Das Töten und Sterben im syrischen Bürgerkrieg geht weiter. Es ist ein schwacher Trost, dass chemische Waffen auf Seiten des Assad-Regimes nicht oder nicht mehr zum Einsatz kommen können und dass die US-Interventionsdrohung an die Adresse der syrischen Militärs für die nächste Zeit vom Tisch ist.
Der Bürgerkrieg im Land betrifft die weltweite Christenheit in besonderer Weise, weil etwa 10 Prozent der 22 Millionen Landesbewohner Christen sind. Sie gehören verschiedenen orientalischen Kirchen an. Das politische Baath-Regime in Syrien, in den Zwanzigerjahren von einem orthodoxen Theologen mit gegründet, gewährte den Christen und anderen Minderheiten religiöse Toleranz. Es liegt auf der Hand, dass der Zusammenbruch der Assad-Herrschaft das letzte religionstolerante politische System im Nahen und Mittleren Osten beseitigen würde, in dem Muslime und Christen seit Jahrhunderten gedeihlich zusammenleben. Alleine dieser Umstand schafft für die Kirchen im Land eine sehr schwierige Lage: Assad, der politische Tyrann, der im März 2011 zunächst friedliche Proteste gegen seine Diktatur mit Waffengewalt versuchte niederzuschlagen und damit den Bürgerkrieg auslöste, ist der einzige, wenngleich schwache Garant gegen die Machtübernahme islamischer Fanatiker und Terroristen.
Was konnten die syrischen Kirchenführer in dieser Situation tun? Sie lehnten von Anfang an in vielen Stellungnahmen mit großer Mehrheit eine Beteiligung am Aufstand gegen Staatschef Assad ab, übten also Neutralität und versuchten sich wegzuducken. Sie erklärten auch immer wieder, ihre Feinde seien nicht die Muslime, sondern die Extremisten und Banden. Doch immer radikalere islamische Gruppen, aus Nachbarländern unterstützt (Libanon, Iran, Saudi-Arabien, Quatar, Türkei), akzeptieren die Neutralität der Christen nicht und greifen Kirchengebäude, Priester, Kirchenführer und viele Gemeindemitglieder an. Entgegen der politischen Grundhaltung der Bischöfe schlossen sich etliche Gemeindemitglieder dem bewaffneten Kampf gegen die Assad-Herrschaft an und trugen so Zwietracht in die ohnehin schon schwer bedrängten Kirchengemeinschaften hinein.
Zwei Maßnahmen
Man kann zwei Maßnahmen klar unterscheiden, die humanitäre Nothilfe für Flüchtlinge vor Ort, daneben die ökumenische Solidarität mit den bedrängten Kirchen in der Region und öffentliche Erklärungen in Deutschland.
Die Diakonie Katastrophenhilfe (DKH), ein humanitäres Hilfswerk der evangelischen Kirche und Schwesterorganisation von Brot für die Welt, hat jahrzehntelange Erfahrung weltweit darin, Menschen in kriegerischen Konflikten vielfältig zu unterstützen. Es war deshalb selbstverständlich, dass sich die DKH seit 2012, seit Beginn der Flüchtlingsbewegung in Syrien, um die Versorgung von Notleidenden gekümmert hat, im Land selber, dann in den Nachbarstaaten. Es muss betont werden, dass sich diese Hilfsmaßnahmen, an der sich auch die katholischen Organisationen, zum Beispiel Caritas International beteiligt haben, nicht nur an christliche Flüchtlinge richteten, sondern ohne Ansehen von Religion und Volkszugehörigkeit geleistet werden. Gemessen an der ständig steigenden Not der Flüchtlinge waren und sind die Hilfeleistungen natürlich recht bescheiden.
Die syrischen Kirchen brauchen in schwerer äußerer Bedrängnis die Unterstützung ihrer Schwesterkirchen im Ausland. Sie brauchen das Gefühl, nicht vergessen zu werden. Sie brauchen fürbittende Gebete und auch in Deutschland Fürsprecher, die die eigene Regierung und die Parteien drängen, politisch und humanitär zu helfen, aber auch im Rahmen der Vereinten Nationen nach Friedenslösungen Ausschau zu halten.
Politische Neutralität
Das Forum für kirchliche Solidarität mit den syrischen Glaubensverwandten ist der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf. Dort trafen sich bereits im Dezember 2011 dreißig syrische Kirchenführer mit ökumenischen Vertretern, um über die Lage in ihrem Land zu beraten. Auf einer hochkarätigen Konferenz des ÖRK im September 2013 waren Kofi Annan, der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, und Lakhdar Brahimi, der gemeinsame Vertreter von UNO und Arabischer Liga für Syrien, anwesend und suchten nach friedlichen Lösungen.Die Entführung von zwei Bischöfen aus Aleppo am 22. April 2013 sorgte in der ganzen Ökumene, sogar bis ins politische Berlin, für Entsetzen, aber auch für anhaltende Zeichen der Solidarität.
Die politische Neutralität der syrischen Kirchenführer im Bürgerkrieg gibt den westlichen Schwesterkirchen den Rahmen für deren Stellungnahmen vor, auch der EKD. Deren Auslandsbischof Martin Schindehütte nimmt die Hauptzuständigkeit für die syrischen Schwesterkirchen wahr und zeigte dies in verschiedenen Stellungnahmen. Zwei Beispiele:
In der Flüchtlingsfrage folgte Schindehütte den Bitten aus Nahost, syrische Christen nicht zur Auswanderung zu ermuntern und die deutsche Regierung nicht aufzufordern, christliche Flüchtlinge aus Syrien bevorzugt aufzunehmen.
Bereits 2012, besonders aber nach den Giftgaseinsätzen bei Damaskus am 21. August 2013, sprach sich Schindehütte mit dem EKD-Friedensbeauftragten Renke Brahms und Militärbischof Martin Dutzmann sowie katholischen Kirchenrepräsentanten im Gleichklang mit syrischen Bischöfen gegen Luftangriffe zur Bestrafung Assads aus. Ihr einleuchtendes Argument: Eine Militärintervention würde das Blutvergießen nicht beenden und die Region weiter destabilisieren.
Die Vollversammlung des ÖRK im südkoreanischen Busan Anfang November 2013 hatte auch Syrien auf der Tagesordnung und befasste sich zudem mit den Christenverfolgungen insbesondere in islamischen Ländern.
Die kirchliche Publizistik
Anders als kirchliche Spitzenrepräsentanten in Deutschland müssen sich kirchliche Journalisten nicht an politische Neutralität im syrischen Bürgerkrieg halten. Einige Redakteure von landeskirchlichen Sonntagszeitungen positionierten sich nach den Giftgasattacken vom 21. August zur Frage einer möglichen Militärintervention. Gerd-Matthias Hoeffchen von der Evangelischen Zeitung Unsere Kirche lehnte einen US-Angriff auf militärische Stellungen Assads entschieden ab. "Alles würde schlimmer", meinte er. Andreas Roth von der sächsichen Kirchenzeitung Der Sonntag erwog das Für und Wider und kam über Ratlosigkeit kaum hinaus. Er forderte den Westen auf, Russland wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Doch ist das realistisch? Björn Schlüter von der Evangelischen Zeitung Niedersachsen hielt nichts von militärischen Überlegungen. Er plädierte für die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen in Deutschland.
Arnd Brummer, Chefredakteur des Monatsmagazins chrismon äußerte sich am 28. August 2013 in einem Internet-Video zum Thema: "Man kann nicht akzeptieren, dass ein Staatschef, ein Diktator Vernichtungswaffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzt. [...] Man muss wahrscheinlich auch militärisch etwas tun, wohl wissend, dass es nur die zweitschlechteste Lösung ist. Die schlechteste Lösung ist, gar nichts zu tun. Und wohl wissend, dass man die Verhältnisse in Syrien nicht verändern wird." Brummer hat mit diesen vagen Überlegungen zwei einfache Grundsätze ökumenischer Friedensethik gegen sich, das Erfordernis eines klar angebbaren politischen Friedensziels und plausible militärische Erfolgsaussichten.
Der Ratsvorsitzende
Die Stimme des EKD-Ratsvorsitzenden und Altpräses Nikolaus Schneider war bis zum Herbst 2013 in der Syrienfrage kaum vernehmbar. Anfang Oktober 2013 entschloss er sich erstmals zu einer kirchlichen Aktion, die von Anfang an auf möglichst große Öffentlichkeitswirkung angelegt war. Er registrierte, dass nach dem UN-Übereinkommen zur raschen Vernichtung der syrischen Chemiewaffen vom 27. September 2013 das Medieninteresse an der syrischen Tragödie schnell abnahm. Ihn beunruhigten insbesondere die vielen Flüchtlinge in den Nachbarländern, in der Türkei, im Libanon und in Jordanien.
Schneider nahm sich vor, die deutsche Bevölkerung für diese Flüchtlingsnot neu zu sensibilisieren und Spenden für die humanitäre Hilfe vor Ort einzuwerben. Daneben wollte er die Bundesregierung, wie andere Organisationen auch dazu bewegen, deutlich mehr als die bisher zugesagten fünftausend syrischen Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Er folgte dabei den Bitten bereits in Deutschland wohnender Syrer, Familienangehörige ohne die bisherigen hohen administrativen Hürden nachziehen zu lassen.
Diese Mobilisierung der Öffentlichkeit sollte durch eine gemeinsame Reise mit seinem katholischen Kollegen, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, zu syrischen Flüchtlingen in Jordanien erreicht werden. Da Zollitsch terminlich verhindert war, willigte sein Vertreter, Bischof Trelle (Hildesheim), in die ökumenische Reise ein. Sie fand vom 1. bis 3. Oktober 2013 statt und bewirkte schon vor Reiseantritt das erhoffte große Medienecho. Vor dem Abflug erklärten die beiden Kirchenvertreter, die allermeisten der rund sechs Millionen syrischen Flüchtlinge seien Frauen und Kinder. "Jetzt naht der Winter und viele Flüchtlinge leben außerhalb der Lager. Die Situation ist dramatisch. Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen, sondern müssen gerade jetzt vor dem Anbruch des Winters alles tun, um zu helfen und um eine weitere humanitäre Katastrophe in der Region abzuwenden."
Appellativer Charakter
Der EKD-Ratsvorsitzende war nach Gesprächen mit Flüchtlingen über deren furchtbare Schicksale und die tiefen seelischen Wunden bei Erwachsenen und Kindern schockiert. Die Begegnung mit dem massenhaften Elend schlug sich auch in elf Interviews während und nach der Reise nieder, in denen er die deutsche Bevölkerung wieder und wieder bat, ihre "Portemonnaies zu öffnen" und die Flüchtlinge in Deutschland willkommen zu heißen. Schneider brachte auch einen Solidarfond aus kirchlichen und öffentlichen Beiträgen ins Gespräch, aus dem zum Beispiel Krankheitskosten für nachziehende Flüchtlinge bezahlten werden können. Auch die politischen Fragen sprach Schneider wiederholt an. Im Interview mit den katholischen Münchner Kirchennachrichten sagte er unter anderem: "Der Grund der Flucht muss beendet werden. Und hier muss die internationale Gemeinschaft Druck ausüben, und zwar massiven Druck, damit die Kämpfe zu Ende kommen. Man kann damit anfangen, dass man die Waffenlieferungen stoppt."
Dieses politische Statement verzichtete wie schon bisher auf Schuldzuweisungen und Parteinahmen innerhalb der syrischen Machtkonflikte. Diese Zurückhaltung führt aber im Ergebnis zu sehr allgemeinen politischen Aussagen bloß appellativen Charkters. Die Erwartung des Ratsvorsitzenden an die internationale Gemeinschaft geht solange ins Leere, wie die politischen Antagonismen zwischen den verschiedenen internationalen Konfliktgegnern andauern und die lokalen Akteure nicht friedenswillig ist.
Auf der Synode
Eine Woche nach der Rückkehr der Kirchendelegation aus Jordanien begann die jährliche EKD-Synode, dieses Mal in Düsseldorf. Sie bot dem Ratsvorsitzenden eine weitere günstige Gelegenheit, in seinem Ratsbericht die syrische Flüchtlingstragödie ausführlich zur Sprache zu bringen und damit eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. In Kurzform lautete seine Botschaft an die Synodalen und viele Gäste: "Schaut auf die Not der Flüchtlinge, gerade angesichts des Winters, und verschließt Eure Herzen nicht. Helft im Nahen Osten und in Deutschland denen, die es jetzt wirklich brauchen." Daneben war ihm wichtig, auch die Flüchtlingsschicksale an den europäischen Außengrenzen anzusprechen. Lampedusa, eine kleine italienische Insel, sei zu einem Symbol des Todes für Flüchtlinge geworden, sagte Schneider.
Die EKD-Synode unterstützte die Anliegen des Ratsvorsitzenden und fasste einen eigenen "Beschluss zu syrischen Flüchtlingen". Die Bundesregierung solle mehr Notleidende als bisher aufnehmen; bürokratische Hürden für nachziehende Angehörige sollten gesenkt werden.
Die EKD, aber auch die meisten Landeskirchen, fühlen sich für die syrischen Kirchen und für die syrischen Flüchtlinge in Deutschland weiterhin mit verantwortlich. Das Töten und Sterben in den Kampfgebieten im Nahen Osten geht indes weiter. Das ethische Leitbild des gerechten Friedens wird in Syrien einer harten Belastungsprobe ausgesetzt. Taugt es, um hochkomplizierte und anhaltende Gewaltlagen angemessen zu verstehen? Vielleicht ist es zu sehr am Modell der zivilen Konfliktbearbeitung ausgerichtet, die manchmal greift, aber oft eben nicht. Mehrfach haben evangelische und katholische Theologen in den vergangenen Jahren den Afghanistan-Konflikt im Rahmen einer Theologie des Kreuzes interpretiert und dabei Gottes Solidarität in Jesus Christus mit geschundenen, leidenden, verfolgten Menschen weltweit gedeutet. In tiefster menschlicher Not ist Gott mit anwesend und trägt menschliches Leid mit. Auch auf Syrien ist diese kirchliche Sicht anwendbar und gerade dann, wenn ein gerechter Friede in weiter Ferne liegt.
Gerhard Arnold