Drohkulisse aufgebaut

Wie Aserbaidschan eine Buchvorstellung in Deutschland behinderte
Außenministerin Annalena Baerbock an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, November 2023.
Foto: dpa
Außenministerin Annalena Baerbock an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, November 2023.

Im Frühjahr 2024 kam es vor einer Buchvorstellung über armenische Kultur in Berlin zum Eklat, der schließlich zur Absage führte. Dahinter steht eine Geschichte, vor der die Kirchen in Deutschland die Augen nicht verschließen sollten, wie die Theologin Dagmar Heller aufzeigt. Sie ist Leiterin des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim und dort auch Referentin für Orthodoxie.

Seit dem 1. Januar 2024 gibt es die Republik Bergkarabach (armenisch: Arzach) nicht mehr. Bergkarabach war ein Teil der historischen armenischen Provinz Arzach und daher mehrheitlich von Armeniern besiedelt. In der sowjetischen Zeit erhoben sowohl die Republik Aserbaidschan als auch die Republik Armenien Anspruch auf dieses Gebiet, das dann 1923 – zusammen mit Nachitschewan – vom Regime als autonomes Gebiet der Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeteilt wurde. In der Folgezeit gab es immer wieder Proteste gegen diese staatliche Aufteilung, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte die Republik Arzach ihre Unabhängigkeit. Nach Pogromen und der Vertreibung der armenischen Minderheit aus Aserbaidschan kam es schließlich zum ersten Bergkarabach-Krieg zwischen 1992–1994, an dem auch Armenien beteiligt war. Dabei wurden Verletzungen der Menschenrechte auf beiden Seiten ausgeübt. Nach dem Waffenstillstand vom Mai 1994 kontrollierte Armenien einen großen Teil des Gebietes einschließlich einiger aserbaidschanischer Provinzen als ‚Pufferzone‘, um weitere Angriffe auf Bergkarabach und die Grenzgebiete der Republik Armenien zu verhindern. Der Konflikt schwelte weiter, und im Herbst 2020 kam es schließlich zu einem von manchen juristischen Experten als völkerrechtswidrig bezeichneten Angriff Aserbaidschans auf die Republik Arzach, bei dem diese ein Drittel ihres Gebietes an Aserbaidschan verlor beziehungsweise die besetzten Provinzen zurückgeben musste (vergleiche zz 10/2021). Seit Dezember 2022 blockierte Aserbaidschan den einzigen Korridor und schnitt schließlich im Juni 2023 die Republik vollständig von der Außenwelt ab, so dass es zu einer Hungersnot kam. Im September desselben Jahres wurde Arzach von Aserbaidschan mit Waffengewalt angegriffen und kapitulierte innerhalb eines Tages. Seither ist die überwältigende Mehrheit der etwa 120 000 armenischen Bewohner nach Armenien geflohen, obwohl Aserbaidschan ihnen Sicherheit innerhalb seiner Grenzen zusicherte. Das Misstrauen gegen Aserbaidschan liegt nicht nur bei den Arzach-Flüchtlingen tief, sondern die gesamte Situation hat große Ängste bei der Bevölkerung Armeniens hervorgerufen. Es bestehen Befürchtungen, dass Aserbaidschan weitere Angriffe plant und vor allem über die Region Syunik eine Landverbindung zu seiner Exklave Nachitschewan anstrebt.

Ein solcher Korridor würde den südlichen Teil Armeniens vom Rest des Landes abschneiden. Eine weitere Befürchtung, insbesondere in kirchlichen und kulturschaffenden Kreisen, betrifft die armenischen Kulturgüter in Bergkarabach. Dort gibt es einige historisch und architektonisch bedeutende armenische Klöster und Kirchen. Aufgrund der Erfahrung in Nachitschewan, wo ein Großteil des vorhandenen armenischen Kulturerbes systematisch zerstört wurde, besteht nun die Sorge, dass die Baudenkmäler in Arzach das gleiche Schicksal erwartet, denn es gibt Hinweise dafür, dass Aserbaidschan versucht, alle Beweise für die historische Existenz des armenischen Volkes auf seinem Gebiet auszulöschen.

Auf diesem Hintergrund sind die Vorgänge zu sehen, die sich im März dieses Jahr in Berlin zutrugen. Im Sommer 2022 hatte in Armenien eine interdisziplinäre, internationale, wissenschaftliche Tagung stattgefunden, bei der von Wissenschaftlern aus Deutschland, der Schweiz und Armenien Fragen zum kulturellen Erbe der Armenier in Arzach aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen behandelt wurden. Anfang März 2024 konnte die Dokumentation dieser Tagung in einem mehrsprachigen Band (mit dem Titel „Das kulturelle Erbe von Arzach. Armenische Geschichte und deren Spuren in Bergkarabach“) der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Allerdings gestaltete sich diese Präsentation schwieriger als gedacht und rief bei ihren Organisatoren und Organisatorinnen die Frage auf, wie es möglich ist, dass in Deutschland eine wissenschaftlich fundierte Veranstaltung durch Vertreter eines fremden Landes behindert werden kann. Geplant war die Präsentation des genannten Buches, gerahmt durch drei Vorträge, die das Thema in einen breiteren Kontext stellen und seine Aktualität deutlich machen sollten. Dabei handelte es sich um eine Darstellung der Situation aus armenischer Perspektive, um eine Einordnung im Kontext der geopolitischen Entwicklung im Südkaukasus sowie um die Vorstellung von Ergebnissen des Forschungsprogramms Caucasus Heritage Watch auf der Basis von Satellitenaufnahmen.

Vorwurf der Einseitigkeit

Als Ort für die Veranstaltung bot die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) ihre Räumlichkeiten in Berlin an. Sobald die Veranstaltung aber publik gemacht worden war, erhielt die DGAP von der aserbaidschanischen Botschaft die massive Aufforderung, die Veranstaltung abzusagen. Als man dem nicht nachkam, wurde gefordert, einen aserbaidschanischen Wissenschaftler mit in die Liste der Vortragenden aufzunehmen – so, wie die Veranstaltung geplant sei, sei sie einseitig.

Aus der digitalen Korrespondenz ging hervor, dass sich die aserbaidschanische Seite offenbar bereits daran stieß, dass der armenische Name für die Region, „Arzach“, im Titel des Buches enthalten ist. Viel erschreckender waren aber der Ton und die Aggressivität, mit denen hier vorgegangen wurde. Es blieb nicht bei der Intervention der aserbaidschanischen Botschaft, sondern zahlreiche GONGOs (Government-organized non-governmental Organisations) schalteten sich ebenfalls ein, in deren Mails dann auch Vorwürfe wie „Islamophobie“ auftauchten und Drohungen artikuliert wurden. Schließlich wurde von aserbaidschanischer Seite eine Demonstration am Ort der Veranstaltung angemeldet. Als auch diese Ankündigung nicht dazu führte, dass die Veranstaltung abgesagt wurde, meldeten sich plötzlich in großer Zahl aserbaidschanische Teilnehmer zur Veranstaltung an. Die Drohkulisse, die in der Korrespondenz aufgebaut worden war, ließ befürchten, dass es hier nicht um eine sachliche Diskussion ging, sondern darum, die Veranstaltung zu stören. Ergebnis war schließlich, dass die Veranstaltung rein digital durchgeführt wurde und dadurch wesentlich mehr Teilnehmende hatte, als sich für die Präsenzversion angemeldet hatten. Damit können die Veranstalter letztlich zufrieden sein; das Buch wurde angemessen einer interessierten Leserschaft präsentiert. Aber es bleibt ein unguter Nachgeschmack: Warum soll es nicht möglich sein, die armenischen Kulturgüter, die es in Bergkarabach zweifellos gibt, in ihrer Bedeutung für die armenische Geschichte, in ihrer Bedeutung für die christliche Kunst, und in ihrem Kontext des armenischen Traumas zu betrachten? – Vermutlich deshalb, weil aus der genannten Tagung auch ein Aufruf hervorging (im besagten Buch abgedruckt), in welchem es um die Bewahrung dieses Kulturerbes geht. Und dahinter wiederum steht die Befürchtung, dass vor allem die architektonischen Zeugnisse dieses Erbes durch die Machtübernahme Aserbaidschans in Bergkarabach bedroht sind. Dass diese Befürchtung nicht unbegründet ist, hatte sich bereits am Beispiel Nachitschewans gezeigt. Nachitschewan ist eine Exklave Aserbaidschans, die – ähnlich wie Bergkarabach – ursprünglich eine starke armenische Bevölkerung hatte. Wie unter anderem die Untersuchungen von Caucasus Heritage Watch gezeigt haben, wurden dort die meisten Zeugnisse armenischer Population systematisch vernichtet. So wurde kürzlich bestätigt, dass die armenische Kirche in Shushi im Gebiet Arzach seit dem Frühjahr 2024 bereits nicht mehr auf den Satellitenbildern zu sehen ist. Es könnte sein, dass sie genau in dem Zeitraum zerstört wurde, in den auch die Buchpräsentation in Berlin fiel.

Dass sich die Veranstaltung auf die Bedrohung des armenischen Kulturguts konzentrierte, war also durch die aktuelle Situation gerechtfertigt, denn zum fraglichen Zeitpunkt war das aserbaidschanische Kulturgut in keinerlei Weise gefährdet, wohl aber das armenische – wie auch das Europäische Parlament bereits in einer „Entschließung des Europäischen Parlaments zur Zerstörung von Kulturerbe in Bergkarabach“ im März 2022 feststellte. Dennoch wurde auch die Frage nach dem aserbaidschanischen Kulturgut in Bergkarabach während der genannten Veranstaltung nicht ausgeblendet: In seinem Vortrag legte Prof. Dr. Adam T. Smith von Caucasus Heritage Watch aus den USA Untersuchungen der Zerstörung aserbaidschanischer Architektur in Bergkarabach nach der Eroberung aserbaidschanischer Siedlungen durch Armenier 1994 dar. Sein Fazit war, dass es zwar auch von der armenischen Seite zu Zerstörungen kam, diese allerdings ganz offensichtlich nicht systematisch geplant, sondern Gelegenheitsereignisse waren. Anders kann man in Nachitschewan hingegen deutlich sehen, dass es sich dort um eine systematische Ausradierung armenischer Spuren handelt. Sehr bald nach der Eroberung hat Aserbaidschan das Parlamentsgebäude in Stepanakert, dem inzwischen entvölkerten ehemaligen Regierungssitz der Republik Bergkarabach, abgerissen. Am Ort dieses Gebäudes wurde vom aserbaidschanischen Präsidenten Aliyev dann das sogenannte Nowruz-Feuer angezündet und diese Handlung als „Endreinigung“ Bergkarabachs bezeichnet.

Komplizierte Geschichte

Ein jüngst im Auftrag der aserbaidschanischen Botschaft publiziertes Buch „Christliches Leben in Aserbaidschan“ bekräftigt den bisher entstandenen Eindruck, dass hier Geschichtsklitterung geschieht: In dem Buch wird die armenische Kirche zwar erwähnt, aber interessanterweise eine so genannte albanisch-udinische Kirche viel stärker hervorgehoben. Dies ist eine Kirche, die bis ins Frühmittelalter als unabhängige Kirche existierte, aber deren Mitglieder sich – sofern sie nicht zum Islam konvertierten – bis auf eine Handvoll Gemeinden entweder der armenischen oder der georgischen Kirche angeschlossen haben.

In Aserbaidschan gibt es nun Bestrebungen, die wenigen noch existierenden Gemeinden als „Albanische Kirche“ wieder aufleben zu lassen. So wird das Narrativ verbreitet, die Armenier seien erst nach dem russisch-türkischen Krieg durch den Zaren gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Gebiet Karabach angesiedelt worden und hätten die albanische Kirche zerstört, die aber nun wieder aufgebaut werde. Das genannte Buch zeigt daher gleich auf der ersten Seite eine armenische Kirche mit der Bildunterschrift „Albanisch Kaukasische Kirche“. Die Geschichte des Südkaukasus und der Region Bergkarabach ist kompliziert, aber es ist auf jeden Fall deutlich, dass es bereits eine frühe armenische Besiedlung gab und durch das Mittelalter hindurch bis ins 18. Jahrhundert Bergkarabach von armenischen Fürsten regiert wurde. Die Region spielt für die kulturelle Geschichte Armeniens und der Armenischen Apostolischen Kirche eine wichtige Rolle.

Die Befürchtungen hinsichtlich der Zerstörung dieser Kulturgüter müssen aber auch auf dem Hintergrund des Genozids an den Armeniern während des 1. Weltkriegs im Osmanischen Reich gesehen werden. Denn die Republik Armenien hat eine lange gemeinsame Grenzen mit der Türkei im Westen und im Osten mit Aserbaidschan. Beide Staaten leugnen den Völkermord und haben 2020 im Krieg gegen Bergkarabach eng zusammengearbeitet. Es wird vermutet, dass ohne türkische Hilfe die Niederlage der Armenier unmöglich gewesen wäre. 

Moralische Mitverantwortung

Aus diesem Grund ist die gesamte Situation in ökumenischer Hinsicht eine Herausforderung, gerade für deutsche Kirchen. Denn Deutschland hat moralisch eine Mit-verantwortung für die Vorgänge in der Türkei 1915, als das Deutsche Reich trotz eindeutig vorhandener Informationen nicht einschritt. Das Osmanische Reich war ein enger Verbündeter, und Deutschland wollte die Türkei im Krieg auf seiner Seite haben, „gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“ (Zitat von Reichskanzler von Bethmann Hollweg, 1915). Das damals dem armenischen Volk zugefügte Trauma kommt bei diesen gegenwärtigen Ereignissen und der Untätigkeit der EU wieder an die Oberfläche und darf in den ökumenischen Beziehungen nicht vernachlässigt werden. Daher muss die wissenschaftliche Erforschung dieses kulturellen Erbes weiter unterstützt werden. Es handelt sich nicht nur um das Erbe eines Volkes, dem sich Deutschland besonders verpflichtet fühlen sollte, sondern auch um gemeinsames christliches Kulturgut.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"