Beobachtungen am Waldrand der Wahrheit sind vor Verabsolutierungen gefeit. Das spricht für sie, so furchterregend sie sonst auch sind. Der 37-jährige Obaro Ejimiwe, der sich als Musiker Ghostpoet nennt, wirkt auf seinem fünften Album I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep allerdings so verschrammt, als hinge er im dornigen Unterholz fest. Auf die Düsterseiten der Existenz hat er zwar stets gern geblickt, doch die zehn Stücke des neuen Albums atmen schon Dystopie, das Erleben und Wahrnehmen von Wirklichkeit als einen Ort, an den keiner will.
Nun begegnet uns Dystopie in Literatur, Musik und Kunst derzeit oft, aber vielleicht sind das ja die Schlieren, in denen der Zeitgeist gerade kondensiert. Gleich im Opener Breaking Cover kommt es dicke: „I wanna die ... because of the waves/drowning in hate ... It’s getting kinda/complex/these days ... I need a break.“ Ein erster Brunnenschacht, in den wir blicken, sehr tief, von Experimental Jazzer Tom Herbert am Bass und Fabian Prynn an den Drums wie in allen Tracks stabil tricky zum Abstieg ausgekleidet. Piano, Streicher, Synths, mitunter Gitarre, Percussion, Guest Vocals kommen dazu. In den Soundfarben ist das je ein Mix aus TripHop, Postpunk à la Joy Division oder Gang of Four, marodiertem Tropicalismo, Dub-Färbung und Hörspiel-Electronica, denen die Regie die Zügel schießen lässt, in der Soundarbeit aber so radikal konzentriert auf Reduktion und Verdichten, dass man an Talk Talk denken mag. Und dazu Ghostpoets Stimme: Trocken gelesen wirken die Lyrics banal, doch wie er sie kaut, dengelt, knurrt, seufzt, verschleift, steigert, fasstief und kehlig, im Spoken- Words-Stil (er verbittet sich, Rapper genannt zu werden), gemahnt das an einen apokalyptischen Psychopompos, Liturgen oder Traumredner.
Plakativ politisch ist er nie, er formuliert aus dem Wahrnehmen und Erleben heraus. Entsprechend intim ist sein Flow. Aufstieg der Rechten und Brexit-Klimaveränderung lassen sich als Themen identifizieren, Happy Pills, Isolation und Mental Health ebenso, Dann wurden die Aufnahmen von der Zeit eingeholt: Von Corona-Lockdown, George Floyd, den ein US-Polizisten umbrachte, und all dem, was daran hängt. Kein Ort, wo man gern sein möchte. „I am sick and tired of being sick and tired“, formulierte die oft gefolterte US-Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hamer. Das steht auch auf ihrem Grabstein. „Diese Müdigkeit geht bis ins Knochenmark“, übersetzt der Historiker Eddie Glaude, der damals ein Baby war, heute(!). I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep heißt Ghostpoets grandioses Album. Wer mit kräftigem Kick beginnen will, steigt bei Nowhere To Hide Now ein: packender Dark Wave unter aktuellen Bedingungen und mit sattem Groove, der Entschlossenheit weckt. Dieses Album ist realisierte Düsternis und Kraftpaket zugleich. Genau das, was wir jetzt brauchen.
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Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.