Eintauchen

Über die Psalmen

Die Psalmen sind, so jedenfalls sagt es eine zufällige Auswahl von Einführungen in die Psalmen: „Gebete“; „Lieder“; „poetische Dichtung“; „mit den Psalmen lernt man beten“; „die Psalmen geben Sprache, da wo Menschen ihre Sorgen, Ängste und Nöte vor Gott bringen.“ Und dennoch sieht sich manch ein Leser und eine Leserin der Psalmen in großer Distanz zu diesen alten Texten, nicht zuletzt aufgrund einer Bildwelt, die nicht die seine oder die ihre ist. Ein Beispiel: „Der Gott der Ehre donnerte, ließ springen wie ein Kalb den Libanon und den Sirjon wie einen jungen Wildstier“ (Psalm 29,3b.6).

Schaut man sich die Erklärungen des Buches „Die Psalmen in ihrer Urgestalt“ zu Psalm 29 an, dann erfährt man einiges über den Hintergrund des genannten Zitats, über die Landschaft, über den mythischen Hintergrund des Gewitters, dessen Donner das Grollen der göttlichen Stimme ist. Das allein ist eine spannende Lektüre, doch die Verfasser haben sich ein weiter gestecktes Ziel gesetzt. Die biblischen Psalmen sind über einen langen Zeitraum hinweg entstanden (wohl bereits seit der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends bis ins 2./1. Jahrhundert vor Christus), beinhalten jedoch teilweise weit älteres Traditionsgut. Es zeigt sich, dass die im alten Israel vertraute Bild- und Sprachwelt Babyloniens, Ugarits, eine Hafenstadt an der syrischen Mittelmeerküste, oder Ägyptens durchaus dazu geeignet war, von dem eigenen Gott, von Jhwh, zu singen.

Die Psalmendichter haben Traditionsgut aufgenommen, ergänzt, in neue Kontexte gesetzt und sich so zu eigen gemacht. Dieses alte Traditionsgut, welches den Kern eines Psalms ausmacht, herauszuarbeiten, von Überarbeitungsschichten sozusagen freizulegen, seine babylonischen, ägyptischen oder ugaritischen Parallelen zu identifizieren und ebenfalls zu kontextualisieren, ist eine wesentliche Voraussetzung für die hier präsentierte jeweilige Urgestalt von 40 der 150 Psalmen. 

Die beiden Alttestamentler Christoph Levin und Reinhard Müller haben diese Arbeit in umfänglicher wissenschaftlicher Detailarbeit im Vorwege geleistet. Aus diesem Grund konnte es ihnen gelingen, die Ergebnisse so zu präsentieren, dass sich Leser und Leserin nicht in exegetischen Detaildebatten und Fußnoten verlieren. Die Verfasser geben in der Einleitung außerordentlich hilfreiche Informationen zur Entstehungssituation der Psalmen und im Anhang Empfehlungen für einen vertieften Einstieg in einzelne Psalmen. Darüber hinaus verweisen sie auf die Kommentarliteratur.

Doch belassen es die Verfasser nicht bei der Freilegung eines alten Psalmkerns und dessen Auslegung. Sie geben einen Eindruck davon, wie der Grundbestand weiterbearbeitet wurde. So wird die Wendung „Erhebt, ihr Tore, eure Häupter, und erhebt euch, ihr Tore der Urzeit, dass der König der Ehre einziehe“ (Psalm 24) vor dem Hintergrund mythischer Sprache erklärt und schließlich „zurückgeführt“ in den in seiner Endgestalt vorliegenden Psalm. Jetzt geht es nicht mehr nur um den als siegreichen König einziehenden, mächtigen Gott. Jetzt, im Zusammenhang des Endtextes, kommt diesem Gott auch der Beter entgegen und sucht nach dem Antlitz, der Nähe dieses Gottes.

Für manche Leserin und manchen Leser mag die Vorstellung ungewohnt sein, dass ein Psalm nicht aus der Hand eines Verfassers stammt. Lässt man sich jedoch auf diese Art der Psalmenlektüre ein, dann bekommt man einen Eindruck, mit welchen großen theologischen Fragen sich Israel über die Jahrhunderte auseinanderzusetzen hatte und wie dieses Ringen sich in der Gebetssprache niedergeschlagen hat.

Ob die zu Beginn erwähnte innere Distanz zu den Psalmen als Gebetstexte aufgrund ihrer fremden Bildwelt und Sprache mittels der Lektüre des Buches überwunden werden kann, lässt sich nicht vorhersagen. Ein Eintauchen in den mythischen Hintergrund der Psalmen und in die kultische und politische Situation der Entstehung der Psalmen vor mehr als 2500 Jahren ist in jedem Fall möglich und erschließt die Psalmen womöglich auf eine ganz unerwartete Weise.

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Foto: privat

Corinna Körting

 Dr. Corinna Körting ist Professorin am Institut für Altes Testament und Altorientalische Religionsgeschichte  an der Universität Hamburg.
 


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