategorien des Öffentlichen oder Privaten subsumieren lässt. In diesem Zwischenbereich durchdringen sich die verstaatlichten Bereiche der Gesellschaft und die vergesellschafteten Bereiche des Staates ohne Vermittlung der politisch räsonierenden Privatleute."

Nun lässt sich die Geschichte der Öffentlichkeit in den vergangenen einhundertfünfzig Jahren nicht als Zerfallsgeschichte lesen, sondern zeigt vielmehr den Wandel dessen, wie unterschiedliche Gruppen von Privatleuten sich organisieren und das politische Leben beeinflussen. Die Bandbreite reicht dabei von Vereinen über Parteien und Gewerkschaften bis zu Selbsthilfeorganisationen. Sie alle versuchen private Interessen zu bündeln und als öffentlich relevant anzumelden. Idealiter müssten sie neu gebildet werden, wenn in der Öffentlichkeit das Selbsterhaltungsinteresse ihre gesellschaftliche und politische Vermittlungsfunktion dominiert.

Staatliche Selbstentmachtung?

Nach 1945 wurden die Beziehungen zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich unübersichtlicher: Neben Privatisierungen zuvor öffentlicher Aufgaben und Institutionen standen öffentliche Interventionen in private Problem-Bereiche. Einerseits wurde das Private problematisiert. Unternehmer und Unternehmen, die unter der faschistischen Herrschaft kollaboriert hatten, wurden - wie Renault in Frankreich - verstaatlicht, weil der Privatbesitz offensichtlich nicht in der Lage gewesen war, öffentliche Aufgaben zureichend zu erfüllen. Verstaatlichungen privatwirtschaftlich geführter Unternehmen gehörten nicht nur zu den gängigen Praktiken staatssozialistischer Systeme, sondern wurden auch in demokratischen Staaten dann vorgenommen, wenn strategisch wichtige Unternehmen vom Bankrott bedroht waren.

Zunehmend verlor aber der öffentliche Sektor an Attraktivität. Vor allem seit den Achtzigerjahren galt er als defizitär, überreglementiert und ineffizient. Die Politik der Regierung Thatcher in Großbritannien trieb den Abbau des öffentlichen Sektors voran. Die Privatisierung öffentlicher Unternehmen war das Motto dieser Politik. Diese wurde nicht nur vollzogen, um im Zeichen des "schlanken Staates" finanzielle Einsparungen vorzunehmen, sondern auch, um konfliktreiche Bereiche aus dem Sektor der "öffentlichen Hand" auszulagern. Diese Politik erstreckte sich weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus. Sie führte zur Privatisierung von Schulen und Universitäten, Polizeiaufgaben und Krankenversorgung. Während ihre Initiatoren sich davon einen Zuwachs an Experimentierräumen und Flexibilität erwarten, können diese Maßnahmen auch als "staatliche Selbstentmachtung" (Frank Bösch) und als Einfallstor für privatkapitalistische Interessen und Zielsetzungen im öffentlichen Raum gedeutet werden.

Gleichsam quer zu den Akzentverschiebungen zwischen privat und öffentlich lagen jene Politiken, die deren Verbindung zum Inhalt hatten oder beide Bereiche ansprachen. Der "private public mix" versuchte, öffentliche und private Unternehmen, Projekte und Praktiken zu verbinden. In der Bundesrepublik wurde die private Vorsorge als Notwendigkeit gepriesen, um die öffentliche Rentenpolitik zu ergänzen und um Altersarmut vorzubeugen. Ein zentraler privater Bereich - die Familie - wurde von sozialen Bewegungen wie der Studenten- und Frauenbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre in seiner öffentlichen Relevanz wahrgenommen. Unter der Parole "Das Private ist politisch" wurde nicht nur auf die Mechanismen repressiver Familienpolitik verwiesen, sondern auch auf die politischen und sozialisatorischen Folgen patriarchalischer Strukturen. Veränderungen der mit der bürgerlichen Familie verbundenen hierarchischen und patriarchalischen Familienstrukturen sollten durch die legale und reale Gleichberechtigung der Frauen erreicht werden. Die strafrechtliche Verfolgung von Gewalt in der Ehe, die zuvor nicht bestanden hatte, wurde 1997 eingeführt und demonstrierte die Notwendigkeit öffentlicher Eingriffe in den Privatbereich der Ehe.

Das Fazit lautet: In historischer Perspektive wird man weder von einem Bedeutungsverlust des Privaten noch des Öffentlichen sprechen können, sondern von sich verändernden Beziehungen.

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Heinz-Gerhard Haupt

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