Kollektiv verdrängt

Armut in Ostdeutschland - es trifft vor allem Kinder und Jugendliche
Armut ist in Ostdeutschland teilweise zum Massenphänomen geworden, wenn auch einige westdeutsche Regionen auf ähnliche Quoten kommen. Foto: Hans-Jürgen Krackher
Armut ist in Ostdeutschland teilweise zum Massenphänomen geworden, wenn auch einige westdeutsche Regionen auf ähnliche Quoten kommen. Foto: Hans-Jürgen Krackher
Deutschland ist sozial immer noch in einen reicheren Westen und einen deutlich ärmeren und von höherer ­Arbeitslosigkeit getroffenen Osten gespalten. Auch hohe Quoten bei Armut und Arbeitslosigkeit etwa im Ruhrgebiet oder in manch westdeutschem Stadtstaat relativieren dieses Bild nur wenig, zeigt die Berliner Journalistin Eva Völpel.

Als Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Ende Oktober 2010 stolz verkündete, dass die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal unter die Drei-Millionen-Marke gesunken sei, schien die Erfolgsnachricht perfekt. Doch die Fixierung auf die gesamtdeutsche Arbeitslosenzahl zeigt, dass im kollektiven Gedächtnis eine einfache Wahrheit häufig nicht (mehr) vorkommt: Dass Deutschland sozial immer noch in einen reicheren Westen und einen deutlich ärmeren und von höherer Arbeitslosigkeit getroffenen Osten gespalten ist.

Allein ein genauerer Blick auf die Zahlen liefert erste Hinweise auf diese fortwährende Spaltung: Denn die gesamtdeutsche Arbeitslosenquote von sieben Prozent fiel im Oktober in Ost und West differenziert sehr unterschiedlich aus: So lag sie im Westen bei 6,1 Prozent (in Nordrhein-Westfalen bei 9,2 Prozent), im Osten jedoch bei 10,7 Prozent. Besonders drastisch sind die Unterschiede, vergleicht man beispielsweise die Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent in Bayern mit der von 11,1 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern.

Erwerbslosigkeit ist die Hauptursache für Armut

Die Arbeitslosenzahlen verweisen umgehend auf die Verteilung von Ar­mut. Denn noch immer ist Erwerbslosigkeit der häufigste Grund, weshalb Menschen in Deutschland in Armut leben. So waren 2009 rund 54 Prozent aller Erwerbslosen in Deutschland armutsgefährdet. Als armutsgefährdet gelten Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung Deutschlands zur Verfügung ha­ben. Für einen Alleinstehenden lag die Grenze nach den letzten Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) bei 870 Euro netto im Monat.

Doch auch bei der Armutsgefährdung der Erwerbslosen gibt es große regionale Unterschiede. Nach Daten des Mikrozensus lag deren Armutsgefährdungsquote 2009 in Baden-Würtemberg bei 41,5 Prozent und in Bayern bei 41,2 Prozent. In Sachsen steigt der Wert auf 65 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern auf 65,2 Prozent - und Sachsen-Anhalt hält mit 70,4 Prozent den Spitzenwert.

"Armut ist in Ostdeutschland kein Außenseiterphänomen, bei uns im Landkreis Anhalt-Bitterfeld leben beispielsweise ein Drittel aller unter 15-Jährigen von staatlichen Sozialtransfers. Das führt auch dazu, dass das Schamempfinden aufgrund der Armut nicht so ausgeprägt ist." Mit diesen Worten fasste Dietrich Landmann, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes im Kirchenkreis Zerbst, im Oktober 2010 auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt über Armut und Ausgrenzung in ländlichen Regionen die unterschiedlichen Armutserfahrungen in Ost und West zusammen.

Keine "blühenden Landschaften"

Sicher gibt es auch im Osten, vor allem in ländlichen Regionen und auf Dörfern, immer wieder die Scham, Armut offen zu thematisieren oder zu zeigen. Aber das Zi­tat verweist darauf, dass Armut in manchen Gebieten Ostdeutschlands zum Mas­senphänomen geworden ist. Die Ursachen dafür liegen vor allem in der Transformation Ostdeutschlands nach der Wende. Entgegen der Parole von den "blühenden Landschaften" wurden in den neuen Bundesländern unzählige Großbetriebe privatisiert, in Einzelteile zerschlagen oder geschlossen.

Es kam zu massiven Beschäftigungsverlusten in Landwirtschaft und In­dustrie: Nach 1989 hat sich die Erwerbstätigenbevölkerung in Ostdeutschland halbiert. Mit der Abwicklung großer Ostkombinate ging dabei vor allem in ländlichen Regionen oder Kleinstädten auch eine soziale Infrastruktur verloren: Läden für den täglichen Bedarf, Kindertagesstätten oder Arztpraxen. Die Forschung hat dabei aufgezeigt, dass diese Entwicklung keineswegs vor allem eine Folge der in der DDR verdeckten Arbeitslosigkeit, die nach 1989 ans Licht kam, oder der mangelnden Leistungsmotivation ostdeutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war. "Durch die zum Teil viel zu schnelle Privatisierung sind Unternehmen untergegangen, die bei einer mittelfristig angelegten Sanierung durchaus Überlebenschancen gehabt hätten", analysierte der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel bereits 2000. Die verloren ge­gangenen Arbeitsplätze konnten auch in den Folgejahren nicht hinzugewonnen werden.

Auch im Osten regionale Unterschiede

Aber auch der Osten selbst ist bis heute von starken regionalen Unterschieden geprägt: Während in großen Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns kaum noch Industrie oder größere Dienstleistungszentren existieren, sind andernorts einzelne Leuchttürme oder Korridore entstanden, in denen sich industrielle Cluster herausgebildet haben, so etwa in Sachsen-Anhalt und Sachsen bei Magdeburg, Halle und Leipzig.

Die Folgen der ungleichen Entwicklung in Ost und West spiegeln sich vor allem in der Verteilung der Armut. So waren 2007 laut Statistischem Bundesamt 19,5 Prozent der Bevölkerung der neuen Bundesländer armutsgefährdet, in den alten Bundesländern (ohne Berlin) aber nur 12,9 Prozent. Im bun­desdeutschen Durchschnitt betrug die Armutsgefährdungsquote 14,3 Prozent (die Quote ist dabei in den vergangenen Jahren stetig angestiegen und spiegelt auch die wachsende Ungleichheit in Deutschland). Während in Mecklenburg-Vorpommern knapp ein Viertel und in Sachsen-Anhalt gut ein Fünftel der Bevölkerung weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland zur Verfügung hat, traf das in den südlichen Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern nur auf rund ein Zehntel zu.

Neben der Arbeitslosigkeit spielt auch eine Rolle, dass Ostdeutschland bis heute ein durchschnittlich niedrigeres Lohnniveau vorzuweisen hat und nach der Wende ein Experimentierfeld für die Ausbreitung von Niedriglöhnen wurde - begünstigt durch die deutlich niedrigere gewerkschaftliche Präsenz und Tarifbindung in den neuen Bundesländern.

Sozialer Sprengstoff Kinderarmut

Besonders betroffen von Armut sind, neben Erwerbslosen, Alleinerziehende, gering Qualifizierte, Kinder und Jugendliche. So ist beispielsweise die Kinderarmut und auch die Armut der unter 25-Jährigen in den neuen Bundesländern doppelt so hoch wie in den al­ten Bundesländern. In Städten wie Görlitz oder Hoyerswerda beziehen über 40 Prozent aller Kinder Sozialgeld im Rahmen des II. Sozialgesetzbuches.

"Die Kinderfrage ist sozialer Sprengstoff", sagt Landmann. Er berichtet, dass in den Erziehungsberatungsstellen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld zwischen 2007 und 2008 der Beratungsbedarf um 40 Prozent gestiegen sei, die Diakonie und die Wohlfahrtsverbände aber alleine nicht mehr gegensteuern könnten. "Die Erwachsenen haben Schwierigkeiten, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, wir beobachten massive Verhaltensauffälligkeiten, aber das Thema wird in seiner Brisanz nicht erkannt." Nötig wären laut Landmann sehr viel mehr und Rundumbetreuungen gerade für Familien, in denen die Eltern durch Langzeitarbeitslosigkeit unter Struktur- und Perspektivlosigkeit litten, die sich auf die Kinder übertrüge.

Die Perspektivenfrage verweist auf ein weiteres Phänomen: Dem des demographischen Wandels, der den Os­ten ungleich härter trifft als den Westen. Der drastische Geburtenrückgang in Ostdeutschland nach der Wende und die Abwanderungsbewegungen in den Westen haben dazu geführt, dass beispielsweise die Bevölkerung Sachsen-Anhalts zwischen 1990 und 2007 von 2,87 auf 2,41 Millionen Menschen geschrumpft ist. Bis zum Jahr 2020 wird eine weitere Schrumpfung auf 2,05 Millionen vorausgesagt. Vor allem gut qualifizierte Frauen verlassen den Osten auf der Suche nach besseren Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten.

Regionen im Teufelskreis

Diese Entwicklung und ihre Folgen sind im bundesdeutschen Bewusstsein jedoch längst noch nicht angekommen. Für die, die zurückbleiben und für die betroffenen Regionen entsteht ein Teufelskreis: Je weniger qualifizierte Arbeitskräfte vor Ort sind, desto geringer die Chancen, Infrastruktur- und Dienstleistungsangebote aufrecht zu erhalten (den Kommunen brechen die Steuereinnahmen weg) oder gar neue Arbeitsplätze anzusiedeln. Das wiederum zieht nicht zuletzt einen massiven Wertverlust von Wohneigentum nach sich.

Auch der allseits beschworene Fachkräftemangel wird das Problem nicht lösen: Abgewanderte sind nicht so leicht zurückzuholen. Und für die gering Qualifizierten wird auch im Zeichen des Fachkräftemangels kein großartig neues Arbeitsplatzangebot entstehen. Wie also gegensteuern?

Mindestlohn gefordert

Die Hoffnung auf einen flächendeckenden Aufschwung und die Schaffung von Hunderttausenden neuer Arbeitsplätze erscheint nicht realistisch. Für Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, kommt es vor allem auf eine kohärente Armutsbekämpfungsstrategie an. "Dazu würde es gehören, einen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde einzuführen, um zumindest gewisse Trends zu stoppen. Das alleine löst aber nicht das Armutsproblem." Wegner plädiert deshalb auch für den Ausbau und das Ausschöpfen öffentlicher Beschäftigungsprogramme sowie die Schaffung halbwegs gesicherter Arbeitsplätze für gering Qualifizierte. "Man könnte durchaus darüber nachdenken, ob große Betriebe eine Abgabe zu zahlen hätten, wenn sie solche Arbeitsplätze nicht anbieten."

Im Bereich der Sozialleistungen sollte zudem der Regelsatz des SGB II angehoben werden und im Bildungsbereich über Kindergärten und Ganztagsschulen eine kompensatorische und mehr inklusive Förderung für Kinder aus armen Familien stattfinden. "Aber das kann nur mit den Eltern und auf gleichberechtigte Art und Weise geschehen. Die Forschung zeigt uns: Helfen ist nur auf Augenhöhe und durch personale Ansprache möglich", sagt Wegner. Es zeigt aber auch: Die Armutsfrage ist untrennbar mit der Verteilungsfrage verknüpft. Denn der flächendeckende Ausbau, von Bildungsinfrastrukturangeboten beispielsweise, muss auch finanziert werden. Das aber setzt die Frage nach einer gerechteren Steuerpolitik und einer Umverteilung des Reichtums in Deutschland auf die Agenda.

Eva Völpel

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