Umsteuern und neu ausrichten
Europa kann nicht akzeptieren, dass viele tausend Menschen an seinen Grenzen umkommen", erklärte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am 9. Oktober auf der Insel Lampedusa. Allein: Die politisch Verantwortlichen in Europa tun es. Sie akzeptieren das Sterben im Mittelmeer, seit mehr als 25 Jahren. 20 000 Männer, Frauen und Kinder sind seit 1988 an den immer besser gesicherten Grenzen Europas ertrunken, verdurstet, erfroren. Und das sind nur die, die bekannt geworden sind, die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Das einstige Mare nostrum ist zum größten Massengrab des Kontinents geworden. Das hätte Europa in der Tat niemals akzeptieren dürfen. Papst Franziskus nennt es zutreffend eine "Schande für Europa".
Schändlich ist auch, dass die Flüchtlinge, die es bis nach Italien, Malta oder Griechenland geschafft haben, unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen, oft obdachlos gemacht, in manchen EU-Staaten systematisch inhaftiert und immer wieder misshandelt werden. Auch das akzeptiert Europa bis heute. Und anderes mehr: dass Menschen kriminalisiert werden, weil sie Flüchtlinge aus Seenot retten, oder dass Flüchtlinge wider europäisches Recht aufs offene Meer zurückgeschoben werden.
Überwachung verstärkt
Ein aktueller Bericht der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl über solche Push-Back-Operationen in Griechenland macht deutlich, dass das nicht nur auf offener See passiert, sondern Push-Backs auch vom europäischen Festland aus durchgeführt werden. Und das nicht etwa nur in Einzelfällen, sondern systematisch.
Wenn die europäischen Regierungen jetzt - nach Lampedusa - das Massensterben an den Grenzen und die Menschenrechtsverletzungen auf europäischem Boden wirklich nicht mehr hinnehmen wollen, müssen sie die europäische Flüchtlingspolitik komplett umsteuern und konsequent an den Menschenrechten ausrichten. Das ist bis heute aber leider nicht in Sicht.
Beim EU-Gipfel am 24. und 25. Oktober zeigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs zwar betroffen. Von "tiefer Trauer" war in der Abschlusserklärung des Gipfels die Rede. Die Konsequenz allerdings, die der Europäische Rat aus der letzten Katastrophe vor Lampedusa und seiner Trauer zog, hieß nicht etwa: Schluss mit Abschreckung und Abschottung, sondern im Gegenteil: Mehr davon! Die europäische Grenzschutzagentur Frontex soll weiter aufgerüstet, die Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten intensiviert und der Kampf gegen "Schleusung und Menschenhandel" verstärkt werden.
Konkret bedeutet das: Mit dem neuen Grenzüberwachungssystem Eurosur bekommt die seit 2004 kontinuierlich mit mehr Kompetenzen und Einsatzgeräten ausgestattete europäische Grenzschutzagentur Frontex weitere Instrumente. Überwachungsstationen an den Küsten, hochauflösende Kameras, Drohnen, Satellitensysteme und Offshore-Sensoren sollen Frontex in Stand setzen, Flüchtlingsbewegungen noch früher als bisher zu erkennen. Mit diesem vermutlich über eine Milliarde Euro teuren Projekt sollen Flüchtlingsboote möglichst schon beim Ablegen von den südlichen Mittelmeerhäfen identifiziert und abgefangen werden. De facto wird es dazu führen, dass die Fluchtrouten noch länger und gefährlicher werden. Die weitere Abschottung der Außengrenzen durch Eurosur und Frontex wird weder das Sterben von Schutzsuchenden auf der Flucht nach Europa verhindern noch die Aktivitäten von Schleusern unterbinden.
Abschottungslogik ungebrochen
Besorgniserregend klingt das Vorhaben der EU, mit den Transitstaaten intensiver zu kooperieren. Sollen im Ernst nordafrikanische Staaten wie Libyen und Ägypten trotz ihrer politisch instabilen Lage, der äußerst problematischen Menschenrechtssituation und der fortgesetzten Missachtung von Flüchtlingsrechten verstärkt dazu angehalten werden, Schutzsuchende von der Flucht nach Europa abzuhalten? Der Untergang eines Flüchtlingsschiffs vor Lampedusa am 11. Oktober wurde Berichten zufolge dadurch verursacht, dass libysche Sicherheitskräfte das Schiff beschossen hatten, um es aufzuhalten. Das ist nur ein Beispiel für Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen, die von Transitstaaten im Rahmen ihrer Kooperation mit der EU begangen werden. Die Schüsse auf das Flüchtlingsboot am 11. Oktober dürften Ausfluss einer am 3. April 2012 zwischen Italien und Libyen geschlossenen Vereinbarung sein. Darin hat sich Libyen verpflichtet, die eigenen Grenzen besser zu kontrollieren. Im Gegenzug liefert Italien das nötige Material zur Grenzüberwachung. Soll das nun gängige Praxis werden?
Geradezu bizarr mutet die geplante "Kooperation mit Herkunftsstaaten" an, wenn man bedenkt, dass ein großer Teil der nach Europa kommenden Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea oder Somalia stammt. Möchte die Europäische Union wirklich mit dem syrischen Assad-Regime, dem eritreischen Diktator Isayas Afewerki oder somalischen Warlords in Verhandlungen treten?
Die Abschottungslogik scheint ungebrochen, auch nach Lampedusa. Eine bemerkenswerte Veränderung ist allerdings auszumachen. Die Flüchtlings- und Migrationspolitik der EU zielt mittlerweile nicht mehr darauf ab, dass möglichst wenige Menschen nach Europa kommen, sondern darauf, dass nur die vermeintlich Richtigen und Nützlichen kommen. Die anderen, Flüchtlinge und andere vermeintlich Unnütze, sollen hingegen bleiben, wo sie sind, oder wieder dahin verschwinden oder abgeschoben werden. Es geht nicht mehr nur um Abschottung. Es geht um Selektion.
Smart Borders
Auch dafür hat sich die Europäische Kommission ein neues Werkzeug ausgedacht, das am 28. Februar dieses Jahres präsentiert wurde. Mit "Smart Borders" - intelligenten Grenzen - möchte man künftig die wirtschaftlich erwünschte Migration von der unerwünschten noch effizienter unterscheiden. Und so soll es funktionieren: Touristen, Geschäftsleute, Studierende oder Menschen mit engen Verwandten in der EU wird eine erleichterte Einreise per Chipkarte über automatisierte Gates ermöglicht. Auf der anderen Seite sollen mit Hilfe eines "Entry-Exit-Systems" (ees) so genannte Overstayers aufspürbar werden. Das sind Menschen, die nach Ablauf ihres Visums im Land geblieben sind, eine im Vergleich zu den Bootsflüchtlingen übrigens wesentlich größere Gruppe unter den so genannten irregulären Migranten. In Zukunft sollen alle Nicht-EU-Bürger bei der Einreise ihre Fingerabdrücke abgeben, die dann samt Zeitpunkt und Ort der Ein- und Ausreise in einem automatischen System gespeichert werden, auf das auch die Polizei Zugriff bekommen soll. Darüber hinaus soll das System einen automatischen Warnhinweis an die Behörden generieren, wenn jemand seine Aufenthaltsdauer überzieht. Das Ziel ist klar: Grenzen sollen vor allem für die wirtschaftlich erwünschte Migration offen bleiben, für Flüchtlinge aus Krisengebieten hingegen so gut wie unüberwindbar werden. "Smart Borders" wäre eine nahezu perfekte "Sortiermaschine" (Steffen Mau), um die globale Spaltung der Migration weiter voranzutreiben.
Demselben Ziel dient die derzeitige Visapolitik im Schengen-Raum. Im Blick auf die Hauptherkunftsländer potenzieller Asylbewerber und Migranten ist sie äußerst restriktiv. Die Zeiten, als Visabefreiungen noch Teil der Außenpolitik westlicher Staaten waren, um zur Entwicklung ärmerer Länder beizutragen und gute Beziehungen zu pflegen, sind vorbei. Heute werden in der Regel nur noch Länder vom Visumszwang befreit, die den befreienden Ländern wirtschaftlich oder politisch nahe stehen. Jeder einzelne Antragsteller muss hohe, oft unüberwindbare Hürden nehmen, ausreichende finanzielle Mittel und familiäre Bindungen nachweisen und vor allem seine Rückkehrbereitschaft plausibel machen. Einem Flüchtling aus Syrien dürfte das zurzeit wohl kaum gelingen.
Die Visapolitik der Schengen-Staaten ist aber keineswegs durchweg restriktiv, wie kürzlich in der Zeitschrift Capital nachzulesen war. In Lettland etwa kann man ein Schengen-Visum einfach kaufen. Wer dort 70 000 Euro in eine Immobilie investiert, erhält umgehend eine Aufenthaltserlaubnis und ist damit drin. Nicht nur in Lettland, in der EU. Schengen-Visum gegen Geld. Griechenland, Irland, Ungarn, Portugal und Spanien haben das neue Geschäftsmodell bereits übernommen.
Freizügigkeit weiter denken
Die zunehmende Spaltung der Migration und die Ökonomisierung der europäischen Migrationspolitik straft die oft hochtrabende Menschenrechtsrhetorik der Europäischen Union Lügen. Wer - wie Kommissionspräsident Barroso - nicht akzeptieren will, dass viele tausend Menschen an den Grenzen Europas umkommen, darf die Menschenrechte nicht nur in Präambeln schreiben, faktisch aber Mobilitätsrechte fast ausschließlich nach Nützlichkeitskriterien verteilen. Eine an den Menschenrechten orientierte Migrations- und Flüchtlingspolitik müsste ganz anders aussehen. Sie müsste von einem umfassenden Recht auf Mobilität ausgehen und könnte sich dabei gut an der UN-Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehörigen orientieren. In letzter Konsequenz hieße das, neben dem Recht auf Auswanderung auch ein Recht auf Einwanderung zu realisieren.
Utopisch? Unrealistisch? Utopisch ist das sicherlich, unrealistisch aber nicht, wie das Beispiel der Europäischen Union zeigt, die mit dem Recht auf Freizügigkeit beide Rechte, das auf Aus- und das auf Einwanderung, garantiert. Darum also ginge es: Das Recht auf Freizügigkeit weiter zu denken, auch über die Grenze Europas hinaus.
Und käme dann die ganze Welt zu uns? "Es ist eine totale eurozentristische Überschätzung, dass alle Migrationsbewegungen der Welt nach Europa führen", meint die Migrationsforscherin Sabine Hess in der Süddeutschen Zeitung. Vielleicht leben und denken wir nach so vielen Horrorszenarien mit angeblichen Flüchtlingsströmen und neuen Völkerwanderungen ja auch in einer Art Matrix, die wir zuerst mal verlassen müssten, um überhaupt klar denken und handlungsfähig werden zu können.
Natürlich ist Freizügigkeit im Blick auf die extrem ungleichen Entwicklungen in der Weltgesellschaft kein einfaches und umgehend erreichbares Ziel. Allerdings sollte sie - angesichts der Partizipation aller Menschen am "gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche der Erde" (Kant) - der Horizont und die regulative Idee der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik werden. Vor diesem Horizont müsste eine erste Vermittlung zwischen souveränen nationalen Selbstbestimmungsrechten und der Realisierung von Menschenrechten vielleicht nicht gleich zu einer offenen, wohl aber zu einer durchlässigen europäischen Grenze führen. Das wäre der jetzt notwendige erste Schritt in Richtung einer Weltgesellschaft, deren Verfassung der Menschenrechtskanon ist.
Seenotrettungssystem aufbauen
Konkret hieße das, mit der Visumspflicht anzufangen, die der ehemalige Bundesinnenminister Manfred Kanther als "schärfstes Schwert des Ausländerrechtes" bezeichnet hat. In der Tat ist es vor allem die in den vergangenen dreißig Jahren im Blick auf bestimmte Weltgegenden und Herkunftsländer immer restriktiver gewordene Visa(nicht)erteilungspraxis, die für das tausendfache Sterben vor den Toren Europas verantwortlich ist. Jetzt gilt es, aus dem Schwert eine Pflugschar zu machen und durch eine großzügige Liberalisierung der Visa-Praxis gefahrenfreie Wege für Flüchtlinge nach Europa zu eröffnen. Hinzukommen müssten umfassende Programme zur Flüchtlingsaufnahme.
Die fortwährenden Zurückweisungen von Flüchtlingen an den Grenzen Europas müssten umgehend eingestellt und ein wirklich funktionierendes Seenotrettungssystem aufgebaut werden. Die Grenzschutzagentur Frontex ist dafür jedenfalls der falsche Akteur. Gerettete Schutzsuchende müssten in einen sicheren europäischen Hafen gebracht werden.
Nicht zuletzt braucht Europa eine solidarische Aufnahmeregelung, die die Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt stellt.
Wenn auch nach Lampedusa und angesichts von mehr als zwei Millionen syrischer Flüchtlinge nichts davon geschieht, muss man sich ernsthaft fragen: Haben die "Freiheit", die "Sicherheit" und das "Recht", denen die Europäische Union einmal Raum geben wollte, womöglich einfach nur einen Preis? Oder gibt es die europäische Wertegemeinschaft tatsächlich? Ausgemacht ist das noch nicht.
Andreas Lipsch