Stimmen die Grundparameter des Denkens in der heutigen Theologie noch? Der Bochumer Systematische Theologe Günter Thomas meint, dass sich der christliche Gottesbegriff vielerorts in eine diffuse Natur- und Ökoromantik von zweifelhafter Substanz aufzulösen droht. Er diagnostiziert 13 Baustellen evangelischer Schöpfungstheologie der Gegenwart, die der Bearbeitung harren.
Die Krisen häufen sich. Erst Corona, dann der Überfall der Ukraine durch Russland und jetzt auch noch die Energiekrise im kommenden Winter. Und mit all dem eng verknüpft ist die ökologische Dauerkrise. Nicht wenige Institutionen unserer Gesellschaft sind im krisenbedingten unfreiwilligen Stresstest. Schon die Corona-Pandemie bot einen Anlass, auf die Schöpfungstheologien des deutschen Protestantismus der zurückliegenden Jahrzehnte einen kritisch-prüfenden Blick zu werfen. Während der vergangenen Jahre gab es im Kern keine kontroverse Debatte über ihre Grundannahmen, ihre Methoden und ihre Ziele. Sie wurde von den einen mehr oder weniger als alternativlos vorgestellt, entwickelt und institutionell mit Umweltbeauftragten gesichert. Von den anderen wurde sie toleriert oder als eine der vielen Spezialtheologien am Rande des kirchlichen Lebens erachtet. In der Zwischenzeit geben sich die Kirchen speziell in Fragen des Klimawandels als moralische Agentur, die die Forderungen in Politik und Zivilgesellschaft zu verstärken sucht.
Die große Diskrepanz zwischen der Prominenz der Klimathematik innerhalb und außerhalb der Kirchen einerseits und dem beredten schöpfungstheologischen Schweigen in der Pandemie andererseits hat auf meiner Seite einen intensiveren Blick auf die schöpfungstheologischen ‚Baustellen‘ provoziert. Die Intervention „Jenseits von Eden und Blühwiesenromantik“ im letzten Dezember hat erfreulicherweise eine rege Debatte angestoßen. Daran anschließend, möchte ich als thematische Strukturierung der Debatte 13 offene Baustellen einer ökologischen Schöpfungstheologie umreißen.
Warum „Baustellen“? Mit der Metapher der Baustelle soll betont werden, dass es bei diesen Punkten einen Entwicklungsbedarf und zugleich einen Klärungsbedarf gibt. Es handelt sich nicht einfach um Themen für ein Theologengezänk, das von der berühmten Wut der Theologen befeuert wird. Wer so denkt, begreift die Lage nicht. Darum dürfen die strittigen Punkte um eines vermeintlichen Friedens willen nicht intellektuell, rhetorisch oder gar moralisch verkleistert werden.
Alle Baustellen erfordern folgenreiche Grundentscheidungen. Gestritten werden muss über Baupläne für die Zukunft des Protestantismus, den Glauben und die Gestalt der Kirche. Gestritten werden muss um eine intellektuelle Aufrichtigkeit und einen Realismus, der dieser Erde treu bleibt und nicht in die Imagination idealer Welten entflieht. Es geht zentral um die Frage, wie die Kirche sowohl sensibel in ihrer, zu ihrer und aus ihrer Zeit sprechen kann und doch zugleich nicht nur Trendverstärker und Echoraum gesellschaftlicher Themenkonjunkturen ist. Was kann die Kirche und was können die Christen mit Charme und Chuzpe an Unterscheidungen und originären Beiträgen zur Arbeit am Klimawandel beitragen?
Es ist höchste Zeit zu streiten. Die Position eines Schiedsrichters oder Moderators einnehmen zu wollen, wäre anmaßend. Die Beschreibung der Baustellen erfolgt nicht von einem vermeintlich neutralen Standpunkt aus. Sie ist pointiert positionell. In diesen Dingen gibt es nur engagierte Diskutanten, nur Spieler, keine Linienrichter.
1. Baustelle: Schöpfungstheologie. Wozu das Ganze?
Es gab Zeiten, da wurde die Kontextualität aller Theologie als Problem empfunden und eine selbstkritische Nachdenklichkeit bezüglich des eigenen Erfahrungskontextes gefordert. Das Ziel war, die eigene Kontextgebundenheit zu überschreiten. Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Kontextuell Theologie zu treiben heißt nun, aus dem eigenen Erfahrungskontext heraus für diesen Kontext theologisch zu denken und zu sprechen. Theologie wird so funktional auf den Kontext bezogen.
Das Problemfeld des abzuwendenden Klimawandels ließ in den vergangenen Jahren laut den Ruf nach dem Bau einer anderen, einer neuen und die aktuellen Herausforderungen ansprechenden ökologischen Theologie erklingen. Nicht nur die Theologie, nein, auch die Liturgie und die Lieder und die Predigtpraxis, ja die ganze Frömmigkeitskultur ist für das ökologische Anliegen umzubauen. Nicht weniger fordert die Wuppertaler Tagung Kairos Wuppertal in ihrem Aufruf „Kairos für die Schöpfung“ – einem Kongress aus dem Jahr 2019, der von der EKD und dem Who is Who der kirchlichen NGOs unterstützt wurde. Nicht nur eine gegenüber Problemen der Ökologie sensible Schöpfungstheologie, sondern der Umbau aller theologischen Themen zugunsten der ökologischen Probleme wird in der Forderung nach einer grünen beziehungsweise ökologischen Reformation deklaratorisch gebündelt. Dazu gilt es, so die vielfach wiederholte Forderung, den Gottesgedanken aktiv umzubauen und an die aktuellen Anforderungen anzupassen.
Dieser Typ der Theologie und Spiritualität, in dem der – in diesem Fall ökologische – Kontext Aufgabe und Programm wird, wirft eine Frage auf: Warum sollte diese Theologie von einigermaßen hellsichtigen Zeitgenossen nicht als leicht durchschaubare Ideologie wahrgenommen werden? Ist dann die Theologie, um den Metaphernraum des Tennisspiels zu verwenden, nicht einfach der nützliche Schläger, mit dem der Ball im politischen Tennis auf das Feld des Gegners geschlagen wird? Wenn es darum geht, den Gottesgedanken, die Christologie oder auch die Pneumatologie dem ökologischen Anliegen entsprechend zu modellieren, läuft dies nicht auf eine Banalisierung der Gotteserkenntnis hinaus, in der Gott zum Schläger im politischen Spiel wird? Reiht sich dieser Typ der politischen Theologie nicht in eine unrühmliche Ahnengalerie ein?
Keine konstruktive Theologie kann dem Faktum entfliehen, nur menschliche Rede von Gott zu sein. Dies ist unstrittig. Und doch scheint der Weg in die gezielt kontextspezifische politische Funktionalisierung auf eine fatale Alternative hinauszulaufen: Entweder wird die Theologie eine Selbstbestärkungspoesie der Aktivisten dieses ökologischen Kontextes, oder sie wird zu einer ‚gebastelten‘ Ideologie, mit der die ‚wissenden‘ Aktivisten die ‚unwissende‘ Menge motivieren und, weil sie selbst darin nur ein politisches Instrument sehen, letztlich die Menge für den guten und richtigen Zweck spirituell betrügen. Wenn Theologie als unausweichlich menschliche Unternehmung von Gott sprechen möchte, dann muss sie die Konstruktivität und Partikularität ihrer Erkenntnis als Problem und Wunde ideologiekritisch offen halten. Sie muss dann der Versuchung einer Funktionalisierung widerstehen – weil Theologie mit nicht weniger als Gotteserkenntnis ringt. In den ökotheologischen Debatten um eine umweltgerechte Neugestaltung der Spiritualität, der Theologie und der liturgischen Bestände, steht darum auf elementare Weise der Status der Theologie zur Debatte. Ab welchem Grad der Aktualität, Kontextualität und politischen Funktionalität entlarvt sich die Theologie vor aller Augen als reines Empowerment der Aktivisten, als politische Waffe oder als reine Empörungsgeste derer, die mit der Welt unzufrieden sind? Wie ist dies zu vermeiden? Es ist erstaunlich, dass man schon des Barthanismus bezichtigt werden kann, wenn man die Theologie auf Gott zu beziehen wagt. Zweifel, hier muss theologisch um den Charakter von Theologie gestritten werden.
2. Baustelle: Ausnahmezustand. Was ist zu opfern?
Von „Fridays for Future“ über „Extinction Rebellion” bis zu “Letzte Generation“ – die Ökobewegung radikalisiert sich. Diese Selbstradikalisierung der ökologischen Bewegung führt nicht nur im inneren Kreis der Aktivisten, sondern auch im Raum der Kirche zu einer einfachen Frage: Welche Mittel dürfen und sollen im Kampf für das Abbremsen des Klimawandels angewandt werden? Wer der Auffassung ist, dass die Gerichte versagen, die Demokratie zu langsam ist und die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit zu träge ist, der reklamiert für sich das Recht, rettenden Widerstand zu leisten – und dies auch außerhalb des geltenden Rechts. Ob dies nur ziviler Widerstand ist, ob Gewaltausübung sein darf, ob Nötigung okay ist – , dies wird innerhalb der Kirche nicht offen genug diskutiert. Die kirchliche Salonfähigkeit der „Fridays for Future“-Bewegung, der „Extinction Rebellions“ und erwartbarer weise auch bald der „Last Generation“-Bewegung im links-ökologischen Protestantismus weckt Erinnerungen an die so verwickelte wie enge Verbindung der frühen RAF und dem Protestantismus. Sollte ein ökologischer Terrorismus wachsen, so würde er ohne Zweifel auch durch die kirchliche Strategie der moralischen Dramatisierung befördert worden sein.
Die vermeintlich unbedingte Dringlichkeit zwingt faktisch zu der Frage, was im ökologisch-politischen und theologisch-moralischen Ausnahmezustand dem unbedingt zu erreichenden Ziel geopfert werden muss. Welche Freiheiten sind einzuschränken? Ist die repräsentative Demokratie zu langsam für die große Transformation? Ist in Fragen der Ökologie alle freie Verantwortlichkeit durch Recht zu ersetzen? Welche medial sichtbaren Menschen stehen im Weg und stören die zielgerichtete Transformation des öffentlichen Bewusstseins? Welche Mittel heiligen diese Zwecke? Wieviel Antisemitismus darf den Protesten gegen den fossilen Kapitalismus beigemischt werden? Welche sogenannten politischen Flyover-States sind der ökologischen Transformation zu opfern? Wieviel des Sozialstaates und wieviel der medizinischen Versorgung sollen für die große Transformation aufgegeben werden? Sollte eine grüne RAF unter der Hand gestützt werden?
Das Trommeln zugunsten des moralischen oder gar politischen und rechtlichen Ausnahmezustandes („Die Zeit läuft aus!“ „Es ist schon fünf nach zwölf!“) außerhalb wie innerhalb der Kirche, halte ich angesichts der erwartbaren sozialen, politisch-psychologischen und nicht zuletzt theologischen ‚Kosten‘ für unverantwortlich. Aber dies kann und muss diskutiert werden. Die gegenwärtig wahrnehmbaren Signale weisen in eine problematische Richtung. Es könnte rasch geschehen, dass der offizielle deutsche Protestantismus mit seiner ökologischen „Gott mit uns“-Haltung sich von Freiheitsrechten und Demokratie verabschiedet und sich von zerstörerischen Fluten mitreisen lässt – auch wenn die Fluten diesmal eine politisch andere Farbe als in der Vergangenheit haben.
Der religiös-moralische Flirt mit dem Ausnahmezustand ist zurückzufahren zugunsten einer entdramatisierenden Nachdenklichkeit, die nichts mit Quietismus zu tun hat. Es geht um eine ökologiesensible Politik, die neben einem geopolitischen Realismus auch Abwägungen in Politiken des Verzichts, der Innovation und der Anpassung kennt. Aber hier steht Streit im Haus an.
3. Baustelle: Eingriffe in die Schöpfung. Wie tief?
Der ökumenische Prozess „Justice, Peace, and Integrity of Creation”, im Deutschen „Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“, akzentuiert scharf das Moment einer auf Bewahrung abzielenden Nicht-Intervention. Eine vorhandene Integrität soll geachtet und respektiert werden. Die Erde beziehungsweise die naturale Seite der Schöpfung soll nicht unangemessen berührt werden. So wird vielfach in dieser ökumenischen Bewegung das Motiv des Respekts und der Achtung aufgerufen, ein Motiv, das in der Imagination bis hin zur Verehrung oder der Unterwerfung unter eine zu verehrende Macht intensivierbar und ausdehnbar ist. Der Weg zur Muttergottheit ist kurz.
Motivgeschichtlich wird dabei weithin die „gute“ Schöpfung der sogenannten ersten Schöpfungserzählung mit dem Gartenmotiv der zweiten ‚gekreuzt‘. Die vorgegebene Integrität wird in gegenwärtigen Diskursen auch noch dort unterstellt, wo von einer „Heilung der Erde“ geraunt, also von einer Rückführung in einen Zustand des Heilseins und der Gesundheit gesprochen wird.
Nun sollte es allerdings eine offensichtliche Tatsache sein, dass der Mensch im Unterschied zum Tier von Anbeginn tief in naturale Zusammenhänge durch seinen Werkzeuggebrauch, durch die Beherrschung des Feuers, durch Viehzucht, Bewässerung von Feldern, durch Zugriffe auf Bodenschätze wie Kohle und Erz und nicht zuletzt durch Gestaltung seines eigenen Körpers in die Natur interveniert. Jenseits naiver Vorstellungen von der Bewahrung einer stets gegebenen Integrität ist daher die offen und ehrlich zu diskutierende Frage, welche Eingriffstiefe in naturale Prozesse und Dynamiken gewählt werden soll. Bei allen lauten Rufen nach Bewahrung ist zu debattieren, welche Eingriffe als notwendig, welche als akzeptabel und welche als unangemessen oder gar selbstzerstörerisch erachtet werden. Ist es die Rückholbarkeit der Veränderung? Ist es die Regenerierbarkeit der Systeme? Was wären die Kriterien in Abwägungskonflikten?
Dürfen Flussläufe für Wasserkraftwerke verändert werden? Sollten Protestanten zur katholischen Sexualmoral zurückkehren, weil Verhütungsmittel Eingriffe in die Integrität von biologischen Prozessen darstellen? Dabei hat doch Margot Käßmann 2010 im Münchner Liebfrauendom auf dem ökumenischen Kirchentag die Pille als Geschenk Gottes bezeichnet! Wer in keine Flussläufe intervenieren will, sollte auch keine Verhütungsmittel anwenden. Oder? Stellen moderne Neuroleptika inakzeptable Eingriffe in die Integrität der Schöpfung dar? Sollten diejenigen, die sich entschlossen für die Integrität der Schöpfung engagieren, nicht Gegner von mRNA-Impfstoffen sein – kommen die doch aus Gentechniklaboren? Ist auch Kunstdünger zu vermeiden? Wenn es keine Schädlinge, sondern nur Nützlinge gibt, darf dann überhaupt gegen Gefährder der Ernte vorgegangen werden? Warum gegen Malaria kämpfen, wenn sich hier eine Integrität der Schöpfung eingespielt hat? Warum gegen Krebs forschen? Ist nicht auch jedes Bakterium Teil der Integrität der Schöpfung, jedes Virus Teil des großen Ganzen, jeder Kaiserschnitt eine Manipulation der Natur?
All dies sind nur einige wenige Fragen, bei denen die kirchliche Ökobewegung, so mein Eindruck, weithin zwischen falscher Romantik und bequemer Vermeidung schwankt und so vor den unübersehbaren Zielkonflikten gerne die Augen verschließt. Die tiefe Technikskepsis weiter Teile des deutschen Protestantismus muss zukunftsorientiert debattiert werden. Mit einer von einem hohen technischen, medizinischen und wirtschaftlichen Niveau herkommenden und ins Prinzipielle gesteigerten Ethik des Verzichts würde sich die Kirche vorschnell selbst aus der Debatte nehmen. In dieser Situation gilt es auch, eine Doppelmoral zu vermeiden, die eine Technikskepsis pflegt und zugleich medizinischen ‚Hightech‘ im Notfall doch in Anspruch nimmt. Hier gilt es theologisch eine Ehrlichkeit zu suchen. Und: Ich denke, wir müssen uns in einem ersten Schritt von falsch idealisierenden Vorstellungen der Integrität und des Bewahrens lösen und dann über eine umsichtige und pragmatische Eingriffstiefe der Herrschaft und des Bebauens, um diese zwei Motive anklingen zu lassen, debattieren.
4. Baustelle: Andersdenkende. Was tun mit ihnen?
Wird die Abwendung des Klimawandels zu dem entscheidenden theo-politischen und zugleich spirituellen Anliegen erklärt, so steht in den Volkskirchen die Frage im Raum: Was tun mit den moralisch Andersdenkenden? „Kairos für die Schöpfung“ schlägt hier einen Ton an, in dem es keinen Raum für alternative Theologien gibt. „Totalitär“ ist, wer nicht einstimmt. Die anderen vertreten ein „Pseudo-Evangelium“. Es ist nicht ohne eine innere Logik, dass angesichts der erklärten Dringlichkeit des ökologischen Anliegens Debatten beendigt werden müssen und stattdessen ein entschlossenes Handeln auf allen Ebenen der Kirche erforderlich erscheint. Nicht erst derjenige, der, wie Jonathan Franzen, den Klimawandel primär managen möchte, sondern schon derjenige, der aufgrund von anderen Güterabwägungen die absolute Priorisierung des Anliegens in Frage stellt, verfällt, theologisch gesprochen, der moralischen Häresie und verdient folglich den moralischen Bann. Was tun mit den Christen in den Evangelischen Kirchen, die die große Transformation für einen Irrweg halten, den Ausstieg aus der Kernenergie für einen Fehler erachten und in der pauschalen Ächtung des Kapitalismus im Rahmen von transsektional-ökologischer Gerechtigkeitssuche eine Torheit sehen? Das Problem ist doch, dass es diese Menschen – zumindest in der Gestalt der Volkskirche – noch wirklich gibt. Sie machen sich nicht lautstark bemerkbar, aber sie gibt es noch.
Wie also sollen die Kirchen mit den in vielfältigen Abstufungen und Intensitäten existierenden ökomoralischen Dissidenten umgehen? Wie mit den evangelischen SUV-Fahrern und wie mit den mehr oder weniger freiwilligen Anhängern von Ölheizungen? Solange sie keine Stimme erheben und Kirchensteuer bezahlen, werden die theo-politischen Zweifler wahrscheinlich toleriert. Aber die Frage muss doch sein: Warum sollten sie nicht aus der Kirche ausgeschlossen werden? Sollte die Kirche nicht froh darüber sein, wenn die tendenziell ökologisch Amoralischen die Kirche verlassen und eine kleinere, aber moralisch reinere Bekenntniskirche entsteht? Stehen die Skeptiker eines ökospirituellen Umbaus der Kirche und einer radikalen Fokussierung auf die Klimathematik nicht einfach im Weg? Steht nicht doch so etwas wie eine ökologische Kirchenzucht an? Findet sie in der subtilen Form der Governance und in anderen Formen der ‚soft power‘ vollzogen nicht schon statt?
Anders formuliert, ist die zentrale Frage: Wie viel Pluralismus darf auf dem Feld der Ökologie der Protestantismus als Religion ohne Lehramt und als Volkskirche öffentlich (!) darstellen? Oder ist genau dies die Weiche, die zugunsten einer ökologisch gerechten Minderheiten- und Bekenntniskirche umgelegt werden muss? Dies ist eine offene Baustelle. Hier muss gestritten werden.
5. Baustelle: Heilige Natur. Tatsächlich?
Die Grenze zwischen einer ökologischen Ethik und einer die Natur, die Erde oder Gaya als heilig empfindenden Spiritualität, ist fließend. Bemerkenswerterweise ist es eine dezidiert nach- beziehungsweise a-theistische Theologie wie die Dorothee Sölles, die im deutschsprachigen Kontext die Schöpfung für heilig erklärte. Aber auch Jürgen Moltmann gesellt sich ihr in dieser Sache bei. Christlich-theologisch kommen sogenannte panentheistische Theologien, die das Göttliche (als Geist, als Christuslogos et cetera) in allem was ist, sehen möchten, letztlich kaum umhin, die Natur als heilig zu betrachten. Es drängt sich der Eindruck auf: Die nachtheistische Kirche scheint ihre Religionslosigkeit nicht ertragen zu können. Was aber, wenn weder das Leben noch die Natur für sich heilig sind, sondern vom heiligen Gott geschaffen und gehalten?
Dass die katholische Theologie sich diesem Trend gegenüber aufgeschlossen zeigt („Laudato si“) überrascht nicht. Indigene und ökofeministische Ansätze zur Mutter Erde zielen in die gleiche Richtung. Dass diese Orientierung den kirchlichen Diskurs da schon bestimmt, wo die entsprechenden Begriffe noch andere sind, zeigt eine Testfrage: „Worüber darf man keine Witze machen?“ Wo der Witz endet, beginnt in jeder Gesellschaft heiliges Territorium. Über den Papst darf in westlichen Gesellschaften heute jedermann Witze machen, über Greta Thunberg als Wächterin der Natur nicht. Manche werden diesen Hinweis schon als unstatthaft erachten.
Die Heiligsprechung der Natur und ihrer prominenten Bewahrer ist nicht nur biblisch-theologisch mit Fragezeichen zu versehen. Zweifellos verspricht sie ihren Befürwortern diskursstrategisch eine moralische Mobilisierung für bewahrendes Handeln und Unterlassen. Sie befördert Empfindungen der Ehrfurcht und fordert disziplinierenden Respekt. Doch der Preis ist hoch. Die Heiligsprechung erfordert, die auf vielen Ebenen der Natur manifeste Gewalt und Zerstörung entweder aus der Wahrnehmung und Kommunikation auszublenden oder aber, metaphorisch gesprochen, zu umarmen. In der heiligen Natur ist dann eine heilige Einheit von Leben und Tod, von Kreativität und Zerstörung, von Beziehungsreichtum und Räuberei anzuschauen. Wird der Natur in ihrer vermeintlichen Integrität, Vitalität und Ästhetik, Heiligkeit zugesprochen, so lässt sich schwerlich die Idee zurückweisen, dass sie im weiteren Sinne auch in Fragen moralischer Orientierung normgebend sein soll. An dieser Stelle formulierte der Alttestamentler Jürgen Ebach schon vor mehr als 30 Jahren geradezu prophetisch warnend: „Nach wie vor steht eine isolierte Schöpfungstheologie in der Gefahr der Sakralisierung der Natur und der Ausblendung der Normen einer solidarischen Praxis unter den Menschen, die aus einer Naturtheologie nicht abzuleiten sind. Das Gesetz der Natur nämlich kennt weder die Nächstenliebe noch die Gerechtigkeit noch den Einsatz für die Schwachen“ (1989, 105).
In der von Romantikern gepriesenen Natur gibt es keine Pflegeheime und keine radikale Gastlichkeit. Mit einer Sakralisierung der Natur wird mit Sicherheit einem Sozialdarwinismus langfristig Tor und Tür geöffnet. Auch ohne Friedrich Nietzsche oder frühen Darwinisten eine falsche Ehre zu erweisen, ist wichtig zu sehen: Es wird nicht aufzuhalten sein, einer durchgehend heiligen Natur auch Maßstäbe für das menschliche Leben zu entnehmen. Die Rückseite der Heiligsprechung der Natur ist darum ein versteckter oder offener Antihumanismus. Die Geschichte ist voller Beispiele. Diesen Befund dürften manche ökotheologisch Engagierten in Frage stellen wollen. Darum muss um die Heiligsprechung der Schöpfung beziehungsweise ihrer naturalen Seiten gestritten werden.
6. Baustelle: Biblische Texte. Ja, welche?
Jeder konstruktiv-theologische Umgang mit dem kanonischen Gespräch in den biblischen Schriften ist unausweichlich selektiv und zugleich synthetisch, das heißt modellierend. Strittig ist aber, wieviel Komplexität des kanonischen Gesprächs sich die Theologie in Sachen Schöpfung und Natur selbst zumuten soll, welche Fehloptimierungen vermieden werden sollten. Umstritten ist, inwiefern sich eine gegenwärtige Ethik überhaupt von welchen Traditionen irritieren und orientieren lassen möchte.Die schöpfungstheologischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte bezogen sich vielfach auf die beiden Erzählungen in Genesis 1 und 2. In hoch reduktionistischer Weise wurden beide Schöpfungserzählungen aus dem erzählten Drama der Urgeschichte (Genesis 1-11) herausgerissen. Hinzu kommt, dass sie im ökotheologischen Diskursraum auf fragwürdige Weise ‚gekreuzt‘ wurden. Die Prädikation der Güte der Schöpfung aus der ersten Erzählung wurde mit dem Gartenmotiv der zweiten so kombiniert, dass es im Umgang mit der Schöpfung um die Bewahrung eines guten Gartens zu gehen scheint. Zu durchsichtig erscheinen die Verwertungsgesichtspunkte in den Zugriffen auf die Texte. Müssten nicht die vielfachen Verweise auf den weisheitlichen Schöpfungspsalm 104, mit den dort gepriesenen Gewaltverhältnissen (inklusive der Vernichtung der Gottlosen), die Kritik daran in Jesaja 11, mit der eschatologischen Vision des sogenannten Tierfriedens, in den Blick nehmen? Kann der Geist Gottes, der dem Staub eingehaucht wird, tatsächlich mit dem Geist als reale Gottesgegenwart gleichgesetzt werden – wenn der Geist auch ein Fliehender und ein Kommender ist? Was heißt es zu bewahren, wenn wir Menschen nicht mehr in diesem Paradiesgarten leben, sondern auf einem staubigen Acker voller feindlicher Dornen und Disteln? Was heißt es, wenn in dem Flutnarrativ aus dem „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ ein „Und Gott sah die Erde und siehe, sie war verdorben“ wurde (Gen 6,12) – und dies, wohlgemerkt, sich auf „alles Fleisch“ bezieht (Gen 6,12b)? Dies sind nur einige wenige Andeutungen zu den verbreiteten, äußerst selektiven exegetischen Zugriffen. Die sehr eigenwilligen Zugriffe auf die biblischen Texte führen meines Erachtens zu systematisch-theologischen Fehlabstraktionen. Sie führen in ethische Fehloptimierungen, die das Leben der Natur idealisieren. Die verbreitete theologische Rede von der Bewahrung der Schöpfung durch den Menschen, dürfte ein prominentes Beispiel einer solchen Fehlabstraktion sein.Aber natürlich, hier stehen heftige Auseinandersetzungen an.
7. Baustelle: Panentheismus. Der Ärger der Partikularität!
Ist Gott in allem, was lebt, gar in allem, was ist? Blickt man auf die internationale ökologisch ausgerichtete Theologie (innerhalb wie außerhalb der ökofeministischen Theologie), so ist ohne Zweifel das Modell eines prozesstheologisch inspirierten Panentheismus geradezu das Standardmodell der Verhältnisbestimmung von Gott und Welt geworden. Für den deutschsprachigen Raum wurde Jürgen Moltmanns pneumatologische und ökologische Schöpfungslehre prägend. Der Panentheismus, nach dem Gott in allem ist, ohne ganz darin aufzugehen, kann unterschiedlich gefüllt werden: Der Geist kann als Kraft der Kreativität in allem sein, der Christuslogos kann im ganzen evolutionären Prozess inkarniert sein, die Erde kann Gottes Körper oder die ganze Welt kann ein Sakrament sein – um nur die prominentesten Modelle aufzurufen.
Der Panentheismus bietet vielfältige Anschlüsse an indigene Naturreligiosität, an aktuelle „Deep Green Religion“, an die Idee der Heiligkeit allen Lebens oder der Sakralität der Natur. Die Spielarten des Panentheismus sind, auch bei allen Abgrenzungsversuchen gegenüber einem Pantheismus, auch noch resonanzfähig gegenüber einem harten theologischen Naturalismus.
Dieser Panentheismus, der den ökologischen Diskurs explizit oder implizit bestimmt, ist mit mehr als einem Fragezeichen zu versehen. Die grundlegende theologische Vorgehensweise aller panentheistischen Ökotheologien ist die variantenreich zu beobachtende Strategie einer Universalisierung einer in den biblischen Traditionen greifbaren partikularen Gottesgegenwart. Folgt man diesem Ansatz, bleibt es nicht nur rätselhaft, wie Gott gegen etwas sein und einen Widerwillen haben kann. Jegliches agonale und kämpferische Moment in Gott, mit dem er um seine Schöpfung und die Menschen ringt, wird konsequent ausgeschlossen. Dies führt, folgt man dem jüdischen Exegeten John Levenson, theologisch nicht nur in die Langeweile. Ist Gott schon in allem gegenwärtig, so ist nicht nachvollziehbar, wie noch an irgendeiner „rettenden Transzendenz“ hoffend festgehalten werden kann. Wird die Partikularität des göttlichen Handelns in eine hier und da partikular nur bezeichnete Universalität aufgelöst, so ist dies nicht ohne Folgen.
Eine der Folgen des Panentheismus ist – und dies lässt sich vielfach belegen – dass der besondere Ölbaum Israel, auf den die Kirche gepfropft ist, aus dem Blick gerät. Der ökologisch motivierte Panentheismus strebt nach einer Plausibilität des Religiösen ohne den Skandal des sozial, geschichtlich und sachlich Partikularen, für das Israel und Jesus von Nazareth als Christus stehen. Nicht umsonst findet sich zur Anzeige dieser historischen Partikularität Pontius Pilatus im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Diese vielfach beobachtbare Flucht in die Universalität der Gottesgegenwart in der Immanenz ist offen zu diskutieren. Gibt sie Essenzielles Preis? Überwindet sie die Enge bestimmter Traditionen? Ich fürchte, sie verleugnet im Kern das Ärgernis des Christusereignisses und der Partikularität Israels.
Hinzu kommt eine weitere Beobachtung: Das Bedürfnis nach einer politischen und hinsichtlich der Leitimaginationen niederschwelligen Anschlussfähigkeit an außerkirchliche Akteure im Raum der Zivilgesellschaft, ist für die Kirchen nicht ohne Folgen. Dieses Bedürfnis dürfte nicht unwesentlich zu einem wenig prägnant trinitarischen Schöpfungsverständnis in den Umweltdebatten beitragen.
Eine trinitarisch gegliederte Rede von der Schöpfung stellt aber keine theologische Griffelspitzerei dar, sondern eröffnet wichtige Pointen der Geschichte Gottes mit der Schöpfung. Sie hält fest, dass die Thematisierung der Natur als Schöpfung von der Perspektive des Glaubens abhängig ist und keine unmittelbare Erfahrungsevidenz als Grundlage hat. Zugleich eröffnet die trinitarische Rede den theologischen Blick auf eine reiche Differenzierung in Gottes Transzendenz und Immanenz – gegenläufig zu den in der ökologischen Theologie dominierenden panentheistischen Vorstellungen einer in allem gegenwärtigen Immanenz Gottes. Und: Nur in einer trinitarischen Fassung der Schöpfung, ist die Natur in so eine Geschichte Gottes mit der Welt hineingenommen, dass die Natur eine erlösende Zukunft hat. Nur in dieser letztlich trinitarisch angelegten Geschichte (als erzählte Story und als Ereignisserie in und mit dieser Welt) kann eine Erlösung der Schöpfung mit all ihren naturalen Seiten gedacht werden – eine Erlösung, die nicht einfach eine Erlösung vom Menschen ist. Von dieser Hoffnung aus kann wiederum mit einem realistischen Blick auf die Schattenseiten der gegenwärtigen Schöpfung geschaut werden. In dieser Sichtweise ist die Schöpfung mehr als die gegenwärtige Natur. In der trinitarischen Geschichte Gottes markiert die Prädikation „sehr gut“ eine theologisch schmerzhafte Erinnerung und eine antreibende, sehnsüchtige Hoffnung. Ob die Kirche riskiert, diese kritischen Differenzierungsgewinne in die öffentliche Debatte einzubringen, erscheint wenig wahrscheinlich. Doch genau darum muss gestritten werden.
8. Baustelle: Evolution. Wie hältst Du’s damit?
Wie verhält sich eine ökologische Bewahrensethik zu den zerstörerischen Prozessen in der Evolution? Wie zu den agonalen und zum Teil auch antagonistischen Kräften in gegenwärtigen naturalen Prozessen? Wie verhält sie sich zu Täuschung, Verdrängung und Vernichtung in diesen Prozessen? Dieser Frage kann man sich nicht durch die durchaus auch berechtigten Hinweise auf Elemente der Kooperation und des Austauschs bis zu gelegentlichen Momenten des Altruismus entledigen. Es fällt auf, dass insbesondere die deutschsprachige ökologische Theologie das Terrain der sogenannten Übel und des Leidens innerhalb des evolutionären Prozesses weithin nicht betreten möchte. Der Sentenz des Philosophen Alfred North Whitehead „Leben ist Räuberei und bedarf der Rechtfertigung“ kann ein Wahrheitswert nicht abgesprochen werden. Bei der Räuberei hilft der Verweis auf die vermeintliche Harmonie des großen Ganzen nicht wirklich weiter.
Die Corona-Pandemie ist mit Blick auf die Gefährdungen und Risiken der Evolution für den Menschen eine machtvolle Erinnerung an ein daueraktuelles Thema. Viren erhöhen, nicht nur, aber doch zumeist, den Selektionsdruck. Dieser Blick auf den evolutionären Prozess ist es, der die Erkenntnis der Gefährdung des Menschen in seiner naturalen Existenz in der Natur und durch die Natur wachsen lässt. Der Mensch ist zweifellos ein Gefährder, aber ein gefährdeter Gefährder – wie alle anderen Akteure im Prozess.
Eine primär an Bewahrung und Integrität orientierte ökologische Theologie, Ethik und Spiritualität, die betonen, dass Gott eigentlich alles was ist, liebt, wird sich tatsächlich letztlich in den Kreis der Evolutionsleugner evangelikaler Provenienz einreihen müssen. Tut sie es nicht, so ist sie immer noch mit einer folgenreichen Entscheidung konfrontiert. Entweder sie optiert für eine mehr oder weniger stoische Haltung gegenüber den leidvollen Härten der Evolution, die mit Motiven einer sogenannten apophatischen (unsagbaren, unerklärbaren) Theologie kombiniert werden kann. Der rätselhafte, nur schweigend anzubetende Gott, zerstört jede Unterscheidung und fordert die Unterwerfung.
Oder aber, und dies ist die hier präferierte Option, die Theologie rechnet mit der Möglichkeit einer kritischen Positionierung und einem Widerwillen Gottes inmitten des der Evolution immanenten Leids unentfalteten Lebens. Doch diese letzte Option schließt selbstredend einen Panentheismus (Gott in allem) und eine Sakralisierung der Natur aus. „Wie hältst Du’s mit der Evolution?“ Hier muss gestritten werden. Hier gabeln sich Wege.
9. Baustelle: Sprechen und Handeln der Kirche. Wer denn?
Wer handelt eigentlich, wenn „die Kirche“ handelt? Die Synoden, die Bischöfinnen und Bischöfe, die Umweltbeauftragten, die EKD, das Presbyterium oder die Millionen Alltagschristen? Meine Beobachtung ist: Das öffentliche Engagement der Kirchen in Sachen Ökologie verstärkt das Sprechen der Organisation. Es befördert die Entwicklung der Kirche hin zur moralischen Agentur. Wenn Bürger, Kirchen, Initiativgruppen und Synoden fordern, „die Kirche“ solle sich mehr um Klimagerechtigkeit kümmern und sichtbare Zeichen gegen den Klimawandel setzen, so wird diese Erwartung überwiegend an die Kirche als Organisation adressiert und von der Organisation aufgenommen.
Diese Orientierung an dem Sprechen und Handeln der Großorganisation hat einen doppelten Effekt. Die Notwendigkeit eines eindeutigen Sprechens und Handelns der Großorganisation in der Zivilgesellschaft wirkt gegen eine mögliche Vielstimmigkeit in der ökologischen Ethik. Diese Dynamik führt im operativen Vollzug und in der öffentlichen Wahrnehmung faktisch zu einem moralischen Lehramt – das der Protestantismus bei der katholischen Kirche abkupfert. Hinzu kommt: Richten sich die Erwartungen und Selbsterwartungen an die Organisation „die Kirche“, so fallen die Alltagschristen einfach aus der Wahrnehmung heraus. Dieser Logik folgend, beschloss die Synode der Kirche im Rheinland mit großem Stolz im Frühjahr 2022, zehn Jahre früher als die Bundesrepublik insgesamt, also schon 2035, klimaneutral sein zu wollen. Doch wer ist hier ‚die Kirche‘? Offensichtlich schließt der Beschluss nicht die Gebäude der 2,3 Millionen Mitglieder der rheinischen Kirche ein, sondern eben nur die Gebäude der Organisation im engeren Sinne. Die Organisation selbst ist die ökomoralisch Heilige. Sie soll die ökologisch Reine und vom CO2-Abdruck Unbefleckte werden. Katholizismus pur.
Als Kirchenorganisation versuchen so die protestantischen Kirchen ökologisch-ethische Avantgarde zu sein und übersehen, dass die eigentlichen Elemente, aus denen die protestantische Kirche sich zusammensetzt, die einzelnen Alltagschristen sind. So war es zumindest in der Vergangenheit. So wirft speziell die ökologische Ethik unübersehbar die Frage auf: Wer ist es denn eigentlich, der in Sachen ökologischer Selbstverpflichtung für die Kirche inmitten eines demokratischen Rechtsstaates spricht und handelt? Mein Verdacht ist: Das Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit und das Bedürfnis nach rasch umsetzbaren Handlungen der Organisation stellen eine bequeme und konfliktscheue Flucht aus der Komplexität der wirklichen Welt dar. Würde beispielsweise die Kirche im Rheinland sich den ökologischen Umstellungsproblemen ihrer 2,3 Millionen Mitglieder mit geschätzten 800.000 Haushalten annehmen, so wäre dies ein Gewinn an Glaubwürdigkeit und ein substantieller Beitrag zur Politik. Der Preis wäre aber zweifellos ein Weniger an moralischer Eindeutigkeit und ein Weniger an beanspruchtem ‚Tempo‘. Es sind elementare Fragen des Kirchenverständnisses, die bisher hier mehr unterschwellig als offen miteinander im Streit sind. Wie viel „Rekatholisierung“ will die protestantische ökologische Ethik befördern? Wieviel Vertrauen hat sie in die Demokratie? Das gilt es zu debattieren.
10. Baustelle: Religiöse Naturerfahrungen. Ja welche denn?
Gibt es Erfahrungen der Natur, die für evangelische Christen ein spirituelles Erschließungspotenzial haben? Und wenn es die gibt, welche wären es denn? Nicht erst die ökologische Schöpfungslehre des 20. und 21. Jahrhunderts durchziehen diese Fragen. Diese Fragen nach den Medien der Erschließung des Göttlichen haben eine lange, bis in die hebräische Bibel zurückreichende Spur in der Frömmigkeits- und Theologiegeschichte gezogen. Die zwei Teile von Psalm 19, die Vorstellung von zwei Büchern (Buch der Natur und Buch der Offenbarung) als Quellen der Gotteserkenntnis und nicht zuletzt viele Debatten um eine natürliche Theologie lassen sich im Horizont dieser Frage begreifen. Seit Immanuel Kants Rede vom gestirnten Himmel über ihm („Kritik der praktischen Vernunft“) stehen auch halbsäkularisiert kirchenfernen Zeitgenossen entsprechende Imagination bereit. Wer will schon das Staunen verlernen? Wer will schon seine Ahnen verleugnen? Wer mag in dieser Sache schon seinen missionarischen Furor bremsen?
In der Tradition einer pointierten Offenbarungstheologie wurde die simple Gegenüberstellung einer Theologie von unten oder von oben schon lange überwunden und – einer bestimmten Leserichtung folgend – die Gleichnishaftigkeit von Welt und Natur festgehalten. Für Christen, so dieser Ansatz, wird die Welt von Christus her lesbar in ihren partikularen Gleichnissen. Aber eben nur in dieser Leserichtung. So manches Lied von Paul Gerhardt lebt von gleichnisfähigen Naturphänomenen, aber auch von dieser Leserichtung.
Wenn der Ausgangspunkt in der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus zurückgewiesen wird, dann steht mit Macht die Frage im Raum: Welche Naturerfahrung kann eine sachlich hinreichend klare, emotional ergreifende und sozial anschlussfähige Erschließungskraft beanspruchen? Eine zweifellos lange historische Spur führt auf das Feld der Ästhetik. In der Religionsgeschichte sind es vielfach die Erfahrungen der Fruchtbarkeit – heute sind es abgemildert und generalisierter die Erfahrungen der Kreativität. Doch die Rückfrage lautet: Wie erschließend dürfen Erfahrungen der Gewalt, der Zerstörung und der Todesnähe sein? Auffallend ist, dass – von markanten Ausnahmen abgesehen – wenige ökologisch gestimmte Theologen bereit sind, die tiefe Ambivalenz und Abgründigkeit der Naturerfahrungen zu sehen und theologisch zu verarbeiten. Die an Harmonie, Integrität und Partnerschaft interessierte Schöpfungstheologie blendet die Phänomene der evolutionären Gewalt und Zerstörung geflissentlich aus. Doch warum sollte ein blühender Kirschbaum, ein Blick aufs Meer oder ein Schrebergarten religiös potenter sein als ein vom Fuchs gerissener und verblutender Wildhase, ein von Krebs zerstörter menschlicher Körper oder ein gewaltiger Tsunami? Der Religionsphänomenologe Rudolf Otto war an dieser Stelle ambiguitätssensibler: Es gibt kein fascinosum ohne ein tremendum.
Eine evangelische Theologie der Schöpfung steht daher an einer Weggabel. Entweder erkundet und entwickelt sie eine letztlich trinitarisch orientierte Re-Lektüre von Naturerfahrungen (zum Beispiel als verschiedene Typen von Gleichnissen). Oder aber bevorzugt sie ein Hören auf die verschiedenen Mitteilungen der Mutter Erde. Beschreitet sie diesen zweiten Weg mehr oder weniger entschlossen, so steht sie unweigerlich an einer weiteren Wegkreuzung: Entweder leugnet sie die tiefe Ambivalenz, das Zerstörerische, das Gewalttätige und das Unbarmherzige in der Natur (wie es zum Beispiel bei Jürgen Moltmann oder Dorothee Sölle zu besichtigen ist) und pflegt ihre Blühwiesenromantik und ihre Naturpartnerschaftsidylle. Erlösung wäre dann die Erlösung der Erde von dem Menschen. Oder aber sie lässt die phänomenologische Oberflächlichkeit hinter sich und öffnet sich einer naturreligiösen Spiritualität und Theologie, die auch eine systematische Verdunklung Gottes zu befördern bereit ist. Gott oder das Heilige erschließt sich dann gleichermaßen im majestätisch kreisenden Adler wie in dem vom Adler gerissenen blutigen Rehkitz. Hier liegen die Karten offen auf dem Tisch. Eine wie auch immer im Detail ausgestaltete Theologie der Offenbarung Gottes in Christus wird diese Natur nicht vergöttlichen können. Es ist schon wieder anrührend, wie leicht man auch hier, wie schon beim Charakter der Schöpfungstheologie, mit einer Orientierung am sich offenbarenden Gott als Barthianer gelabelt wird. Ist es aber nicht einfach gute Theologie, vom heiligen Gott anstelle von der Heiligkeit der Natur zu sprechen? Hier gibt es viel zu besprechen – und zu streiten.
11. Baustelle: Ökologie und Interessenspolitik. Doch Bullerbü?
Was kann die Kirche und ihre ökologische Schöpfungsethik von der Politik, national wie international, erwarten? Welche Erwartungen sind zu pessimistisch, welche mutig, welche erfordern nur einen langen Atem, welche sind illusionär? Diese Frage steht in diesen Tagen wie ein Elefant im Raum.
Der Einsatz von Gaslieferungen als Waffe durch Russland ist eine mächtige Erinnerung an einen weithin verdrängten und verleugneten Sachverhalt: Jede durch eine kirchliche Umweltethik gestützte Umweltpolitik findet statt in einem geopolitischen, von Einflussinteressen und machtpolitischen Strategen durchsetzten Raum. Weil dies nicht gesehen wurde, konnte der Einstieg in alternative Formen der Energiegewinnung mit dem Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohleverstromung kombiniert werden. Weil dies nicht gesehen wurde, konnte man die Abhängigkeit von Russland pflegen.
Doch der Ukrainekrieg offenbart einen Sachverhalt und bietet die Chance für eine Erkenntnis, die beide auch ohne ihn gesehen werden können: Jede einer Schöpfungstheologie entsprechende theologische Umweltethik und alle Ideen einer Heilung der Erde müssen sich mit dem Faktum einer macht- und interessengeleiteten Politik konfrontieren lassen.
Dazu gehört die realistische Einsicht, dass die Öl und Gas exportierende arabische Welt für ihre wachsenden Bevölkerungen kein „Geschäftsmodell“ hat, das an die Stelle dieser kohlenwasserstoffbasierten Exportindustrie treten könnte. Dazu gehört auch die Einsicht, dass nicht klar ist, welche Einnahmen im Erdölstaat Nigeria den 45%-Anteil des Staatshaushaltes, der aus Öleinnahmen kommt, ersetzen könnte. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen.
Die Partei der Grünen erfährt im Augenblick schmerzhaft, was geschieht, wenn man, wie die amtierende Außenministerin am Morgen des 24. Februar 2022 formulierte, „in einer anderen Welt aufwacht“ – weil eine von Idealen getriebene Umweltpolitik auf die macht- und interessegetriebene, und auch gewaltbereite Geopolitik trifft – und so Illusionen demaskiert werden.
Nun ist macht- und ökopolitischer Zynismus nicht die Alternative. Es ist vielmehr das Eingeständnis, dass religiöse wie nicht-religiöse, von Ethiken gestützte Moralen, und die darauf aufsetzenden Politiken, für eine nicht-ideale Welt entwickelt werden müssen. Sie müssen, wohl oder übel, in einer nicht-idealen Welt voller Manipulation, Korruption, Gier, Rücksichtslosigkeit, Selbsttäuschung und Täuschung realisiert und umgesetzt werden.
Was hat dies mit der ökologischen Schöpfungstheologie der evangelischen Kirchen zu tun? Der gegenwärtige Realitätsschock wirft die Frage auf, inwieweit die von kirchlichen Aktivisten innerhalb und außerhalb von Gemeinden und Synoden bevorzugte Strategie der moralischen Überbietung weltlicher Akteure in Sachen Ökologie richtig ist. Ist die Überbietung notwendig und angemessen, weil sie politischen Druck aufbaut? Sind die Maximalforderungen wichtig, weil sie Teil einer aktiven Bewahrung der Schöpfung sind und reale Praxis einer Verantwortungsethik? Oder ist die Rhetorik der Überbietung töricht, kindisch und Illusionen befördernd? Ist sie gar irreführend und angesichts der politischen Wahrscheinlichkeiten gefährlich? Haben ihre Befürworter*innen zu lange imaginativ in Bullerbü gelebt? Befördert sie oder untergräbt sie sowohl spirituelle als auch politische Resilienz? Unterstützen die protestantischen Kirchen mit ihrer Umweltethik – als einer so neuen wie alten Variante einer politischen Theologie – eine politische Selbstillusionierung? Über die Notwendigkeit eines politischen Realismus, auch im kirchlichen Fordern und Reklamieren, muss offen debattiert und nicht weniger offen gestritten werden – der Streit würde sich lohnen.
12. Baustelle: Verzicht und Selbstzurücknahme. Oder doch Kreativität?
Es mag der lange Schatten der Romantik sein oder eine spezielle Sensibilität der Deutschen gegenüber den Gefahren der Technik - jedenfalls fällt auf, dass sich vornehmlich in deutschen Landen eine enge Verklammerung einer weitgehenden Verzichtsethik und einer tiefgreifenden Technikskepsis findet. Lastenfahrrad statt Auto, Biogasanlage statt Atomkraftwerk, „Weniger ist mehr“, „40 Tage ohne“, Degrowth statt Wachstum, alternativ-bäuerliche Landwirtschaft statt Agrobusiness. Oft verbindet sich dies mit an Kleinraumbewirtschaftungen orientierten Forderungen nach ursprünglicher Einfachheit, solidarischer Genossenschaftlichkeit und einer Abschaffung des Kapitalismus zugunsten eines wirklichen Sozialismus. Nicht selten wird dieses Sehnsuchtsbündel mit dem Begriff der „ökologischen Gerechtigkeit“ etikettiert. Wie spezifisch deutsch die jeweilige Gestaltung der ökologischen Gerechtigkeit ist, ist exemplarisch an der Offenheit der finnischen Grünen für die Atomkraft ablesbar.
Eine Ethik des Verzichts auf Rechte und Praktiken, auf Privilegien und Besitz, ist zweifellos ein wichtiges Element einer neutestamentlichen und so letztlich auch kirchlichen Nachfolgeethik. Ebenso offensichtlich ist, dass endliche Ressourcen nicht die Basis eines grenzenlosen Wachstums sein können. Eine Ethik des Verzichts prägt darum schon die Bergpredigt. Ebenso plausibel ist, dass jede die Zukunft prägende Technologie auf ihr manifestes langfristiges Gefährdungspotential befragt werden muss.
Dennoch bleibt die Frage nach der geradezu unausweichlichen Fusion von Verzichtsethik und Technikskepsis. Dabei erfährt gegenwärtig die bis in weite Teile der „Extinction Rebellion“ hineinreichende Vorliebe für Subsistenzwirtschaft oder die Ökobauernromantik der deutschen Mittelschicht einen harten Realitätstest: Ohne das ukrainische und russische Agrobusiness würden Millionen Menschen in Hungersnot geraten. Was soll nun der Treiber sein, der Verzicht oder die technische Innovation? Dabei würde die Innovation nicht nur den Klimawandel abwenden helfen, sondern, im Fall des wahrscheinlichen Falles, die notwendigen Anpassungstechniken bereitstellen. Darf es einen Innovationsoptimismus geben, gar ein Vertrauen in zukünftige technische Innovation? Darf die apokalyptische Grundstimmung technisch aufgehellt werden oder ist dies theo-politisch inopportun? Könnte das Gleichnis der anvertrauten Pfunde (Lukas 19, 11-27) ökotheologisch interpretiert werden? Sind wir nicht als Cooperator Dei zu aktiver, auch technisch innovativer Weltgestaltung aufgefordert – wissend um deren Gefahren und Ambivalenz? Wer andere Länder und Kulturen bereiste, weiß, wie unzertrennlich in deutschen Landen Verzicht und Technikskepsis verschwistert sind. Doch dies muss nicht so sein. Das ökomoralische „Germany first“ darf auch abgelegt werden. Darum muss darüber gestritten werden.
13. Baustelle: Ambivalenzexperten. Oder doch Jakobiner?
Ein verzweifelter Optimismus prägt zunehmend die aktiven Vertreter einer ökologischen Ethik innerhalb wie außerhalb der Kirchen. Die Kirchen agieren dabei als Verstärker der Dringlichkeit und des Optimismus.
Die ökologische Bewegung hat sich – und dies hängt selbstverständlich von der Betrachtungsperspektive ab – über die letzten Jahrzehnte innerhalb der Kirchen mit der feministischen Theologie und der Befreiungstheologie vernetzt. Befördert durch die Idee der intersektionalen Gerechtigkeit, wird die Vorstellung einer ökologischen Gerechtigkeit in den kirchlichen Diskurs eingebracht. Verbunden wird dies, unter dem Eindruck der ‚auslaufenden Zeit‘ zur Begrenzung des Klimawandels, mit der Forderung einer vorbildgebenden Entschlossenheit, einer zielgerichteten Eindeutigkeit und einem raschen Handeln auf klar definierten Handlungspfaden. So rief beispielsweise die Badische Landeskirche alle Kirchengemeinden dazu auf, sich an den Demonstrationen von Fridays for Future zu beteiligen und ein Pfarrer, der bei „Extinction Rebellions“ mitmacht, annonciert sich als Vorbild. Umweltbeauftragte der Kirchen sollen die Organisation ‚auf Kurs‘ bringen. Eine von Gewissheit getragene Entschiedenheit im religiös-politischen Urteil, eine Eindeutigkeit im öffentlichen Zeugnis und eine Entschlossenheit und Eile im Handeln, scheinen kirchlicherseits das Gebot der Stunde zu sein. Die große Transformation, an der auch die Kirche mitwirken will, kann nicht warten.
Doch die Frage steht im Raum: Ist diese Performanz von Eindeutigkeit, Entschlossenheit und Eile das, was die Christen im öffentlichen Diskurs verstärken sollen? Wie gesagt, eine Distanzierung von der Politik und eine ästhetische Existenz als moralischer Flaneur ist nicht die Alternative.
In Zeiten moralischer Radikalisierung ist es hilfreich, an diejenigen Traditionen im kanonischen Gespräch zu erinnern, die moralskeptisch sind. Die biblischen Traditionen sind voller Einsichten in Logiken des Handelns, die auch heute noch handlungstheoretisch hoch aktuell sind. Es gilt immer noch, dass alle Menschen lügen (Psalm 116,1) beziehungsweise Sünder bleiben. Nicht die moralisch Edlen, sondern die Gebrochenen und Lumpen sind die Heiligen. Die sogenannte Krise der Weisheit erinnert an eine bittere Erkenntnis: Zwischen Motivationen, Absichten und Handlungszielen auf der einen Seite und den Resultaten von Planen und Handeln auf der anderen Seite, klafft zu oft eine große Lücke. Auch gutgemeinte Handlungen müssen nicht zu großformatigen Erfolgen führen. Tun und Ergehen, Handlung und Handlungserfolg, stehen zu oft in einem Missverhältnis. Nicht nur die Krise der Weisheit, nein, auch die jesuanischen Rede vom Balken im Auge (Matthäus 7,3-5) und die paulinische Reflexion auf den tödlichen Charakter vermeintlich lebensförderlicher Gesetze (Römer 7) sind explosive Erinnerungen für einen verzweifelten Handlungsoptimismus. Christen wissen als Beter des Vaterunsers um die Grenzen ihrer Handlungen in einer noch unerlösten Welt. Nicht zuletzt sollte auch die egalisierend wirkende lutherische Rechtfertigungslehre, die den Menschen bleibend und grundlegend als simul iustus et peccator bestimmt, für eine verzweifelt-optimistische Haltung ein entlastendes Korrektiv sein. Wer nach säkularen Alternativen sucht: Es gibt eine Fülle soziologischer und politikwissenschaftlicher Literatur zu nicht-beabsichtigten Handlungsfolgen.
Vor dem Hintergrund dieser Traditionen sind Christen, und protestantische Christen allzumal, keine potenziellen oder realen Jakobiner oder Zeloten, sondern sogenannte Ambivalenzspezialisten. Sie sind barmherzige Experten für nicht beabsichtigte Folgen und geduldige Fachleute für Ziel- und Abwägungskonflikte. Als Experten für moralische Ambivalenz erlauben sich Protestanten Abwägungs- und Zielkonflikte anzuerkennen, ohne sie mit moralischer Wucht beiseite zu schieben.
Ökologische Landwirtschaft verbraucht mehr Fläche und emittiert doppelt so viel CO2? Biosprit schadet dem Nahrungsmittelanbau? Biogas beschädigt die Versorgung mit Mais? Flächenstilllegungen reduzieren den für viele Empfängerländer notwendigen Getreideexport? Batterietechnologie benötigt schmutzige Gewinnung von seltenen Erden bei ungeklärter Recyclingsituation? Ökologische Gebäudesanierung befördert Altersarmut? Ist ein alternatives Geschäftsmodell für Öl und Gas exportierende Länder mit einer jungen Bevölkerung in Sicht? Was tun mit den 1,2 Milliarden Menschen, die noch auf eine Steckdose warten? Wieviel ukrainisches Blut klebt ganz ungeplant an den Händen derer, die den Atom- und den Kohleausstieg vorangetrieben haben? Wieviel an den Händen der Kirche, die Fracking zur Bekenntnisfrage erhob? Wieviel Landschaftsschutz darf den Windrädern zum Opfer fallen? Lief nicht die als so vorbildhaft angelegte deutsche Umweltpolitik mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auf das Riff der Geopolitik?
All diese unerwarteten Zielkonflikte sind nicht einfach lösbar. Sie sollten für Kirche und Theologie aber Anlass sein, mit Blick auf ein ökomoralisches Pathos eher abzurüsten. Gönnen Christen sich und ihren Umwelten eine barmherzige Geduld, die auch tragisch anmutende Zielkonflikte und Abwägungssituationen konstruktiv angehen lassen? Oder lassen sie sich durch Gelegenheiten des öffentlichen Redens und Handelns zu einem moralischen Angebertum verführen? Zweifellos gilt: Je höher der moralische Turm ist, von dem herunter gesprochen wird, umso größer ist die Fallhöhe für denjenigen, der abstürzt. Darum dürfen, ja, sollten sich auch Bischöfinnen und Bischöfe, Präses und leitende Geistliche in Solidarität mit den Nicht-Mittelstandschristen gelegentlich die Freiheit nehmen, richtig alte Benziner zu fahren – statt mit E-Autos zu posen.
Auf die Gefahr hin, von manchen als lauwarme Zauderer und unverantwortliche Nörgler wahrgenommen zu werden, können Christen eine Kultur befördern, in der spirituelle Ressourcen bereitstehen, mit diesen Konflikten und Unwägbarkeiten umzugehen. Nur mit den schon im biblischen Material vorgezeichneten ‚Brechungen‘ des verzweifelten Planungs- und Handlungsoptimismus wird angesichts des eintretenden Klimawandels eine fatale Alternative überwunden. Ohne Zweifel aufziehen wird die politisch unfruchtbare Alternative: Gewaltbereitschaft oder Resignation. Diese Alternative gilt es durch Christen zugunsten eines langen Atems realistischer Hoffnung zu überwinden. Die Wahrnehmung komplexer Realitäten befördern oder eher die Wucht moralischer Eindeutigkeiten verstärken? Das ist kurzgefasst hier die Alternative. Dramatisierung oder Entdramatisierung eines verzweifelten Optimismus, darüber muss gestritten werden.
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Alle Baustellen erfordern weitere Arbeit. Alle angetippten Konflikt- und Spannungslagen sind nicht einfach aufzulösen. Christen verantworten die Gegenwart und suchen das Beste für eine Zukunft, die anders sein wird als geplant. Sie tun dies vor Gott und inmitten vielfältiger Anforderungen und in mehreren Verantwortungsräumen gleichzeitig. Die Menschen, die im Leben stehen, wissen um die konfliktträchtige Vielzahl der Verantwortungsräume. Die Christen denken und handeln in einer Welt, die von Humanität und Egoismus, von Einsicht und Dummheit, von Aufrichtigkeit und Täuschung, von Barmherzigkeit und Gewalt, von Verständnis und Missverstehen-wollen geprägt ist. Diese Welt kennt gesteigerten moralischen Sensibilitäten und einen Missbrauch von Moral für das eigene Interessensmanagement. Und: Zu oft sieht dabei vieles zum Verwechseln ähnlich aus. Genau dies wissen Christen hoffentlich besser als manche andere. Darum geht es in einem hoffnungsvollen Realismus. In dieser nicht-idealen, nicht ausplanbaren und überraschungsreichen Welt, navigieren Christen und fährt das Schiff der Gemeinde durch das Meer der Zeit.
Günter Thomas
Günter Thomas ist Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhr-Universität Bochum.