Hunde, Katzen, Tiger, Krokodile

Dem Theologen Eduard Thurneysen zum 50. Todestag
Karl Barth und Eduard Thurneysen (rechts) ganz entspannt (um 1928).
Foto: Karl-Barth-Archiv
Karl Barth und Eduard Thurneysen (rechts) ganz entspannt (um 1928).

Heute vor genau fünfzig Jahren verstarb der Schweizer Theologe Eduard Thurneysen, der als lebenslanger Freund Karl Barths bekannt ist. Albrecht Grözinger erinnert in seinem Vortrag, den er am heutigen Tage in Basel hält, an den Predigt- und Seelsorgelehrer und räumt mit einigen Vorurteilen gegen Thurneysen auf. Wir dokumentieren den Vortrag laut Manuskript.

Am 21. August des Jahres 1974, also vor genau 50 Jahren, ist Eduard Thurneysen in Basel verstorben. Wer war er – dieser Eduard Thurneysen? Im Jahre 1921 veröffentlicht Thurneysen einen Essay über den russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski. Dieser Essay beginnt mit folgenden Worten: „Wer von den Gestaden gesicherter Menschlichkeit etwa der Vorkriegszeit her zu Dostojewski kommt, dem muß zumute werden wie einem, der von der Anschauung der Haustiere, des Hundes und der Katze, der Hühner oder der Pferde her plötzlich die Wildnis vor sich aufgehen sieht und sich unvermutet der noch ungezähmten Tierheit gegenüber findet, Jaguar und Puma, Tigern und Krokodil, dem Gewürm der Schlangen und dem Geflatter der Steinadler und der Kondore. Unheimliche Wildheit, Fremdheit, Rätselhaftigkeit noch nicht bezwungener, noch nicht eingefangener und eingehegter, noch nicht durch hundertfache Sicherungen gelähmter und gefesselter Natur umfängt ihn.“[1] 

Ich habe den Eindruck, dass Thurneysen mit diesen Worten nicht nur über Dostojewski spricht, sondern auch über sich selbst. Oder vielleicht genauer – über die theologische Bewegung, die Karl Barth und Eduard Thurneysen zu Beginn der 20er-Jahre des vergangenen 20. Jahrhunderts ausgelöst haben und der man dann sehr schnell den Beinamen Dialektische Theologie gegeben hat. 

Am Anfang dieser theologischen Bewegung stand der Paukenschlag des Römerbriefkommentars, den der damals weithin unbekannte Safenwiler Dorfpfarrer Karl Barth angeblich unter einem Apfelbaum des Pfarrgartens geschrieben hat. Dem stellte sich nun sehr bald ein vielleicht etwas verhaltenerer Paukenschlag an die Seite, aber nicht minder unüberhörbar. Im Umfang bescheidener, in der Sprache aber nicht minder wild und für die damalige Theologie wohl auch ebenso rätselhaft wie Barths Römerbrief. Im Jahre 1921 veröffentlicht Thurneysen einen kleinen Aufsatz mit dem Titel „Die Aufgabe der Predigt“. Rudolf Bohren, hat in seiner Thurneysen-Biografie gesagt, dieser Essay sei „der aufregendste theologische Traktat, den unser Jahrhundert geschrieben hat“ (S. 191). Und in der Tat – an diesem Essay arbeitet sich mein Fach, die Homiletik, bis auf den heutigen Tag ab, also noch über einhundert Jahre nach seiner Entstehung. 

Am Anfang stand die große Negation

Man könne – so sagt es Thurneysen gleich eingangs des Aufsatzes – wenn man über die Predigt und das Predigen nachdenke, nur auf „das vollständig und grundsätzlich inkommensurable Verhältnis stoßen, in dem der Inhalt, über den zu reden wäre, zu der jeweiligen Verkündigung selber steht. Es ist eine tiefe Kluft befestigt zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gemeint wäre, um es kurz auszudrücken: zwischen dem Wort des Predigers und dem Wort Gottes, das in seinem Worte zu Worte kommen sollte.“[2] 

Um die Bedeutung, aber auch die Brisanz dieser Worte Thurneysens zu verstehen, müssen wir uns der Homiletik zuwenden, wie sie in dieser Zeit an den deutschsprachigen Universitäten gedacht und gelehrt wurde. Kirche und Theologie standen damals vor einem Problem, das unserer heutigen Lage gar nicht so fremd ist. Man merkte plötzlich, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, dass die Menschen den Gottesdienst besuchen oder an anderen Formen der kirchlichen Praxis teilnehmen. Dem versuchte die Praktische Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich entgegenzustellen. Man wollte – wie damals gesagt wurde –, den „modernen Menschen“ erneut für die Kirche und ihre Botschaft gewinnen. 

Friedrich Niebergall, der wohl bekannteste Praktische Theologe dieser Zeit, veröffentlichte nicht von ungefähr einen Essay mit dem Titel „Die moderne Predigt“. Dort heißt es programmatisch: „Wie sollen wir predigen, um unsrer Zeit gerecht zu werden? Jene so altmodisch anmutenden Predigten stoßen aufmerksame Hörer und Kritiker durch zwei sich oft sehr bemerkbar machende Eigenschaften: einmal entspringen sie einer Auffassung vom Evangelium, dem Inhalt der Predigt, die durch die Arbeit der Theologie der letzten Jahrzehnte hier ganz überwunden, dort sehr geschwächt worden ist; und dann reden häufig kluge und treue Menschen auf Kirchenbesucher ein, die in Wahrheit einmal in der Vergangenheit zu finden waren, gegenwärtig aber nur in der konstruierenden Phantasie des Herrn Pfarrer vorhanden sind. Sie antworten auf Fragen, die niemand stellt, und auf die Fragen, die jeder stellt, antworten sie nicht.“[3] Und Niebergall gibt auch gleich die Antwort, wie diese Misere überwunden werden kann. Kirche und Theologie müssen sich an der konkreten Lebenswelt der Menschen orientieren unter Zuhilfenahme der damals im Entstehen begriffenen Humanwissenschaften wie Soziologie und Psychologie. Wenn man die Worte Niebergalls heute liest, kommt man sich vor, als befände man sich mitten in der Debatte, die in den vergangenen Monaten rund um die neue Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD geführt wurde und wird.

Wildheit und Gefährlichkeit

Und dem stellt Thurneysen nun seine Sicht entgegen: „Und es ist uns, wenn wir nur ein wenig aufrichtig vor unsrer Predigtaufgabe stehen, wir hätten alle schon etwas von diesem Lachen gehört, das im Himmel über sämtlichen Ratschlägen, Rezepten und Mittelchen der praktischen Theologie ertönt. Wirklich, nur um belanglose Mittelchen kann es sich hier handeln, denn es liegt kein Grund vor, zu denken, die Kluft zwischen Göttlichem und Menschlichem sei an dieser Stelle überschreitbarer, weil gerade an dieser Stelle besonders viel Illusionen über deren Möglichkeit genährt werden. Im Gegenteil, man muß sagen: alle Ratschläge und Versuche, zu zeigen, wie's gemacht wird, gerade wenn sie klug, ernst und treu gemeint sind und aus reicher Erfahrung stammen, steigern nur die Schwierigkeit des Unternehmens, müssen gerade das Gegenteil bewirken von dem, was sie möchten.“[4] Das ist es also: An die Stelle der Niebergall’schen dem Menschen dienenden Hunde, Katzen, Hühner und Pferde treten die Thurneysen‘schen Jaguare, Pumas, Tiger und Krokodile – in all ihrer Wildheit und Gefährlichkeit.

Und so gipfeln die Überlegungen Thurneysens denn auch in vier Ratschlägen an die Prediger, die zunächst einmal wie Sätze aus einem homiletischen Gruselkabinett anmuten: Keine Beredsamkeit; kein Eingehen auf das Bedürfnis der Hörer*innen; kein Aufbau, sondern Abbau des Menschlichen; Keine Abwechslung in der Predigt. Diese „Ratschläge“ ist Thurneysen zeitlebens nicht mehr losgeworden. Und noch in meinem Theologiestudium zu Beginn der 1970er–Jahre wurde uns Thurneysen wie ein wilder, durchgeknallter „King Kong“ im Hause einer reflektierten Homiletik präsentiert. 

Wenn man jedoch genau hinsieht, dann verbergen sich hinter den Thurneysen‘schen negativen Merksätzen durchaus positive Anliegen, die gerade auch in unsere heutige Zeit hinein zu sprechen vermögen. Die Abwehr der Beredsamkeit möchte vor vorschneller und falscher Anbiederung an wirkliche oder vermeintliche Zeitbedürfnisse warnen. Thurneysen befürchtet, dass mit vorschneller Anbiederung die Menschen auf Ihre jeweilige Vorfindlichkeit festgelegt werden und damit Veränderungsprozesse erschwert oder gar verunmöglicht werden. Und die Abwehr der Abwechslung erinnert an – wie wir heute sagen würden – den Markenkern der Kirche: Es geht um den ihr innewohnenden Eigen–Sinn und dessen Erkennbarkeit. Heute eine zentrale Forderung an eine Kirche im Pluralismus. Thurneysen ist es – wie der frühen Dialektischen Theologie insgesamt – wohl nicht gelungen, hinter all den kräftigen Negationen, die sich dahinter verbergenden positiven Anliegen deutlich zu machen. Dies wird sich erst später ändern im Vollzug der Ausarbeitung seiner Lehre von der Seelsorge.

An „steile, grifflose Wände wagen“

Manchmal mag Thurneysen selbst auch vor der eigenen Radikalität in Sprache und Inhalten etwas zurückgeschreckt sein im Wissen darum, was für eine Tür er mit seinen frühen Aufsätzen aufgestoßen hat. In einem Brief an Karl Barth aus dieser Zeit spricht er von „steilen, grifflosen Wänden“, an die sie beide „näher und immer näher“ heranrückten. 

Wer sich an steile, grifflose Wände wagt, dem droht stets auch der Absturz. Und wir können solche theologischen Abstürze auch bei Thurneysen beobachten. Denn die radikale Anti–Hermeneutik der Praxis, wie sie seine frühen Aufsätze kennzeichnen, lässt sich in der alltäglichen Praxis selbst nicht durchhalten. Thurneysen muss notwendigerweise auch auf eine methodische Reflexion der Praxisanforderungen zurückkommen. Und an dieser Stelle sind dann bei ihm immer wieder die theologischen Abstürze zu beobachten. 

Dafür sei ein Beispiel genannt. Im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Konfirmandenunterricht führt Thurneysen folgendes aus: «Wie aber will man Kenntnis von Dem, der keiner menschlichen Erkenntnis als solcher zugänglich ist, vermitteln? Gott kann man nicht vermitteln, also bleibt nur eines: Mitteilung des verbum alienum von ihm als eines verbum alienum. Das heißt: Gott ist dann vermittelt, wenn er als der ganz und gar Wunderbare, königlich Freie, als der nie und auf keinem Weg zu vermittelnde Herr, der er ist, vor die Kinder hingestellt wird. Das wird immer wieder dazu führen, daß gerade die letzten, die entscheidenden Mitteilungen im Unterricht nicht anders geschehen können als in der Form nicht weiter begründbarer, sondern sich exklusiv selber begründender autoritärer Lehraussagen: so und so ist es!»[5]

Hier blicken wir dem theologischen Theorie–Praxis–Theoretiker Thurneysen gleichsam über die Schulter. Er reflektiert die Vermittelbarkeit des eigentlich jeder Vermittlung entzogenen Wortes Gottes. Und Thurneysen schliesst dann ziemlich schnell auf die formal-methodische Gestalt dieser Vermittlung, nämlich die Form „sich exklusiv selber begründender autoritärer Lehraussagen: so und so ist es!“. Es sind solche Sätze, die Thurneysen – und an dieser Stelle sicher nicht unberechtigt – den Ruf eingetragen haben, ein Vertreter einer dogmatisch fixierten autoritären Theologie zu sein. Dabei ist der Schluss, den Thurneysen an dieser Stelle zieht, alles andere als einfach nur schlüssig. Warum kann der „fremde Gott“ nur mittels autoritärer Lehraussagen vermittelt werden? Warum nicht über die Form einer narrativen Anmutung, wie dies in den Gleichnissen Jesu geschieht? Warum nicht in der Form einer poetischen Darstellung des Geheimnisses Gottes, wie in Schleiermachers „Reden über Religion“? Warum nicht in der Form der „heilsamen Unterbrechung“, wie dies Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel später formuliert haben? Ja – sie waren gut, die frühen Dialektischen Theologen im Konstruieren der „steilen, grifflosen Wände“, in deren methodischer Besteigung gab es dann aber doch den einen oder anderen theologischen Absturz.

Der fremde Freund

Man kann über Eduard Thurneysen nicht sprechen, ohne von Karl Barth zu reden. Diese Freundschaft war alles Andere als eine Idylle. Dabei schildert Rudolf Bohren in seiner Thurneysen-Biografie durchaus idyllische Szenen wie diese: Karl Barth ließ die folgenden Verse darauf anbringen:

„Es quillt aus unerhörten Tiefen,

des Geistes und der Bilder Schwall,

bespritzt die Christen, die da schliefen,

durchs Seetal rauschts wie Wasserfall.

Strömt aus in Predigten und Briefen,

im Unterricht, kurz überall,

drum sei als Ausdruck unsrer Wonnen,

dir überreicht hier dieser Bronnen.“

Doch beide wussten wohl zu genau, dass sich unter diesem Zuckerguss noch einmal ein anderes Brodeln verbarg. So sah etwa ein Beiden nahestehender Theologe, nämlich Paul Wernle, bereits sehr früh einen Thurneysen, der sich im Schlepptau von Barth befand. Und Thurneysen fragt doch merklich zögerlich den Freund in einem Brief: „Dass wir einander in unguter Weise beeinflussen, davon ist doch keine Rede! Oder?“ Bereits diese frühe Äusserung Thurneysens zeigt, dass er ein feines Gespür dafür hatte, dass bei aller produktiven Freundschaft etwas an deren Grunde brodelte.

Marguerite Thurneysen, die Ehefrau, war immer etwas zugeknöpft, wenn sie auf Barth zu sprechen kam oder zu sprechen kommen musste. Gefragt, wie denn das gewesen sei, als Barth nach langer Abwesenheit im Jahre 1935 aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertrieben nach Basel zurückkehrte, sagte sie lakonisch: ‚Der Karl war halt der weltberühmte Herr Professor, und der Eduard der Basler Münsterpfarrer.‘ Und in den späten umfangreichen Aufzeichnungen, die Eberhard Busch über die letzten Lebensjahre Barth verfasste, erfahren wir, dass es Barth immer schwerer fiel, im Gottesdienst Thurneysen predigen zu hören, und dass er nach allerlei Ausflüchten suchte, um einen Gottesdienst im Basler Münster zu vermeiden: Zu konventionell und schablonenhaft predige der späte Thurneysen, so Barths Urteil.

Allerdings zerbrach die Freundschaft nie bis hin zu dem legendären abendlichen Telefonat Barths mit Thurneysen in der Nacht, in der Barth starb. Nein – aus der Freundschaft ausgestiegen sind beide nie. Und zwar wohl auch deshalb, weil Beide in dieser Freundschaft ihre Eigenständigkeit bewahren konnten.

Zuspitzung in der Dreier-Beziehung

Mir ist dies an einer für mich zunächst unerwarteten Konstellation deutlich geworden. Als ich den seit einiger Zeit edierten Briefwechsel zwischen Eduard Thurneysen und Charlotte von Kirschbaum las, staunte ich über zwei Dinge: Zunächst einmal wie stark Nelly Barth, die ich eigentlich vorher immer für die Unterlegene hielt, agierte und um ihren Mann kämpfte. Und dann, dass Thurneysen in dieser zerbrechlichen Dreier–Konstellation zwischen Charlotte von Kirschbaum und Karl und Nelly Barth eine nicht unerhebliche Rolle spielte.

Barth agierte nämlich, das wird aus dem Briefwechsel deutlich, wie wir Männer in solchen Situationen gerne agieren: Immer, wenn es in der Beziehung wirklich schwierig wurde, tauchte Karl Barth ab. Und er brauchte nicht einmal künstliche Gründe. Die Zuspitzung in der Dreier-Beziehung – auch das wurde mir erst beim Lesen des Briefwechsels so richtig klar – fällt zeitlich zusammen mit der heißen Phase des Kirchenkampfes im nationalsozialistischen Deutschland. Und so hatte Barth immer etwas zu tun, wenn es zuhause brenzlig wurde – sei es in Berlin, sei in Frankfurt oder in Wuppertal–Barmen. 

Und vor allem dann, wenn Barth am Sich–Entziehen war, griff der Basler Freund brieflich ein. Sei es, um der in dieser Beziehung doch recht einsam dastehenden Nelly Barth an die Seite zu treten, oder um den Freund an seine Verantwortung zu erinnern. Thurneysen erweist sich in diesen Briefen – so mein Eindruck – als Meister der Seelsorge und der Psychologie: Er ergreift nie Partei, aber er hält sich auch nicht einfach heraus. Er versucht, Verständnis dort zu erwecken, wo er eine der drei beteiligten Personen gefährdet sieht. Und vor allem, dies mag nun auch ein männlicher Zug seinerseits an Thurneysen gewesen sein, er erinnert Barth an seine besondere Verantwortung. Man spürt dem Eingreifen Thurneysens durchweg ab, dass es ihm um das menschliche Gelingen dieser Dreierbeziehung ging, die ihm aber zugleich ethisch sehr fremd und in ihrer Dynamik unheimlich, gefährlich und abgründig erschien. 

Der Basler Münsterpfarrer

In den ersten Jahren nach meinem Wechsel an die Basler Theologische Fakultät im Jahre 1997 versuchte ich, so viel wie möglich Menschen, die Thurneysen noch persönlich erlebt haben, nach ihm und seinem Wirken zu befragen. Das Ergebnis dieser Gespräche war frappierend eindeutig: Ein sehr hölzerner, durchaus mühsamer Prediger und ein hervorragender Seelsorger. Und so kann es denn auch nicht verwundern, dass sich Thurneysen während dieser Zeit verstärkt auch der Theorie der Seelsorge zuwandte. Im Jahre 1946 erschien „Die Lehre von der Seelsorge“ und im Jahre 1968 „Seelsorge im Vollzug“.

Ähnlich wie im Bereich der Homiletik wurde uns Theologie–Studierenden im Übergang der 1960er- zu den 1970er-Jahren Thurneysen eher als ein Fossil eines zu überwindenden Verständnisses von Seelsorge vorgestellt. Die Seelsorge-Lehre befand sich in dieser Zeit im Aufbruch, neue Zugänge wie das Clinical Pastoral Training und neue Perspektiven wie die Tiefenpsychologie wurden erschlossen. Schaut man sich die wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten dieser Zeit an, also Dissertationen und Habilitationsschriften, so ergibt sich frappierend einheitliches Bild. In der Regel wird zunächst das Seelsorgeverständnis der Dialektischen Theologie kritisch beleuchtet und „entsorgt“, und Thurneysen fungierte in der Regel als Repräsentant dieser Konzeption, um dann vor dieser dunklen Folie das eigene neue Verständnis von Seelsorge zu entfalten. 

Auch die Einwände, die gegen Thurneysen vorgebracht werde, ähneln sich frappierend: Eine erfahrungsresistente, im theologischen Binnenhorizont verharrende, autoritäre Form der Seelsorge werde hier propagiert. Und diese Vorwürfe an Thurneysen schienen damals evident und überzeugend. Allerdings ergibt sich heute – also aus der historischen Distanz zu den alten theologischen Grabenkämpfen heraus – doch noch einmal ein anderer Blick auf Thurneysen und seine Konzeption von Seelsorge. Dies sei an den drei Haupteinwänden gegen Thurneysen näher erläutert: Erfahrungsvergessenheit, exklusive Selbstbezüglichkeit sowie autoritäre Struktur. Wenn man sich die Massivität dieser Vorwürfe gegen Thurneysen heute vergegenwärtigt, dann stellt sich einem heutzutage schon die Frage, was die Diskutanten damals wirklich von Thurneysen gelesen, beziehungsweise überlesen haben. 

Zunächst der Vorwurf der Erfahrungsvergessenheit. Dazu sei auf eine – wie ich meine – sehr instruktive Passage aus der „Lehre von der Seelsorge“ verwiesen. Thurneysen fragt: Wo erfahren wir etwas von uns Menschen? Und er gibt dann sofort die Antwort: „Die erste Quelle der Menschenkenntnis ist die Selbsterkenntnis. Wer sein eigenes Leben bewußt lebt und sich dem Nachdenken darüber nicht entzieht, wer sich also nicht verbirgt vor sich selber, wer auch schwere Erfahrungen mit sich selber, Erfahrungen von eigener Not und Sünde nicht beiseite schiebt, sie nicht verdrängt und vertuscht, sondern sich ihnen stellt und sie verarbeitet, dem wird ein weites und lebendiges Erfassen des menschlichen Lebens überhaupt möglich werden. Auch das Studium von Büchern über diese Dinge wird nur demjenigen helfen, dem diese erste Quelle des seelischen Verstehens reichlich fließt. Als Zweites ist zu nennen der lebendige Umgang mit andern Menschen, die Begegnung mit ihrem Leben, wie es sich abspielt im Gespräch, im Haus und auf der Straße, einmal ganz abgesehen vom eigentlich seelsorgerlichen Umgang. Wer dem täglichen, profanen Begegnen mit seinem Nächsten ausweicht, der wird nie zu wirklicher Menschenkenntnis gelangen. Alleingänger taugen nicht zum Seelsorger. Die dritte Quelle, aus der man Menschenkenntnis gewinnt, ist die Schau des Lebens, wie sie in Darstellungen des Lebens sich findet, und zwar nicht nur in frommen, sondern auch in ganz weltlichen und profanen. Hier ist zu verweisen auf die Darsteller des menschlichen Lebens unter den Schriftstellern und Dichtern… Als vierte Quelle kommt endlich in Betracht die eigentliche psychologische und psychiatrische Fachliteratur.“[6]

Menschenkenntnis geht also – so ließe sich diese Passage Thurneysens zusammenfassen – zunächst einmal von der eigenen Erfahrung von uns Menschen aus, die sich dann in den Erfahrungen unserer Sozialität verdichtet. Aber auch die ästhetisch reflektierte und gestaltete Erfahrung in den Werken der Kunst vermittelt Erfahrungswissen über den Menschen. Thurneysen folgt hier – ob bewusst oder nicht, vermag ich nicht zu sagen – der These des Aristoteles, dass sich in der ästhetischen Erfahrung von uns Menschen das Erfahrungswissen unseres Alltags noch einmal verdichtet. Schließlich nennt Thurneysen explizit die psychologische Fachliteratur. Und dieses vierfache Erfahrungswissen muss dann – so rundet Thurneysen seine Überlegungen in diesem Kapitel ab – in Aufnahme der biblischen Rede vom Menschen noch einmal theologisch verdichtet werden. 

Es ist mir schleierhaft, wie man angesichts dieser expliziten und ausführlichen Reflexionen Thurneysens zur Genese unseres menschlichen Erfahrungswissens dieser Theologie den Vorwurf der Erfahrungsvergessenheit machen konnte. Eher gilt das Gegenteil: Das Verständnis der Seelsorge bei Thurneysen ist konzipiert als Erfahrungs–Lehre.

Anregende Umgebung

Auf eine ähnliche Diskrepanz treffen wir beim zweiten Vorwurf gegen Thurneysens Verständnis von Seelsorge, nämlich den Vorwurf einer theologischen Selbstbezüglichkeit und mangelnder Offenheit gegenüber den Humanwissenschaften. Nun lebte ja Thurneysen in der Schweiz in einer anregenden Umgebung, was das Verhältnis von Theologie und der neu entstehenden Tiefenpsychologie angeht. Der Zürcher Pfarrer Oskar Pfister stand in regem Briefwechsel mit Sigmund Freud, und der Basler Pfarrerssohn Carl Gustav Jung begründete in Küsnacht den, wenn man so sagen will, zweiten Ast der Tiefenpsychologie. All das ist an Thurneysen nicht spurlos vorüber gegangen. Er gehört nachweislich zu den Ersten, die im deutschsprachigen Raum im Kontext von Seelsorge ausführlich die Psychologie zum Thema machte – und zwar von den Aufsätzen der Frühzeit bis hin zu den beiden grossen Lehrbüchern der Spätzeit. Dass er dabei der Psychologie mit seiner doch recht unglücklichen Formulierung von der Psychologie als „Hilfswissenschaft“ dem Vorurteil in gewisser Weise selbst die Bahn ebnete, muss man wohl als ein ironisches Ausrufezeichen betrachten. 

Der Hauptvorwurf gegen Thurneysens Verständnis der Seelsorge gipfelt jedoch in dem Vorwurf eines einseitigen autoritären Kommunikationsgefälles zwischen dem Seelsorger und den Seelsorgesuchenden. Inhaltlich macht sich diese Kritik an dem Begriff des „Bruches“ in der Seelsorge fest. Jedes Seelsorgegespräch – so eine gängige Interpretation – verlasse durch einen Entscheid des Seelsorgers an einer Stelle die Form des Gespräches, um in Verkündigung überzugehen. Im Grunde gehe es auch in der Seelsorge darum, dass dem Menschen „die Botschaft auf seinen Kopf zugesagt wird“ und das womöglich noch von „Mann zu Mann“, um eine berühmt-berüchtigte Formulierung von Hans Asmussen aufzunehmen, die aber gerne auch Thurneysen angeheftet wurde.

Allerdings ist damit das Theorem des Bruches, wie es Thurneysen versteht, in entscheidender Hinsicht verzeichnet. Thurneysen selbst scheint dies bemerkt zu haben, und hat die Begrifflichkeit des „Bruches“ durch den Begriff der „Bruchlinie“ ersetzt. Beim späten Thurneysen tritt auch dieser Begriff merklich in den Hintergrund.

Was meint die Rede vom „Bruch in der Seelsorge“ bei Thurneysen? Er selbst äussert sich dazu kurz und bündig: „Es wird zu einem Bruch kommen in unserem Gespräch, indem wir alles daran setzen, mit ihm [sc. dem Gesprächspartner] aus dem innermenschlich–psychologischen Bereich herauszutreten in jenen ganz anderen, durch das Wort Gottes eröffneten Bereich hinüber.“[7]

Thurneysen geht es also darum, das Seelsorgespräch von einem therapeutischen Beratungsgespräch zu unterschieden. Dies meint allerdings zwei Dinge zunächst nicht. Es meint nicht, dass im Seelsorgegespräch die therapeutische Dimension keine Platz habe. Und es meint zweitens nicht, dass der „innermenschlich–psychologische Bereich“ theologisch delegitimiert wird. Im Gegenteil: durch die Unterscheidung zwischen Seelsorge und Therapie erhalten beide ihren spezifischen Ort in der Gesellschaft. 

Spezifische Präsenz des Wortes Gottes

Das Seelsorgegespräch ist – um es nun ins Positive zu wenden – dadurch vom therapeutischen Gespräch unterschieden, dass in ihm auf eine spezifische Weise das „Wort Gottes“ präsent ist. Thurneysen macht immer wieder deutlich, dass sich diese spezifische Präsenz des Wortes Gottes in der Seelsorge von der Form der Predigt unterscheidet. Das Seelsorgegespräch ist gerade kein Gottesdienst, und der Seelsorger, die Seelsorgerin „predigen“ nicht. Sondern die Präsenz des Wortes Gottes hat in der Seelsorge die Form des kommunikativen Gesprächs.

An einer Stelle ist mir in den letzten Monaten die Bedeutung dieser Sicht der Seelsorge bei Thurneysen gerade auch für unsere Gegenwart besonders deutlich geworden. Es ist ja im Verständnis Thurneysens nicht so, dass die Bruchlinie zwischen dem Pfarrer und den Seelsorgesuchenden verläuft, so als stünde der Pfarrer auf der Seite des Wortes Gottes, das dem Gegenüber, dem es an diesem Wort mangelt, nur auf den Kopf zugesagt werden müsse. Das wäre in der Tat dann ein uneinholbares autoritäres Gefälle. 

Nun hat die ForuM–Studie zur Aufklärung sexualisierter Gewalt in der EKD, die im Januar diesen Jahres der Öffentlichkeit präsentiert wurde, gezeigt, dass ein spezifisches Pfarrerbild und der damit verbunden „Macht“ die Ausübung sexualisierter Gewalt begünstige. Die entscheidenden Sätze der Studie dazu lauten: „Auch im evangelischen Umfeld zeigt sich die besondere Rolle des (in unserem empirischen Material zumeist männlichen) Pfarrers als Beschuldigter, der mit großer Deutungsmacht ausgestattet wird und dem – zumindest in zurückliegenden Zeiträumen – die Betroffenen und oft auch ihr Umfeld nichts entgegensetzen konnten. Das Machtgefälle zwischen dem Beschuldigten und der betroffenen Person im Rahmen der seelsorgerischen Arbeit ist ein besonderer Risikofaktor für sexualisierte Gewalt im Verantwortungsbereich der evangelischen Kirche. Ein solches Machtgefälle muss unabhängig vom jeweiligen konfessionellen Hintergrund immer dort angenommen werden, wo sich sexualisierte Gewalt im Kontext spiritueller Begegnungen und Abhängigkeitsverhältnisse ereignet.“

Und gerade darum ging es Thurneysen mit seiner Rede vom „Bruch“ im seelsorgerischen Gespräch. Nämlich ein Machtgefälle zwischen Pfarrer und Seelsorgesuchenden theologisch zu delegitimieren. Pfarrer und Seelsorgesuchende stehen beide gleichberechtig an dieser Bruchlinie. Das Wort Gottes steht ihnen beiden in gleicher Weise gegenüber. Ob nun die Begrifflichkeit des „Bruches“ dazu geeignet war, dieser Intention Thurneysens gerecht zu werden, kann man mit guten Gründen bezweifeln. Und Thurneysens wachsende Zögerlichkeit in der Verwendung des Begriffes zeigt, dass er wohl selbst diesen Begriff nicht für die ultima Ratio einer Theorie der Seelsorge hielt. 

„Ich hab die Menschen halt gern.“

„Ein gescheiter Mann, aber kein Münsterpfarrer“ soll der Organist nach dem Einführungsgottesdienst gesagt haben. Nein – am Ende war er auch das: Basler Münsterpfarrer als Prediger und wohl noch mehr als Seelsorger. Und, auch das soll an dieser Stelle ausdrücklich gesagt werden, gleichsam im Nebenamt Professor für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Um 6 Jahre hat er den berühmteren Freund überlebt, der noch in der Nacht vor seinem Tod mit ihm telefonierte. Am 21. August 1974 ist Eduard Thurneysen hier in Basel verstorben. Als er gefragt wurde, warum er denn wohl als Seelsorger so stark in Anspruch genommen werde, da hat er mit keiner großen tiefsinnigen Sequenz geantwortet, sondern hat schlicht gesagt: „Ich hab die Menschen halt gern.“ Das wird wohl von ihm bleiben, dass wir auf jeden Fall von ihm sagen können: Wir haben etwas von seiner theologischen Leidenschaft gespürt und etwas davon, dass er die Menschen lieb hatte. Er war ein Kundiger unter den Hunden, Katzen und Pferden, aber auch unter den Pumas, Tigern und Krokodilen – und wohl gerade deshalb ein großer humaner Menschenkundiger. 


 

[1] Eduard Thurneysen, Dostojewski, München 1921, S.3.

[2] Eduard Thurneysen, Die Aufgabe der Predigt, in: Gert Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, S. 105.

[3] Friedrich Niebergall, Die moderne Predigt, in: Gert Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, S. 9.

[4] Thurneysen, a.a.O., S.106.

[5] Eduard Thurneysen, Das Wort Gottes und die Kirche, München 1924, S. 159.

[6] Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge (1946), Nachdruck Zürich 1980, S. 176.

[7] Thurneysen, a.a.O., S. 283.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"