Nie ohne Moral

Warum die Ethik Zentrum des theologischen Denkens bleiben muss
Kunstinstallation CELL in Dorchester Abbey/GB (2024)
Foto: picture-alliance
Kunstinstallation CELL von Adrian Brooks und Tim Cook - eine künstlerische Nachbildung der Gefängniszelle, in der der russische Oppositionelle Alexei Nawalny (1976-2024) inhaftiert war (Dorchester Abbey bei Oxford/England).

In der vergangenen Woche stellte der Nürnberger Theologieprofessor Ralf Frisch auf zz.net die These auf, dass gerade menschenrechtssensible Theologien, wie zum Beispiel die Dietrich Bonhoeffers,  am zunehmenden Antisemitismus  in christlich-kirchlichen Kreisen mitschuldig seien. Diesem Denken widerspricht die Wilhelmshavener Religionslehrerin Angelika Nothwang entschieden.

Zu wenig Gott, zu viel Mensch, zu viel Ethik und: Bonhoeffer ist an allem schuld – und in seinem Gefolge all die den transzendenten Gott vergessenden Theologinnen und Theologen, die Menschen zuständig sehen, wenn es um Gerechtigkeit geht, und die die Aufklärung (trotz ihrer blinden Flecken) nach wie vor für eine Errungenschaft halten. Das scheint die Quintessenz von Ralf Frischs Beitrag „Toxischer Cocktail“ zu sein, der vergangene Woche auf zeitzeichen.net erschien.

Dem gilt es entschieden zu widersprechen, denn für eine wertschätzende Sicht auf die Aufklärung gibt es meines Erachtens auch für Theologinnen und Theologen zu gute Gründe: Es wurde versucht, das Nebeneinander von Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen zu regeln, indem man Menschen ihre eigene religiöse oder weltanschauliche Perspektive zugestand, bürgerliche Rechte aber nicht mehr von der jeweiligen Perspektive abhängig machte. Man versuchte, ethische Fragen ohne Rückgriff auf Gott zu beantworten – und stellte sich mit den eigenen Antwortversuchen einer Diskussion unter Menschen. Und man kam in dieser Diskussion schließlich, wenn auch mit jahrhundertelanger Verzögerung und erst als Reaktion auf das Grauen des Nationalsozialismus, zur Idee einer gleichen Würde aller Menschen und davon abgeleitet zur Proklamation allgemeiner Menschenrechte.

Ralf Frisch macht wie schon in seinem Buch „Widerstand und Versuchung. Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor“ Bonhoeffer und anderen den Vorwurf, dass sie den traditionellen christlichen Glauben hinter sich gelassen haben und ethische Fragen überbewerten. Bei der Vorstellung seines Bonhoefferbuches warf Frisch im September 2022 im Deutschlandfunk den „Lordsiegelbewahrern“ der Theologie Bonhoeffers vor, in einen „Gerechtigkeitslückensuchwettbewerb“ eingetreten zu sein – als sei das Auffinden von Gerechtigkeitslücken eine besondere Herausforderung. 

Irgendwie mitschuldig am Antisemitismus?

Dass Bonhoeffer, aber auch Hans Jonas und später dann Dorothee Sölle und andere zur Absage an die Allmacht Gottes und zur Betonung verantwortlichen Handelns von Menschen aufgrund der Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus kamen, spielt für Frisch keine Rolle. Nun hat sein Kreuzzug gegen die Theologie Bonhoeffers eine neue Stufe erreicht: Bonhoeffer soll jetzt auch irgendwie mitschuldig sein am Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober und im Kontext des Gazakrieges hochkocht und sich als Antizionismus tarnt – und mit Bonhoeffer trifft es alle, die ethische Fragen als zentrales Thema auch der Theologie sehen. Genannt werden neben Bonhoeffer auch Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann und Gerd Theißen. Dankenswerterweise hat Albrecht Grözinger schon deutlich gemacht, wie abwegig es ist, die Genannten mit Antisemitismus in Verbindung zu bringen. 

Als angemessene Reaktion auf den israelbezogenen Antisemitismus, der vor dem Hintergrund des 7. Oktober tatsächlich entsetzlich ist, empfiehlt Frisch eine Rückbesinnung auf den christlichen Glauben und die Bundestheologie der hebräischen Bibel, nur so lasse sich ein israelbezogener Antisemitismus vermeiden. Wie diffamierend Frisch argumentiert, macht folgendes Zitat deutlich: „Weil die säkulare humanistische Erzählung keinen Sinn für die Besonderheit Israels hat, kann Israel jederzeit aus dieser Erzählung entfernt werden, wenn sich die Perspektive der Erzählerinnen und Erzähler so verändert, dass der Staat Israel auf einmal als menschenrechtsfeindlicher Akteur und Aggressor erscheint. Polemisch gesprochen: Jüdinnen und Juden sind im vollmundigen Narrativ des Menschheitsethos nur als heimatlose, versprengte, vergaste und vernichtete Opfer sicher.“  

Frisch möchte einen bundestheologisch begründeten Sonderstatus des Staates Israel, der dazu führen soll, dass das Handeln der Regierung des Staates Israel zumindest von Christinnen und Christen nicht mehr an allgemeinen Standards gemessen wird. Dass bei diesem Messen immer wieder doppelte Standards angelegt werden, sei zugestanden. Aber wo zieht Frisch die Grenze? „From the River to the Sea“ gibt es nicht nur als palästinensischen Kampfruf, es ist letztlich auch die Perspektive der Siedlerbewegung. Hat der politische Erfolg der Siedlerbewegung Israel Frieden und Sicherheit gebracht? Das kann man mit guten Gründen bezweifeln. Ein Festhalten an der „jüdisch-christlichen Tradition“ - eine Formulierung Frischs, die schon Albrecht Grözinger problematisiert hat - müsse Christen dazu führen, im gegenwärtigen Staat Israel die Erfüllung der Landverheißung aus der hebräischen Bibel zu sehen. Das schütze vor einem antizionistischen Antisemitismus. Wer Menschenrechte zur Basis ethischer Entscheidungen nehme, sei dagegen – so Frisch – in der Gefahr, den Staat Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren.

Es fängt bei den Losungen an …

Es ist mir schleierhaft, wie man annehmen kann, eine Rückbesinnung auf eine traditionelle Form des christlichen Glaubens sei ein Antidot gegen den antisemitischen Antizionismus. Wie kann man annehmen, heute wäre der christliche Glaube davor gefeit, die vielfältigen Formen des christlichen Antijudaismus, die uns in der Geschichte begegnen, wiederzubeleben? Es fängt ja schon bei den Losungen an, die immer wieder nach dem Muster Verheißung und Erfüllung zusammengestellt werden, wie vor einiger Zeit Sebastian Engelbrecht in zeitzeichen erinnerte.

Selbst wenn man davon absieht, ist eine religiöse Begründung des Existenzrechts Israels in keiner Weise sicherer als eine menschenrechtlich und durch historische Erfahrung untermauerte Begründung. Wenn die religiöse Karte gespielt wird, können andere das auch tun – und das geschieht ja auch, in der Gründungscharta der Hamas. Der israelische Soziologe Natan Sznaider hat bereits 2002 in der Korrespondenz mit Navid Kermani die Bedeutung moralischer Argumente bei der Gründung des Staates Israel betont: „Ohne internationale Moral und auch ohne das schlechte Weltgewissen für das Verbrechen, das an den Juden begangen worden ist, gäbe es gar keine internationale Legitimität für Israel, denn die Welt hat berechtigte Probleme damit, Gottes Versprechen an uns als politische Legitimation anzuerkennen.“ (Navid Kermani, Natan Sznaider, Israel. Eine Korrespondenz, 42023, S.56)

Wenn wir das Handeln der Hamas bewerten, wenden wir moralische Kategorien an. Wenn wir darauf hinweisen, dass Israel die einzige Demokratie in der Region ist, ein Land, in dem alle nach ihrer Façon leben können und Homosexuelle keine staatliche Verfolgung befürchten müssen – dann führen wir ethische Argumente an. Wenn wir die Notwendigkeit eines jüdischen Staates anerkennen, weil jeder Mensch die Möglichkeit haben soll, bei Verfolgung Zuflucht zu finden, und die Erfahrung gezeigt hat, dass dies im Nationalsozialismus vielen Juden und Jüdinnen verwehrt wurde, dann argumentieren wir mit den Menschenrechten. 

Reden ist unerlässlich

Wer Menschenrechte und Völkerrecht zum Teil eines „toxischen Cocktails“ erklärt und als Grundlage theologischer und ethischer Überlegungen so diffamiert, wie das Frisch in seinem jüngsten Beitrag auf zz.net tut, begibt sich jeder Möglichkeit, im Austausch mit Menschen anderer Religionen und Kulturen über Regeln des Zusammenlebens auch nur zu reden. Das aber ist unerlässlich, wenn es im Nahen Osten jemals Frieden geben soll. Und ein solcher Austausch ist ebenfalls unabdingbar für eine plurale Gesellschaft wie die unsere, in der Jüdinnen und Juden leben, die um ihre Angehörigen in Israel bangen, aber auch Menschen, deren Familien unmittelbar vom Gazakrieg und den Konflikten in den besetzten Gebieten betroffen sind. 

Wer so wie Frisch die Gründung des Staates Israel unmittelbar mit der biblischen Tradition in Zusammenhang bringt und den Staat Israel also auf Gott zurückführt (was längst nicht alle Juden tun), der müsste sagen können, was zwischen den Jahren 70 und 1948 war. Wenn die Shoah ein wesentlicher Faktor bei der Gründung des Staates Israel war, stellt sich die Frage, ob Gott die Shoah „gebraucht“ hat. Haben die mittelalterlichen Judenpogrome nicht gereicht, um Gott zu erweichen? 

Es ist klar, dass eine Antwort auf diese Frage menschliches Vermögen übersteigt. Man kann Bonhoeffers Theologie auch ganz anders verstehen, als Frisch das tut: nicht als das Ergebnis menschlicher Hybris, sondern als das ehrliche Bekenntnis dazu, dass wir bei der Frage nach dem Willen Gottes in der Gegenwart und in der Geschichte keine andere Antwort bekommen als die tastenden und zum Teil widersprüchlichen Antwortversuche der biblischen Protagonisten, dass wir aber dennoch vor der Aufgabe stehen, durch unser Leben eine Interpretation des göttlichen Willens zu versuchen. Ich bin zutiefst überzeugt: Gerechtigkeit und Liebe zu anderen Menschen bilden einen stabilen Kern der biblischen Antwortversuche auf die Frage nach dem Willen Gottes. Beide Orientierungen verdanken wir der jüdischen Tradition. 

 

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