"Ich bin bewusst Christ"
In der einen Hand hält sie ein Kreuz und in der anderen den Koran: Umm Hani, eine Mitfünfzigerin in schwarzem Gewand, steht auf dem Tahrirplatz in Kairos Innenstadt. Sie ist gekommen, um zu protestieren: "Ich bin gegen die Regierung und gegen die Diskriminierung von Christen und dafür, dass wir uns auf das Wesen der Ägypter und auf den Geist unserer Revolution besinnen: Christen und Muslime gehören zusammen, so wie die eine Hand und die andere Hand", sagt sie und bewegt ihre Arme. Sie reagiert empört, als sie den suchenden Blick ihrer Gesprächspartnerin spürt, der sich auf ihre Handgelenke richtet. Hier lässt sich erkennen, ob jemand ein Christ ist oder nicht, denn viele ägyptische Christen haben an der Schlagader ein kleines Kreuz tätowiert: "Ich werde Ihnen nicht sagen und nicht zeigen, ob ich Christin oder Muslima bin. Es ist doch ganz unwichtig. Wir müssen den Kampf zwischen den Religionen endlich überwinden", sagt sie.
Umm Hani ist an diesem Freitagnachmittag nicht die Einzige, die für die Rechte der Christen auf die Straße geht: Gerade hat Präsident Mohammed Mursi den Termin für die Parlamentswahl bekanntgegeben und damit einen Sturm der Empörung unter den Christen hervorgerufen: Den zweiten Wahlgang legte man in manchen Bezirken auf Gründonnerstag. "Da kann man einmal wieder sehen, wie wenig Rücksicht auf uns Christen genommen wird", sagt eine Frau, die neben Umm Hani steht.
Der Protest der Christen hat Erfolg: Bereits am nächsten Tag gibt der Präsident bekannt, dass der Wahltermin um eine Woche vorverlegt wird. "Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings gemessen an den Problemen, die wir Christen im Moment hier in Ägypten haben, eher ein Tropfen auf den heißen Stein", meint Nadia Helmy, eine Journalistin.
Wie viele Christen am Nil leben, darüber gibt es keine glaubwürdigen Zahlen. Es wird geschätzt, dass sie, die meisten sind Kopten, rund 10 Prozent der 85 Millionen Ägypter ausmachen. Und zwei Jahre nach der Revolution in Ägypten sehen sich viele Christen als Opfer der neuen Zeit.
Ist die Angst berechtigt? Gerald Lauche wiegt den Kopf. Der evangelische Theologe aus Deutschland lebt seit Jahrzehnten in Ägypten. Er leitet das evangelische Krankenhaus in Assuan und unterrichtet an der Theologischen Hochschule in Kairo. "Es gibt zunehmend Christen, die das Gefühl haben, dass sie in Ägypten keine Zukunft mehr haben, und viele denken darüber nach auszuwandern", berichtet er.
Wie viele diesen Schritt tatsächlich tun, auch darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Eine christliche Organisation in den USA bezifferte bereits 2011 die Zahl der ausgewanderten Christen auf mehr als hunderttausend. Diese Zahlen erscheinen sehr hoch. Von den Botschaften der aufnehmenden Länder werden sie nicht bestätigt.
In Ägyten kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Christen. Häuser werden zerstört und Kirchen angegriffen. Und viele dieser Zwischenfälle beginnen als Lappalien: "Da klauen etwa verschleierte Mädchen in einem koptischen Laden. Der Verkäufer reißt den Mädchen die Schleier ab, und daraufhin wird sein Laden angezündet, und empörte Muslime versuchen auch, die nahegelegene Kirche zu zerstören", erzählt Gerald Lauche. Zunächst habe der Konflikt nichts mit Religion zu tun, doch dass die Gewalt schnell eskaliert, hänge mit dem schwelenden Konflikt zwischen den Religionen zusammen.
Beleidigungen fast normal
Gewalt und Übergriffe gab es auch vor der Revolution. So wurden am Weihnachtstag 2010 sechs Christen auf dem Weg von der Kirche nach Hause von Fanatikern erschossen. Und in der Silvesternacht desselben Jahres riss eine Bombe in der Kirche der Zwei Heiligen in Alexandria 24 Menschen in den Tod. Allerdings haben nach dem Sturz Hosni Mubaraks radikale Gruppen deutlich an Einfluss gewonnen: "Es gab wohl schon immer Menschen, die etwas gegen Christen hatten, doch trauten sie sich vorher nicht, dies so deutlich zu sagen und zu zeigen. Jetzt fühlen sie sich ermutigt", betont Lauche. Beschimpfungen von Christen und abfällige Bemerkungen seien inzwischen fast normal.
"Wir hören fast täglich von Angriffen auf Christen. Ihnen wird Land weggenommen oder sie werden vertrieben", berichtet Adel Abdel Malik. Der 64-jährige Arzt arbeitet in einem christlichen Sozialzentrum im Armenviertel Ezbet al Nakhl. Besonders alarmierend findet er, dass immer wieder Entführungen gemeldet werden. "Ich kenne selber Familien, denen die Töchter entführt wurden. Sie werden dann zum Übertritt zum Islam gezwungen", berichtet er. Auch solche Übergriffe habe es bereits unter der alten Regierung gegeben, aber nicht in so großer Zahl. Hintergrund der Entführungen sei die Absicht radikaler muslimischer Gruppierungen, das Christentum aus Ägypten zu tilgen. "Deswegen sind wir auch ganz und gar dagegen, dass so viele das Land verlassen wollen. Das Christentum gehört zu Ägypten und wir dürfen uns nicht vertreiben lassen", sagt Malik. "Im Übrigen", fügt der Arzt hinzu, "haben wir auch gar keine Angst. Wir wissen, dass Gott seine Hand über uns hält".
Freundlich winkt er einem kleinen Mädchen zu. Es ist vielleicht fünf. Fliegen schwirren um ihr Gesicht, denn sie steht mitten in einem Müllhaufen. Ezbet al Nakhl ist eines der ärmsten Viertel Kairos und eines der christlichsten. Die große Mehrheit der rund 25.000 so genannten Müllmenschen sind Christen. Sie leben davon, in anderen Teilen der Stadt den Hausmüll abzutransportieren. Mit Eselkarren und kleinen Lastern streifen die Männer durch die Stadt. Wenn sie gegen Mittag ins Viertel zurückkehren, warten die Frauen bereits. Sie reißen die Mülltüten auf und sortieren die Abfälle: Metall, Glas, Plastik wird an Schrotthändler weiterverkauft. Auch für Stoffreste gibt es Abnehmer, und den Rest fressen die Tiere. Müllsammeln ist ein typischer Christenjob, denn die Essensreste eignen sich als Schweinefutter. Allerdings gibt es heute kaum noch Schweine. Mit Ausbruch der Schweinepest 2009 ordnete die ägyptische Regierung die Tötung aller Borstentiere an.
Die wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens seit der Revolution hat den Müllmenschen weiter zugesetzt. "Die Menschen hier waren schon immer arm, doch in den letzten zwei Jahren sind sie noch ärmer geworden", sagt Doktor Malik, "wir merken es, dass mehr Leute zu uns kommen und Hilfe erbitten. Wir versuchen zu helfen, wo es nur geht." Seit 1980 gibt es das Friedenszentrum in Ezbet al Nakhl, mit einem Krankenhaus, einer Schule und Kindergärten. Es wird von den Schwestern des Ordens der Heiligen Jungfrau betrieben, und der Arzt gehört zu den Freiwilligen, die die Arbeit unterstützen.
An den Wänden hängen Bilder des verstorbenen koptischen Papstes Schenouda III. Im Frühjahr 2012 starb er, und viele Christen empfanden es als besonderen Schlag, dass sie ausgerechnet in einer so schweren Zeit ohne Oberhaupt auskommen mussten. Durch ein kompliziertes Wahlverfahren wurde dann erst im November Tawadros II. zum Nachfolger gewählt. Auch sein Bild haben die Schwestern in einen blumengeschmückten Rahmen gehängt.
Jugendliche wenden sich ab
Tawadros hat in seiner kurzen Amtszeit bereits mehrmals für Aufsehen gesorgt. So verkündete er im Januar die erfolgreiche Gründung eines Ägyptischen Kirchenrates. Er soll in Zukunft Ansprechpartner der Regierung sein. Auch kritisierte Tawadros II. direkt die Regierung unter Mohammed Mursi und die Verfassung, die im Dezember per Referendum angenommen worden war. Und eine solche Kritik ist neu: Vorgänger Schenouda verhielt sich in den letzten Jahrzehnten Mubaraks eher regimetreu. Selbst während der Revolution hielt er noch still und untersagte den Pfarrern, auf dem Tahirplatz Gottesdienste zu halten. Das Stillhalten hat dazu geführt, dass sich viele Jugendliche von der Kirche abwenden. Sie sehen den Papst zwar weiterhin als spirituelles Oberhaupt, wollen aber nicht mehr, dass er die Kopten auch politisch vertritt. Es sind daraufhin mehrere politische christliche Organisationen entstanden wie die "Jugend von Maspero", die immer wieder Demonstrationen organisiert. Und andere Christen organisieren sich bewusst nicht in christlichen politischen Gruppierungen, sondern in Parteien, die nicht an eine Religion gebunden sind.
"Man kann schon sagen, dass die Revolution unser Verhältnis zu unserer Religion verändert hat", sagt ein Student mit lockigen Haaren in einer Kairoer Innenstadtkirche: "Einerseits betrachte ich die Institution Kirche kritischer, bin nicht mit allem einverstanden, bleibe aber bewusst Christ." Für den evangelischen Theologen Gerald Lauche ist das kein Einzelfall: "Die Leute sind enger zusammengerückt, und man hat den Eindruck, dass sie sich mehr für die Glaubensinhalte der Religion interessieren: Ganz offensichtlich wollen sie - wenn sie schon als Christen einen schweren Stand haben - wenigstens daran glauben."
Julia Gerlach