Wer das Buch "Der Stille Raum geben" aufschlägt, findet eine Reihe von Bildern, die einen Eindruck von der alten Backsteinkirche und ihrem neuen, weiten Innenraum vermitteln, dazu Bilder von Leuten, die lauschen, singen, tanzen. Ein Bild fehlt: einzelne, die tagsüber zwischen 12 und 18 Uhr die offene Kirche aufsuchen. Dieser Freiraum ist das Herzstück der "Kirche der Stille", eine Oase zum Ausruhen, Trost und Ruhe finden in der Großstadt. "Mit Staunen nehme ich wahr, dass manche fast täglich kommen", schreibt Pastorin Irmgard Nauck, Initiatorin der "Kirche der Stille" in Hamburg-Altona.
Gemeinsam mit ihrer Pfarrerskollegin Anne Gideon legt sie mit dem Buch einen Werkstattbericht vor, der in überwiegend nüchternem, einfachem Stil die Entstehung der "Kirche der Stille" im Kirchenkreis Hamburg-Ost beschreibt - von der Ausgangssituation, der Schrumpfung der Stadtgemeinden, zur Idee, einen Ort der Stille zu schaffen, bis zur heutigen Kirche und ihrem vielfältigen Angebot. Inzwischen ist das anfängliche Experiment aus dem Projektstadium heraus, der Untertitel verrät es: "Ein Weg der Kirche im 21. Jahrhundert". Zur Nachahmung ausdrücklich empfohlen, ohne das Ansinnen, anderes zu verdrängen: nicht der Weg, sondern ein Weg.
Einige Kapitel bieten ein Handbuch zum Kirchenumbau. Sie erklären, wie es geht, welche Erwägungen im Vorhinein zu beachten sind, wie Abschied gestaltet wird, etwa das Heraustragen der Kirchenbänke und des Altars und ihre Übergabe an eine Schule und andere Institutionen. Und worauf beim Neuanfang zu achten ist: Grundlegende bauliche Entscheidungen sind zu treffen, zum Beispiel wurde eine Fußboden- und Wandheizung und ein zentraler Leuchter mit Wärmestrahlern eingebaut. Die Planer beschlossen, Feng-Shui-Prinzipien einzubeziehen, was zu Irritationen und Anfragen von außen führte. Die umgebaute Kirche zieht vor allem Menschen an, die ein distanziertes oder gebrochenes Verhältnis zur Kirche haben oder Leute, denen das übliche Gemeindeangebot nicht reicht. Ihnen bietet diese andere Kirche ohne Altar, nur mit einem zusammengebundenen Kreuz aus Strandgut und einer einzelnen Ikone, ein Stück Geborgenheit.
In einem zentralen Kapitel erklären die beiden Pfarrerinnen die Grundlagen der Meditation für Anfänger. Die Leser erfahren, worauf man beim Sitzen achten sollte und wie man mit innerer Unruhe, belastenden Gedanken und Störungen umgehen kann. Wiederum legen sie Wert auf eine leicht nachvollziehbare, anschauliche Darstellung ohne Versprechen und mit sparsam eingefügten theologischen Erklärungen. An einigen Stellen bricht das Gefühl von Neuaufbruch und Wagnis durch, so bei der Beschreibung des interreligiösen Gottesdienstes oder bei der Darstellung der verschiedenen Wege in die Stille - von Christen, Buddhisten oder Sufis -, die hier wertgeschätzt und gelehrt werden.
In kleinen Porträts nähern sich die Autorinnen behutsam und ohne Namen zu nennen einzelnen Menschen, die in die Kirche kommen oder mit ihr beruflich zu tun haben. Die Porträts heißen: "Der Propst", "einst streng katholisch", "die Fragende", "der Sufi" oder "die Suchende". Den Porträtierten ist das Tastende, Suchende, Unfertige, das Experimentieren und Ausprobieren anzumerken und die Erleichterung darüber, dass es erlaubt ist. Nicht mal Propst und Pfarrerskollege haben eine abgeschlossene Meinung zu diesem neuen Zweig evangelischer Kirche. Im Schlusskapitel erfahren die Leser in Ansätzen, welche Wege die Gründerin selbst durchlaufen hat, bis sie, begleitet von einigen Mitstreiterinnen, den Umbau wagte. Alles in allem eine ermutigende Darstellung von kirchlicher Perestrojka, der andere zum Mitmachen und zur Auseinandersetzung herausfordert.
Irmgard Nauck/Anne Gideon: Der Stille Raum geben. Ein Weg der Kirche ins 21. Jahrhundert. Kreuz Verlag, Freiburg 2012, 171 Seiten, Euro 14,99.
Hedwig Gafga
Hedwig Gafga
Hedwig Gafga ist freie Journalistin und lebt in Hamburg.