Kalte Dusche hat geholfen
Es war eine kalte Dusche. Wir wussten zwar, dass wir nicht gut waren, aber wir hatten nicht erwartet, im Vergleich zu anderen Kommunen so schlecht zu sein", sagt Bosse Svensson, Sozialchef der Gemeinde Essunga. Im Sommer 2007 war in Schweden erstmals eine umfassende Rangordnung veröffentlicht worden, in welchem prozentualen Umfang an allen Grundschulen des Landes die Schülerinnen und Schüler am Ende der neunten Klasse die "Gymnasiebehörighet", die Zugangsberechtigung zum dreijährigen Gymnasium erworben hatten. Und die Grundschule von Essunga, die Nossebro-Schule, landete mit einer Quote von gerade einmal 76 Prozent landesweit auf dem vorletzten Platz. Drei Jahre später hatte sie es auf einen Platz unter den besten Drei geschafft und alle Neuntklässler konnten ins Gymnasium wechseln. Medien schrieben vom "Wunder von Nossebro" und eine Inspekteurin der Schulbehörde konstatierte, sie habe noch nie ein besseres Beispiel für eine erfolgreiche Veränderungsarbeit gesehen.
Nicht nur in Schweden weckte Essunga Aufmerksamkeit. Auf einer Konferenz der "European Agency for Development in Special Needs Education" im November 2013 in Göteborg war Nossebro eine der sechs als vorbildhaft präsentierten Schulen. Und schon Monate zuvor hatte eine Projektgruppe dieser Agentur, die "Organisation of Provision to Support Inclusive Education", Essunga besucht und anschließend im Internet einen Bericht über Nossebro veröffentlicht.
Radikaler Neubeginn
Inklusiver Unterricht sei der Dreh- und Angelpunkt der Veränderung an der Nossebro-Schule gewesen, sagt Bosse Svensson. Eigentlich habe man aber nur das konsequent umgesetzt, was die schwedische Schule - offizielles Motto: "Schule für alle" - sowieso sein wolle. Und was die UN-Behindertenrechtskonvention, der Stockholm 2007 beigetreten war, auch verlange. In Schweden, das keine föderale Struktur kennt, ist die jeweilige Kommune für ihre Schulen verantwortlich.
Und "Schule für alle" sah bis 2007 in Essunga so aus wie in vielen anderen Gemeinden. Gemeinsamer Unterricht für alle Schüler einer Klasse war eher die Ausnahme. Einzelne Schüler verschwanden regelmäßig zu speziellem Förderunterricht, in Mathematik und Englisch arbeitete man seit Jahren mit unterschiedlichen Niveaugruppen. 20 Prozent aller Schüler in den Jahrgängen 6 bis 9 waren in Lern- oder Fördergruppen untergebracht. Und obwohl diese individuelle Förderung viel Kraft kostete und personelle Ressourcen band, war das Resultat vernichtend: "Hausaufgaben, Niveaugruppen - das ergab wenig Effekt, wenn überhaupt irgendeinen", berichtet Rektorin Johanna Lundén.
Klar, es habe Erklärungen gegeben, warum beinahe jeder vierte Schüler die Ziele in den Kernfächern Schwedisch, Mathematik oder Englisch nicht erreichte: Ein weit über dem landesweiten Schnitt liegender Anteil von Schülern mit verschiedenen Diagnosen wie ADHS, Autismus und Sprachstörungen. Es gibt im Ort viele Kinder, die bei Pflegeeltern untergebracht sind und die oft einen belasteten familiären Hintergrund haben. Außerdem hat die Bevölkerung von Essunga traditionell ein geringes Ausbildungsniveau. Die Gemeinde gehörte in Schweden zu denen mit dem niedrigsten Anteil an Hochschulabsolventen.
Der radikale Neubeginn, zu dem sich Schulleitung und Kommune ab dem Schuljahr 2007/08 entschlossen: Ausnahmslos alle Schüler sollten zu einer "gewöhnlichen" Klasse gehören, auch Sonderschüler und autistische Kinder. Die unterschiedlichen Niveaugruppen wurden abgeschafft. Die frei werdenden Spezialpädagogen wurden als Doppelbemannung direkt in den Klassen eingesetzt. Brauchte ein Schüler zusätzliche Hilfe, sollte er sie in der Klasse erhalten und nicht mehr herausgenommen werden. "Wir haben nicht mehr die Schüler aus dem Klassenzimmer heraus-, sondern die Lehrer hineingeholt", sagt Lundén. Mit Hilfe des Personals, das nun nicht mehr mit individueller Betreuung außerhalb der Klassen beschäftigt war, kann seither, jedenfalls in den Kernfächern, Unterricht mit zwei Lehrern erfolgen: einem Fachlehrer und einem Spezialpädagogen. "Und der kann jetzt 25 Schülern helfen und nicht nur zweien", betont die Rektorin.
Langfristig Geld gespart
Diese Veränderung kostete kein zusätzliches Geld und brachte auch keine Veränderung in der Arbeitszeit der Lehrer. "Auf lange Sicht sparen wir sogar Geld", meint Lundén, weil die Lehrer durch die neue Arbeitsweise kompetenter würden. Ja, es habe Bedenken dagegen gegeben, zusätzlich einen Kollegen oder eine Kollegin in der Klasse zu haben. Viele Lehrer hätten sich kontrolliert gefühlt. Das habe sich aber grundlegend geändert. Wenn man sich nun jeden zweiten Mittwoch zusammensetze und darüber berate, welche Klassen und welche Lektionen in den kommenden zwei Wochen zusätzlich besetzt werden sollten, gebe es eher das Problem, dass die Nachfrage nach den zusätzlichen Kollegen nicht immer gedeckt werden könne. Prioritäten gelten grundsätzlich für sechste und neunte Klassen: Die Neunte, weil sie die Abschlussklasse ist, die Sechsten bekommen automatisch Zusatzlehrer in allen Kernfächern, damit die Schüler einen guten Oberstufenstart haben.
Ein Extralehrer bedeutet viel für die Klasse. Man habe immer jemanden, mit dem man reden kann, über das, was im Unterricht abgelaufen ist, sagen die Lehrer. Sie und die Schüler betonen übereinstimmend, dass es in den Klassen viel ruhiger und konzentrierter zugehe. Und eine kürzlich veröffentlichte Studie bekräftigt, dass es bei Schülern nun nicht mehr als "peinlich" gelte, wenn man extra Hilfe brauche. Individuelle Anpassungen sind Alltag für alle, nicht nur für jene, die spezielle Hilfe nutzen. Zweimal wöchentlich gibt es für alle Klassen eine "Aufgabenhilfe", an der alle teilnehmen können und die meisten tun das auch: gleich, ob sie Probleme haben, ein "Ausreichend" zu bekommen, oder ob sie sich von "Gut" auf "Sehr gut" verbessern möchten.
Zur Veränderungsarbeit gehörten auch neue Unterrichtsstrukturen. Jede Lektion ist gleich strukturiert. Einige Schüler bekommen zum Beginn jeder Lektion einen "Post-it"-Zettel, auf dem genau steht, was sie machen sollen. Für andere wird das an die Tafel geschrieben. Außerhalb der Schule liegende "Entschuldigungen" für einen Misserfolg der Schüler gelten nicht mehr. Wenn ein Schüler keine Fortschritte macht, werde das als Verantwortung der ganzen Schule angesehen, betont Lundén: "Sie allein hat Verantwortung für die Studienresultate jedes einzelnen Schülers.
Vision vermittelt
In den Klassen werde erklärt, was es konkret bedeute, wenn ein Schüler eine Diagnose hat. Wenn er will, darf der Schüler selbst erzählen, wie er das für sich erlebt. Es gebe nun ein großes Verständnis für Dyslexie oder Asperger, weil solche Diagnosen eben in nahezu jeder Klasse vorkommen. Alle Schüler empfänden nun eine höhere Zugehörigkeit zu ihrer Klasse. Niemand fühle sich mehr ins Abseits gestellt. Und Schulschwänzer gebe es nicht mehr.
Ein im vergangenen Jahr von der Hochschule Borås veröffentlichter Forschungsbericht bestätigt der Nossebro-Schule, sie habe mit dem Inklusionsprinzip als Eckstein erstaunliche Resultate erzielt. Elisabeth Persson, Mitverfasserin der Studie, nennt als ein Beispiel, was es bedeutet, wenn autistische Kinder jetzt in die gewöhnlichen Klassen gehen: "Lehrern wie Schülern wird klar, dass diese Kinder eben nicht dumm sind. Sie haben es nur oft schwer, das auszudrücken, was sie sagen wollen. Diese Einsicht hilft einen Wertegrund zu vermitteln, unsere natürliche Heterogenität zu betonen. Etwas, was in der Grundschule sonst häufig zum Scheitern verurteilt ist." Besonders sei aufgefallen, sagt Persson, dass "im Prinzip alle Schüler motiviert sind. Sie halten die Schule für wichtig und haben verstanden, wie bedeutend gute Resultate für sie sind." Nossebro habe es geschafft, Lehrern wie Schülern eine Vision und den Glauben an beider Fähigkeit zu vermitteln, gemeinsam ein Ziel erreichen zu können.
Wobei es nun aber nicht darum gehe, dieses Modell einfach zu übernehmen, meinen die Studienverfasser: Jede Schule müsse ihren eigenen Weg finden. Inklusion dürfe auch kein Selbstzweck sein. Entscheidend sei immer das Beste für das Kind. Fast immer sei dies aber inklusiver Unterricht. Was Nossebro auf jeden Fall beweise: Vollständige Inklusion und hohe Zielerfüllung seien vereinbar, und es müsse Schluss mit getrennten Kleingruppen sein.
In einem internationalen Vergleich liegen Schwedens Schulen bei der Inklusionsquote mit an der Spitze. Im Schuljahr 2012/13 besuchten laut offizieller Statistik nur 1,07 Prozent aller Grund- und 2,5 Prozent aller Gymnasialschüler eine "Särskola", Sonderschule oder -klasse. Keine offiziellen Zahlen gibt es aber darüber, wie viele Schüler in welchem Umfang zeitweise außerhalb der Regelklassen unterrichtet werden. Dass Nossebro aber längst noch nicht Schulalltag ist, machen Berichte der Schulinspektion klar. Obwohl im Schulgesetz und in der Grundschulverordnung das Inklusions-Prinzip seit den Achtzigerjahren verankert ist, bedarf es in der Praxis nur des allgemeinen Hinweises auf "pädagogische Probleme", wenn eine Schule davon abweichen will.
Deutliche Spuren
Neoliberale Schulexperimente der letzten eineinhalb Jahrzehnte, die, vor allem seit der Regierungsübernahme durch eine konservativ-liberale Regierung 2007, forciert wurden, hinterlassen allerdings deutliche Spuren. Im Schuljahr 2012/13 besuchten 13,3 Prozent der Grundschüler und 26 Prozent der Gymnasiasten private Bildungseinrichtungen. Diese Privatschulen werden in Schweden ausschließlich mit öffentlichen Geldern finanziert, gehören aber überwiegend gewinnorientierten Unternehmen. Vor allem in größeren Städten besteht zwischen diesen und den kommunalen Schulen eine massive Konkurrenz. Auf "problematische" Schüler, die zusätzliche Ressourcen beanspruchen und den Platz auf der nationalen Rankingliste der Lernresultate nach unten ziehen könnten, verzichten Privatschulen gern. Mehr noch: Diese werden unter Hinweis auf angeblich fehlende Kapazitäten oft von vorneherein regelrecht ausgesiebt.
"Vor allem Eltern mit finanziellen Ressourcen klagen über die Inklusion und schicken ihre Kinder auf Privatschulen", sagt Susan Tetler, Spezialpädagogikprofessorin an der Hochschule Malmö. Und ihr Kollege Ove Sernhede von der Universität Göteborg warnt vor einer Schule, in der wieder sortiert wird, die "zu Spaltung und Aussonderung führt und die deshalb negativ für die Entwicklung der Gesellschaft ist". "Für ihr erwachsenes Leben brauchen Kinder in hohem Maße die Erfahrung der Zusammenarbeit mit Menschen, die anders denken als sie", betont Tetler.
Die Botschaft scheint allmählich auch bei den Verantwortlichen in Stockholm angekommen zu sein. Ende 2013 kündigte die Regierung einen Kurswechsel an, der sicherlich auch mit der im Herbst 2014 anstehenden Parlamentswahl zu tun hat. Es soll eine schärfere Überwachung der Privatschulen, keine Lizenzen für Risikokapitalunternehmen und solche Betreiber mehr geben, die Schüler aufgrund von Diagnosen ablehnen. Und Kommunen mit Schulen, die einen hohen Anteil von Kindern mit nichtschwedischem Hintergrund und deshalb deutliche Mehrkosten für inklusiven Unterricht haben, sollen zusätzliche Finanzmittel erhalten.
Reinhard Wolff