Im Oktober 1945 veröffentlichte der englische Autor George Orwell einen Essay, in dem er vor dem Hintergrund des eben zu Ende gegangenen Kriegs seine Erfahrungen mit Kommunismus, Faschismus, Trotzkismus, dem politischen Katholizismus und der englischen Intelligenz seiner Zeit zusammenfasst, Über Nationalismus. Dabei versteht er unter Nationalismus weniger die Überhöhung der eigenen Nation, sondern vielmehr das Denken „in konkurrierenden Prestiges“.
Diese im ersten Moment befremdlich wirkende Definition wird verständlich, wenn man hört, was Orwell darunter versteht: Der Nationalist dient einer Sache, die größer ist als er selbst. Für sie erstrebt er Macht, dabei kann das Objekt seiner Gefühle austauschbar sein. Nicht alle Nationalismen sind gleich, aber drei Wesenszüge eignen allen Spielarten: Obsession, Instabilität und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. Diese Gleichgültigkeit der Realität gegenüber, teilweise sogar ihre Verleugnung machen eine geistige Auseinandersetzung kaum möglich. Es gibt kein Verbrechen, das sich nicht rechtfertigen ließe, wenn es „unsere Seite“ begeht. Es geht um Loyalität, wo Mitgefühl keine Rolle spielt. Der Nationalist hält seine Meinung für unfehlbar.
Die Aktualität liegt auf der Hand. Sie wird besonders deutlich, wenn davon gesprochen wird, dass der Nationalist davon überzeugt sei, dass sich Vergangenheit ändern lasse.
Die nationalistische Haltung zu überwinden hält Orwell für eine moralische Anstrengung, die – er spricht es nicht aus, aber sein Text legt es nahe – selten gelingt. Die ausgezeichnete Lesung von Christian Berkel erleichtert das Verstehen und macht das Zuhören zum Genuss.
Jürgen Israel
Jürgen Israel ist Publizist und beratender Mitarbeiter der "zeitzeichen"-Redaktion. Er lebt in Neuenhagen bei Berlin.