Gott ist der Fremde
Eine kritische wissenschaftliche Auslegung ist die Basis für jede Bibellektüre. Es ist gut zu wissen, was historisch, soziologisch, kulturell der Hintergrund der Geschichten und ihre historische Einordnung sind. Welches die Autoren und ihre Interessen waren und welchen Impuls diese Geschichten auch hatten und haben sollten.
Doch als nahes und gelebtes Buch, dessen Geschichten einen im Alltag begleiten, gibt es eine Unmittelbarkeit, die einen aufmerken lässt und verblüfft, gerade, wenn man mit Flüchtlingen zu tun hat, Kirchenasylarbeit macht oder menschenrechtliche Advocacyarbeit in Deutschland betreibt.
Die Bibel erweist sich als sperrig, wenn es darum geht, nationale Interessen zu rechtfertigen, den eigenen bürgerlichen Wohlstand zu heiligen oder gar das eigene Vorankommen als Segen Gottes auszulegen. Sie liegt quer zu aller Rechthaberei - egal von welcher Seite.
Die Bibel ist ein Buch der Migranten und Flüchtlinge, vielmehr als eines derer, die eine Heimat finden. Sie bleibt mit den Heimatsuchenden eher auf dem Weg als die Angekommenen in ihrer nationalen Begrenztheit zu rechtfertigen.
Abraham und Sarah
In Rudolf Ottos Buch "Das Heilige "ist die Begegnung mit dem Heiligen religionssoziologisch und psychologisch aufgefächert: Ein großes Erschrecken, ein Tremendum überkommt den Menschen, der eine Begegnung, eine Epiphanie hat: Er ist erschrocken und angezogen zugleich (Fascinosum) - kaum in der Lage zu handeln. Und es sind dann die Worte des Göttlichen selbst - Gottes selbst oder aber seiner Botschafter, der Engel, die diesen Zustand durchbrechen: "Fürchte dich nicht!" lautet die erste Anweisung. Sieht man diese Beschreibung, so fällt auf, dass diese Epiphanien das ganz Andere sind, das total Fremde, das nicht einzuordnende selbst.
Der Alttestamentler Frank Crüsemann bringt es auf den Punkt: "Gott als Fremder", nur so lässt sich darüber reden. Gott kommt selbst als Fremder dem Abraham nahe (1. Mose 11-25), es sind drei Gäste, die ihn aufsuchen (1. Mose 12). Sie sind es, die die Verheißung bringen. Er nimmt sie auf, bereitet ein Festmahl und wird dann beschenkt. Obwohl Sarah es nicht fassen kann, dass sie es sein wird, die einen Sohn noch in ihrem Alter gebären wird, ist dies das besondere Gastgeschenk.
Abraham und Sarah brechen auf, allein mit einer Verheißung im Herzen - und migrieren, verlassen den heimatlichen Ort und suchen nach dem gelobten Land. Auf ihrem Weg tun sie das, was Migrantinnen und Migranten bis heute manchmal aus Angst tun, sie täuschen über ihre Identität (Genesis 20). Abraham gibt Sarah als seine Schwester aus, statt sie richtigerweise als seine Ehefrau dem Pharao vorzustellen. Etwas, das in manchen Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ein vertrautes Phänomen ist. Hier sind es drei tausend Jahre alte Geschichten, die immer wieder ihre Aktualität gewinnen.
Joseph wird von seinen Brüdern versklavt und verkauft. Später werden seine Brüder zu den ersten "Wirtschaftsflüchtlingen", denn der Hunger treibt sie in ein anderes Land, um dort für ihre Familien zu sorgen (1. Mose 37-50). Gott tritt Mose entgegen, der einen politischen Mord begangen hat und ins Land Midian flüchtete (2. Mose, 2, 11-22), er erscheint als brennender Dornbusch (2. Mose 3,6) und verheißt die Freiheit von der Sklaverei. Er wandert mit, ist da und zieht mit seinem Volk - ein wandernder Gott. Gott zieht mit als erziehender und leitender, maßregelnder und Maß-schenkender Gott in der Zeit der Wanderung durch die Wüste - eine vierzig Jahre währende Migrationsgeschichte.
Gott ist der Fremde, und er schützt die Fremden in vielen Gesetzestexten. "Mein Vater war ein herumirrender Aramäer" lautet das älteste Glaubensbekenntnis (5. Mose, 26,5). Wandernd, migrierend ist der Mensch - ein homo migrans. In all den Geboten wird darauf verwiesen, dass jeder sich dieser Wanderung, dieser Herkunft, bewusst zu sein hat und der Befreiungstat Gottes aus der Sklaverei, die in einer langen Wanderung mündete.
Weltbürger Paulus
Den "Angekommen" und "sesshaft Geworden" treten die Propheten gegenüber, die immer wieder den Spiegel allen vor Augen halten, die dies vergessen. Gerechtigkeit, Schalom, soll herrschen. Frieden, der alles und alle umfasst, der die Schwachen schützt. Sie erheben ihre Stimme und müssen immer wieder selbst fliehen, denn sie werden verfolgt -, und doch werden ihre Sätze geachtet, niedergeschrieben, zusammengetragen und gehütet.
Auch im Neuen Testament steht eine Fluchtgeschichte zu Beginn - die Flucht vor Herodes mit dem neugeborenen Kind. Die koptische Kirche gründet sich auf diesen Mythos. Maria und Joseph fliehen mit dem Kind. Dieses Kind kommt schon unbehaust in einem besetzten Land zur Welt. An einem fremden ungastlichen Ort, da die Besatzungsmacht zur Einnahme der Steuern überprüfen will, wieviele Einwohner eigentlich das Land so hat.
Jesus verweist immer wieder darauf, dass er nicht nur für die gekommen ist, die eigentlich sein Volk sind, sondern darüber hinaus sich das Heil Gottes an alle ansagt (Markus 7,24-30). In diese Überwindung der eigenen Grenzen hinein bewegt sich Paulus, ein erster Weltbürger mit römischem Pass, jüdischer Bildung und Herkunft und die Enden der damaligen Welt aufsuchend, um die Botschaft weiterzusagen. Er bildete Gemeinden, die interkulturell waren, Schranken überwanden und Sklaven, Freie, Griechen, Juden, Männer und Frauen umfassten.
Viele dieser biblischen Geschichten lassen sich mit wissenschaftlichen, strukturellen Untersuchungen, soziologischen und historischen Kenntnissen unterfüttern, aufbereiten, analysieren.
Doch im kreativen Umgang mit dieser Tradition, mit Migrantinnen und Migranten, ob regulär oder irregulär, ob Flüchtling oder auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und die Seinen, erhalten diese Bibelgeschichten einen neuen und unerhörten Klang.
Kraft, die Unruhe stiftet
So wie in der Tradition der "Abolition Movement", der Befreiungsbewegung aus der Sklaverei in den usa oder auch Europa, gibt die biblische Tradition denen Recht, die sich unmittelbar auf sie berufen können. Die sich in ihr erkennen, die plötzlich die drei Gäste bei Abraham entdecken oder mit ihm ihre Herkunft verschweigen, weil sie Angst um sich und ihre Lieben haben. Sie geben denen Recht, die fremd sind und Schutz fordern. Sie geben den Müttern Recht, die trauern, weil ihre Kinder sang- und klanglos vor den europäischen Badestränden ertrinken. Die Nicht-Angekommenen sind die, die die Bibel neu hören und anders verstehen - nicht als Ruhekissen, sondern als Wanderstab, nicht als Decke für ein unruhiges Gemüt, sondern als Kraft, die Unruhe stiftet und sich nicht zufrieden gibt mit einer Welt, die angeblich schon immer so eingeteilt war und ist und bleiben wird.
Viele Bilder gehen durch meinen Kopf, sie sind gelebte Bibelgeschichten, und wir sind irgendwie mit eingewoben. Ein Beispiel: H. ist Kurdin und kam mit ihrem Mann als verheiratete Frau aus der Türkei nach Deutschland. Sie war als Zwölfjährige bereits verheiratet worden. Weil das viel zu früh war, konnte sie keine Kinder mehr bekommen.
Die Erniedrigung als unfruchtbare Frau zehrt an ihr. Sie muss viel arbeiten im Geschäft ihres Mannes. Als Analphabetin kann sie nicht verstehen, was sie alles unterschreiben soll. Da sie geschlagen wird, macht sie, was er ihr sagt. Ihre Welt bricht zusammen, da ihr Mann sie mit in Straftaten, in Betrügereien hineingezogen hat. Abgeschoben flieht sie vor ihrem Mann, der wieder geheiratet hat, weil er als Mann auch mehrere Frauen haben darf. Sie lässt sich scheiden und muss wieder flüchten, da sie MorDDRohungen erhält.
Sie flieht über Deutschland zu einer Schwester nach Belgien. Aber dort wird sie als Frau weiter durch den Schwager unterdrückt, schläft jahrelang auf dem Küchenfußboden, und schafft es kaum, rechtlichen Beistand für ihren Asylantrag zu bekommen.
Die jüngeren Geschwister wenden sich mit einem Brief an mich. Aber ich weiß keine Hilfe, denn es ist aussichtslos. Sie bitten und betteln wie die bittende Witwe (Lukas 18,1-8 ). Ich fühle mich wie dieser Richter und lass sie irgendwann kommen, um mir ein Bild zu machen. Sie wird aufgenommen von "Brot und Rosen", einer diakonischen Basisgemeinschaft.
Wer ist der Esel?
Einen Tag nach der Aufnahme von H. besuche ich sie, und die Frau, die mich beim ersten Mal kaum ansehen konnte, fliegt mir um den Hals und dankt: Das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein eigenes Zimmer hat und ein eigenes Bett nur für sich. Ich bin beschämt. Wir nehmen uns Zeit, erfragen ihre Geschichte, besorgen ihr psychologische Hilfe, lassen Gutachten anfertigen. Ihre Geschichte erschüttert uns, und wir fangen an zu kämpfen. Im Kirchenasyl stellen wir einen Asylantrag. Und dann das Wunder, nach vielen Monaten: Der Richter entscheidet: H. darf bleiben.
Oft arbeite ich in Gruppen in der Flüchtlingsarbeit, mit der Geschichte des Barmherzigen Samariters (Lukas 10,25-37). Nicht nur, weil der Samariter der Fremde damals war, der den Einheimischen den Not wendenden und damit notwendigen Umgang mit Leid selbstverständlich vormacht, sondern weil er den Kranken erst einmal versorgt und dann auf den Esel packt, um ihn in fachliche Hände zu übergeben. Es ist ein professioneller Umgang: Er schleppt den Verletzten nicht selbst auf den eigenen Schultern, sondern legt ihn auf einen Esel. Die Frage, wer ich sein möchte, der Samaritaner oder der Esel ist eine entscheidende - denn sehr leicht kann das in der realen Flüchtlingsarbeit passieren. Die Traumatisierungen des Gegenüber stecken einen an, treiben einen um, legen sich auf die eigenen Schultern.
Heilsam und Heilung, heilig und Heiligung, liegen nahe beieinander, das braucht es, um einen Halt zu haben, um eine Haltung zu finden in unserer Zeit. Für die, die mit Migrantinnen und Migranten, mit Flüchtlingen, mit Menschen mit oder ohne Papieren leben, arbeiten, feiern und für sie einstehen, ist dies ein wichtiges Unterfangen. Es gilt, nicht den Mut zu verlieren und sich immer wieder anstecken zu lassen von den Geschichten der Bibel. Nicht zynisch zu werden angesichts eines oftmals strukturellen Ablehnungsapparats in Deutschlands, nicht bitter zu werden angesichts der vielen Beispiele von offenem Rassismus. Nicht müde zu werden und auszubrennen angesichts des Leids.
Erfolgreiche Kirchenasyle
Denn Kirchenasyle haben Erfolg. Sie haben die Gesetzgebung beeinflusst und die Härtefallregelung im Zuwanderungsgesetz mit erwirkt. Über siebzig Prozent derjenigen, die im Kirchenasyl lebten, konnten später bleiben. Aber wir haben angesichts der nächsten Menschen, die um Schutz nachsuchen, kaum eine Chance, das Danken und den Lobpreis laut zu lernen. Viel zu oft kommt die nächste ernüchternde Geschichte, von Menschen, die um Hilfe suchen.
Denn anders als in internationalen Schutzabkommen vereinbart, bleiben bei uns die besonders verwundbaren Personen ohne Hilfe, alleinstehende Frauen, Schwangere, Behinderte, Traumatisierte und Jugendliche ohne Begleitung. Sie werden oft nicht vor ihren Asylverfahren in ihrer Bedürftigkeit identifiziert und mit einer besonderen, vor allem rechtlichen Begleitung ausgestattet, sondern in ein Asylverfahren geschubst, das vielen unverständlich bleibt. Bei 25 Fragen zu der Person und dem Fluchtweg ist es die letzte Frage, die einen zur Stellungsnahme zu den eigenen Asylgründen auffordert - dann, wenn schon die meisten innerlich aufgegeben haben. Man bekommt keinen automatischen Rechtsschutz. Selbst bei der Inhaftierung in Abschiebehaft steht einem kein Rechtsanwalt bei, wie sonst jedem, dem das höchste Gut, die Freiheit, genommen wird.
Nicht, dass ich meinen würde, die Bibel hätte da Lösungen parat. Es gab immer Kämpfe um Boden und Land in dem ersten Buch der Bibel, zwischen Einwandernden und Heimischen. Und die Richtschnur in der Bibel, auf das Wort Gottes zu hören, war oft eine negative Beweisführung. Gerade weil nicht darauf gehört wurde, gingen die Stämme unter.
Man kann die Werte aber umgekehrt auch nicht verraten, indem man wegschaut. Als Christinnen und Christen können wir wenigstens das einbringen, was wir können: Wir können Zeugen sein. Wir können es zur Sprache bringen, wir feiern Gottesdienste für die Toten an den EU-Außengrenzen. Wir gehen - im wahrsten Sinne des Wortes - in die Knie angesichts dessen, was passiert. "Und werden deine Zeugen sein,..." - (Apostelgeschichte 1) vielleicht ist das ein Amt, ein Amt in unserer globalisierten Welt, Glaubenszeugen zu sein und Menschenrechtszeugen zugleich.
Fanny Dethloff