Bitternis

Ein Jude auf der Suche
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Wenn Tenenborn den Schutzschild aus Humor und Ironie ablegt, wenn er das Fazit seiner Entdeckungsreise in und durch Deutschland zieht und dabei Klartext redet, dann wird es bitter.

Von einem, der auszog, herauszufinden, was es heißt, ein Deutscher zu sein, stammt dieser Erlebnisbericht: Tuvia Tenenbom, in New York lebender jüdisch-amerikanischer Journalist mit deutschen Wurzeln, macht sich im Sommer 2010 auf, um im Land seiner von den Nationalsozialisten im Holocaust umgebrachten Vorfahren auf Spurensuche zu gehen. Ohne Plan, aber nicht planlos.

Er sucht Begegnungen mit Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, besucht ehemalige Konzentrationslager, politische Demonstrationen, den evangelisch-katholischen Münchner Kirchentag, Luxushotels, eine Moschee, Obdachlose und Politiker wie den Altkanzler Helmut Schmidt, der für ihn zum "Rabbi Schmidt" wird. Immer auf der Suche nach Antworten auf seine Fragen im Bemühen, herauszufinden, was die Mentalität der Deutschen ausmacht - und wie sie es mit den Juden halten und mit dem Staat Israel. Tuvia Tenenborn erzählt von diesen Gesprächen und Begegnungen mit Humor, aber auch voller Sarkasmus, Ironie und Zynismus - gewissermaßen ein Schutzschild für jemanden, der seine Bitterkeit tarnen will, dem die Deutschen offenbar meist als ständig biertrinkende, geschichtsvergessene tumbe Toren begegnen. Wenn er den Schutzschild aus Humor und Ironie ablegt, wenn er das Fazit seiner Entdeckungsreise in und durch Deutschland zieht und dabei Klartext redet, dann wird es bitter. Bitter für die Leser, die wohl selten mit solcher Klarheit darauf gestoßen worden sind, wie heftig die in der Vergangenheit geschlagenen Wunden bei Angehörigen der Opfer noch bluten, dass Vergessen und Verdrängen kein tauglicher Weg sind, diese Vergangenheit zu "bewältigen". Tenenboms Urteil über das Deutschland, das er wohl gefunden zu haben meint, ist von unerwarteter Schroffheit und Eindeutigkeit. Da sind seiner Meinung nach Friedensbewegte, die mit zwei Fingern das Friedenszeichen machen; ihre Herzen aber singen "Sieg Heil". Er bekennt freimütig: "Ich kann die Deutschen nicht lieben", und berichtet von der "Kölner Klagemauer" vor dem Dom, seit vielen Jahren schon als Dauerausstellung von Deutschen unterhalten, die den Frieden wollten, denen aber der jüdische Staat Israel im Wege steht. Israel, machten diese Friedensbewegten mit ihrer "Klagemauer" deutlich, verübe Massaker, Landraub und ethnische Säuberungen.

Man spürt die Bitternis des Autors, wenn er beklagt, dass fast jeder, dem er auf seiner Deutschlandreise begegnete, gegen Israel gewesen sei. Mit nur einer Ausnahme seien alle Deutschen antijüdisch eingestellt gewesen. Nachdem ihm ein "Haufen Lügen" vorgesetzt worden ist, steht sein Urteil fest: Deutschland ist immer noch antisemitisch. Schlimmer noch: Die Deutschen sind antisemitisch und rassistisch bis ins Mark, gleichzeitig aber selbstgerecht wie kein zweites Volk.

Immerhin stellt sich Tenenbom nach einer Begegnung mit "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann in seinem beklemmenden Erlebnisbericht selbst die Frage, ob er bislang einfach Pech gehabt und die "falschen" Deutschen kennengelernt hat. Ein wenig Hoffnung bleibt. Auch Tuvia Tenenbom selbst hat alle Hoffnung wohl noch nicht aufgegeben. Denn ihm ist zum Weinen zumute, als er Deutschland hinter sich lässt. Sein Erlebnisbericht ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, denen das Verhältnis von Deutschen und Israelis, von Juden und Christen am Herzen liegt. Von denen hat Tenenbom auf seiner Reise zu wenige getroffen.

Tuvia Tenenbom: Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise. Surkamp Verlag, Berlin 2012,

431 Seiten, Euro 16,99.

Manfred Gärtner

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