Fast täglich radle ich, jetzt mit zwei Meter Abstand, am Geburtshaus Ludwig Erhards vorbei. Gleich erscheint vor dem inneren Auge das Bild von dem dauernd Zigarre-rauchenden Wirtschaftsminister und Kanzler, der die Deutschen durch die wirtschaftlich labile Nachkriegszeit gelotst hat. Und im Ohr haben viele Deutsche noch seine Wirtschaftswunderverheißung vom „Wohlstand für alle“. Doch Erhard bremste die Euphorie, indem er die Bevölkerung kurz danach zugleich zum „Maßhalten“ aufrief und damit dem alten Aristoteles aus der Philosophenseele sprach. Galt doch die Mäßigung, das „Mitte-Finden“ - übrigens nicht zu verwechseln mit Mittelmäßigkeit! – schon in der Antike als Mittel der guten Lebensführung. So sehr die Menschen in den 60ern das „Dass“ des Erhard‘schen Maßhaltens unterstützten: Schon damals wurde darum gerungen, wie man dieses rechte Maß denn nun genauer definiere. Was ist „nicht zu viel und nicht zu wenig“? Besonders beschäftigt uns die Suche nach dem Maßhalten in Krisenzeiten. Nicht immer geht es um Geld.
In diesen Tagen scheint der Appell zum Maßhalten in vielen der Corona-Diskussionen geboten. Nehmen wir – mit Augenmaß für die zeitzeichen-LeserInnenschaft – theologische, kirchliche und ethische Debatten in den Blick: Da sind die einen, die laut eine noch viel deutlichere theologische oder mediale Präsenz von PfarrerInnen fordern. Kirche sei unsichtbar, inhaltlich flach, ohne eine ernstzunehmende Antwort in dieser Zeit. Die anderen fordern dagegen ebenso radikal zum „Schweigen“ auf. Viel zu viele Worte allerorten, und noch dazu oft in mitteloptimaler Qualität, aus den Talaren im Netz. Zur Frage nach „Gottesdiensten mit physischer Anwesenheit“ gibt es jene, die ohne ebensolche ihr Seelenheil komplett gefährdet sehen und kirchenleitende Kampfeslust fordern. Dagegen stehen düster Prophezeiungen von Gottesdiensten als todbringenden Superspreading-Hotspots. Wahrhaft christlich, edel und gut sei allein die absolute Selbstbeschränkung. Es gibt jene, die schon das Nachdenken über die Selbstisolation von SeniorInnen als Totalausverkauf der Nächstenliebe verstehen und die stattdessen ebenso ausschließlich, aber stillschweigend z.B. die kleineren Kinder in der Pflicht sehen, isoliert zu leben. Es gibt daneben wiederum andere, die jegliche Beschränkungen zum völlig unlauteren Frontalangriff auf die Grundrechte deklarieren.
Mein Eindruck wächst: Je mehr die einen ihr radikales Pro fordern, sehen sich die anderen gezwungen, mit einem mindestens so radikalen Contra zu antworten. Vielleicht verbirgt sich dahinter – neben einer durchaus bei manchen, derzeit etwas unausgelasteten ZeitgenossInnen spürbaren Lust zu streiten – sogar insgeheim die Idee, auf diese Weise beim „rechten Maß“ landen zu können. Als ertragreicher und vor allem wohltuender könnte sich erweisen, direkt und damit intensiver über das rechte Maß, über die gemeinsame Mitte zu diskutieren. Aus christlicher Sicht verlangt dies, das eigene Maßhalten mit dem Blick für die anderen zu verbinden. Barmherzig und mit Liebe sollen wir Menschen unsere „Maß-Nahmen“ treffen. Zum einen aus Klugheitsgründen – denn „eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen“ (Lk 6,38). Zum anderen aus Dankbarkeit für das „volle, gedrückte, gerüttelte und überfließende Maß“ (ebd.), das Gott den Menschen bei allen unübersehbaren Unzulänglichkeiten barmherzig und liebevoll selbst schon in den Schoß gelegt habe. Für Klugheit, Dankbarkeit, Barmherzigkeit und Liebe gilt übrigens eine Ausnahme: gern maßlos!
Stefanie Schardien
Dr. Stefanie Schardien ist Pfarrerin in Fürth seit Mai 2019 eine der Sprecherinnen des "Wort zum Sonntag".