Die Gewalt des Charisma

Sexueller Missbrauch durch Machtgefälle ist nicht nur ein Problem in den Kirchen
„Verhältnisse sexualisierter Gewalt finden sich vermutlich am häufigsten im Bereich von Erziehung und Bildung.“
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„Verhältnisse sexualisierter Gewalt finden sich vermutlich am häufigsten im Bereich von Erziehung und Bildung.“

Die ForuM-Studie zur sexualisierten Gewalt in Kirche und Diakonie fragt auch nach den Strukturen und Bedingungen, die den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ermöglichten. Doch für Notger Slenczka, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, greift diese Fragestellung zu kurz. Denn asymmetrische Beziehungen und die damit  inhergehenden Machtgefälle seien unvermeidlicher Bestandteil in jeder Erziehungs- und Bildungsarbeit.

Vor sechs Monaten erschien die von der EKD in Auftrag gegebene Studie eines Forschungsverbundes zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Landeskirchen, kurz „ForuM-Studie“. Der Vergleich mit den Zahlen der katholischen Kirche legte sich nahe und zeigt: Die evangelischen Kirchen stehen nicht besser da als die katholische Kirche, weder was die Zahlen noch was den Umgang mit den Fällen angeht.

Die Studie ist in fünf Teilprojekte (TP) aufgeteilt, in denen die Aspekte der Fragestellung bearbeitet werden sollten, darunter zwei TP, die die Perspektive der Betroffenen auf die Missbrauchserfahrungen sowie deren Bearbeitung in den Kirchen (TP C) und auf die tatermöglichenden Strukturen und systemischen Bedingungen (TP D) erarbeiten.

Die ForuM-Studie und die entsprechenden Untersuchungen im Bereich der katholischen Kirche sind jeweils von dem Anliegen geleitet, die kirchlichen und theologischen Strukturen zu identifizieren, die den Missbrauch beförderten und die Aufarbeitung oder einen angemessenen Umgang mit den Betroffenen verhinderten. Im Fall der katholischen Kirche wurde unter den begünstigenden Faktoren insbesondere auf die herausgehobene, geistlich begründete Autoritätsstellung des Priesters und das hierarchische Gefälle zu den Gemeindegliedern abgehoben; die Aufarbeitung der Fälle und der angemessene Umgang mit den Betroffenen wurden durch die Orientierung am Schutz der Institution und an der Solidarisierung unter den Inhabern des geistlichen Amts erschwert. Und es wurde natürlich auch der Zölibat und ein insgesamt wenig entspanntes Verhältnis der Amtsträger zur Sexualität als Faktor geltend gemacht.

In der ForuM-Studie wird nun allerdings sehr deutlich, dass die Täter aus dem Pfarramt zwar mehrheitlich verheiratet sind (702 f.), das protestantische Pfarrhaus aber in den bekannt gewordenen Fällen kein Schutzraum, sondern häufig sogar der Tatort war (811 f.; vgl. 132; 574). Damit ist zumindest deutlich, dass der Verzicht auf den Zölibat allein kein Weg zum Vermeiden sexualisierter Gewalt ist.

Rollenprofil des Pfarramtes

Auch in der ForuM-Studie wird eine religiös begründete Asymmetrie zwischen dem Amtsträger und der Gemeinde als sexualisierte Gewalt begünstigender Faktor geltend gemacht. Für diese Asymmetrie beziehen sich die Verfasser auf das Rollenprofil des Pfarramts, das sie der Werbung für das Berufsziel des Pfarramts auf der Homepage der EKD entnehmen. Dort finden sie in einer Liste von pfarramtlichen Kompetenzen an erster Stelle die „Deutungskompetenz“ (424) und stellen fest, dass diese als wichtiges Element manipulativer Macht ein entscheidendes Problem des Pfarramts sei. Diese Diagnose stützt sich, soweit ich sehe, ausschließlich auf diese Homepage; sie wird bis zur Auswertung am Ende der Studie fast wörtlich durchgehalten (805). Das Bild der „Deutungskompetenz“ bleibt dabei völlig blass und wird zur bloßen Chiffre eines manipulativen Machtverhältnisses. Dass das besser geht, zeigen die knappen professionstheoretischen Ausführungen der Unabhängigen Kommission von 2018 (dort 5–7)!

Im Vergleich mit den Studien aus dem katholischen Bereich ergeben sich auf den ersten Blick übereinstimmende Diagnosen: Auch im Protestantismus zeigen sich sexualitätsfeindliche, misogyne und queerfeindliche Strukturen, die aber unter einem progressiv-liberalen Selbstbild verdeckt werden (etwa 450–458). Auf der anderen Seite wird aber in den Schilderungen eines Ankerfalles und seiner Aufarbeitung in den TP A und B (253–300 und 324–337) sehr deutlich, dass es sich (nicht nur) in diesem Fall beim Täter oder den Tätern offenbar um theologisch, im Blick auf das Amtsverständnis und im Blick auf den Umgang mit der Sexualität sehr progressive Personen in einem liberal-progressiven Gemeindemilieu handelte. Der Haupttäter hatte offenbar in den drei Gemeinden, in denen er durch sexuelle Beziehungen mit Konfirmandinnen auffällig geworden war, eine sehr erfolgreiche Jugendarbeit mit für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Strukturen etabliert. Gerade diese Jugendarbeit „auf Augenhöhe“ und der Abbau von Hierarchien (297 und Kontext) eröffneten allerdings weitreichende Anbahnungsmöglichkeiten für sexuelle Ausbeutung genau dadurch, dass die traditionellen Grenzen angemessenen Verhaltens sowohl für die Betroffenen wie für die Zeugen des Geschehens delegitimiert oder mindestens verunklart wurden (270–272; 281; 298).

Damit ergibt sich aber in der Studie ein sehr uneinheitliches Bild der Umstände, die sexualisierte Gewalt fördern. Auf der einen Seite werden das Verdrängen von Sexualität, Heteronormativität und die Existenz traditioneller, männlich dominierter Rollenmodelle, ein traditionelles Amtsverständnis oder eine Körperfeindlichkeit als tatfördernde oder Aufklärung verhindernde Faktoren identifiziert (447–458). Auf der anderen Seite genau das Gegenteil: ein progressives Rollenverständnis der Pfarrperson, ein Abbau von Hierarchien, eine Enttabuisierung der Sexualität und das Befördern körperlicher Nähe. Die Verfasser weisen darauf hin, dass das Problem im Etablieren scheinbar egalitärer Beziehungen gerade das Verdecken und das schweigende Fungieren von Autoritätsverhältnissen und hierarchischen Strukturen sei. Die Differenz zwischen der traditionellen Rollenhierarchie und ihrer egalitären Durchbrechung durch den konkreten Amtsträger verschärft somit das Problem.

Allerdings zeigt sich darin auch ein weiteres Problem der Studie: Die Einstellung zur Sexualität in der kirchlichen Theologie und Ausbildung und in der pfarramtlichen Praxis hat sich ebenso wie das Verständnis und die Wahrnehmung des pfarramtlichen Dienstes in der Zeit zwischen 1946 und 2020, insbesondere seit den 1960er-Jahren so radikal geändert, dass man mit monokausalen, für den gesamten Zeitraum gültigen Modellen in der Frage nach tatfördernden Faktoren vermutlich nicht weiterkommt, sondern nach Zeiträumen und nach (landes)kirchlichen Milieus differenzieren muss, was in der Studie viel zu wenig geschieht.

Betroffene beteiligt

Die Studie bezieht bereits im wissenschaftlichen Setting die Perspektive der Betroffenen nicht nur ein, sondern beteiligt die Betroffenen als Experten an der Erarbeitung der Studie. Zum einen natürlich dadurch, dass Interviews mit Betroffenen den Gegenstand der Untersuchung bilden. Darüber hinaus werden die Betroffenen selbst als „Ko-Forschende“ in die Entscheidungen über das Forschungssetting und in die Auswertung einbezogen (etwa 583 f.). Und drittens erheben zwei der Projekte ausdrücklich die Perspektive der Betroffenen auf die Verbrechen und die Ermöglichungsfaktoren einerseits (TP C) und den institutionellen Aufarbeitungsprozess auf der anderen Seite (TP D). Hier fließen die Position und die Diagnosen der Betroffenen sehr weitgehend in das Ergebnis der Studie ein, so dass teilweise notwendige Reflexionsschritte unterbleiben. Ein Beispiel: Die Studie stellt in TP D fest, dass eine Abwertung der Sexualität oder frauen- und queerfeindliche Positionen den Missbrauch ermöglichen oder die Aufklärung verhindern (etwa 522–525 und öfter). Diese Einschätzung ergibt sich aus einigen Betroffenenvoten (523 f.); sie bleibt völlig ohne Begründung. Sie wird dann im folgenden Text (524 f.) durch Bezüge zum Literaturbericht verallgemeinert und findet sich dann in der Zusammenfassung am Schluss der Studie (11.) als feststehende Tatsache (809). Diese Diagnose wird aber nicht ins Verhältnis gesetzt zu dem gleich anschließend genannten Missbrauch ermöglichenden Faktor des distanzlos-körperlichen Umgangs (525, vergleiche 810) und zu der in TP A und B diagnostizierten destruktiven Wirkung einer permissiven Sexualethik (dazu in der Zusammenfassung von TP C: 807 und A: 802).

Die in den Geschichtswissenschaften immer wieder diskutierte Frage nach dem normativen Rang von Zeitzeugen meldet sich auch hier auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlichen Erhebung und wird nach meinem Eindruck unzureichend reflektiert.

Grundsätzliche Frage

Die Einsicht, dass sowohl egalitäre wie autoritäre Amtsstrukturen und dass sowohl eine verklemmte Sexualmoral wie ein „progressiv“-liberales Verhältnis zur Sexualität in Situationen sexualisierter Gewalt resultieren können, führt zu einer grundsätzlichen Frage: Könnte es sein, dass das Problem nicht in einem mehr oder weniger „progressiven“ Amts- oder Sexualitätsverständnis liegt? Zu fragen wäre dann nach Faktoren, die nicht spezifisch theologisch oder kirchlich sind, sondern vielmehr mit den Strukturen der Erziehungs- und Bildungsarbeit zusammenhängen, zu denen die kirchliche Jugendarbeit und Seelsorge-Berufe gehören. Verhältnisse sexualisierter Gewalt finden sich vermutlich am häufigsten im Bereich von Erziehung und Bildung, das heißt in Bereichen, die unvermeidlich als asymmetrische Verhältnisse strukturiert sind. Dazu gehört nicht nur die kirchliche Jugendarbeit, sondern auch die Schule und Universität im Allgemeinen, die Familie, die Psychoanalyse, der Sport, die außerschulische musikalische Erziehung und so fort. In allen diesen Bereichen besteht unvermeidlich eine Asymmetrie, die in einer ungleichen Verteilung von Macht begründet ist.

In einer Professionstheorie werden ethische Maßstäbe der Reflexion und Wahrnehmung dieser Asymmetrien erarbeitet – was eben voraussetzt, dass diese Verhältnisse anfällig sind für Gewaltverhältnisse. Diese Gewaltverhältnisse sind dabei vermutlich selten eindeutig identifizierbar. Eine charismatische Lehrerin ist höchst wünschenswert und steigert den Lernerfolg; auf der anderen Seite ist das Etablieren einer solchen Charisma-Autorität selbstverständlich nicht nur anfällig für Gewalt, sondern selbst ein hoch manipulatives Machtverhältnis: Ein Wille setzt sich subtil gegen den Willen des Schülers oder der Schülerin durch. Auch reine Argumente können „zwingend“ sein, ein charismatischer Lehrer „hinreißend“, eine Rede oder eine Haltung „entwaffnend“. Eine rein verbale Verführung zu einem bislang ungewohnten Denken ist lediglich subtiler als der körperliche Zwang, was im Bereich der politischen Rhetorik ebenso wie in der Predigt und im wissenschaftlichen Vortrag evident ist.

Im Bereich der Erziehung und Bildung ist der einerseits geschickte, andererseits reflektierte und verantwortliche Umgang mit diesen Einflussmitteln unverzichtbar. Das gilt insbesondere angesichts dessen, dass der Übergang in den Missbrauch dieser Mittel nicht abrupt, sondern schleichend sein dürfte und dass die Transformation dieser asymmetrischen Verhältnisse in sexualisierte Beziehungen sehr naheliegend ist – das ist kein Spezifikum religiöser oder kirchlicher Beziehungen, sondern typisch für den Bereich der Bildung und Erziehung von der universitären Lehre über den Sport bis zur Chormusik.

Perspektive erweitern

Wenn das zutreffend ist, würde das bedeuten, dass die Perspektive der Untersuchungen zu Verhältnissen sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen deutlich erweitert werden muss. Es genügt nicht, nach theologischen oder spezifisch kirchlichen Faktoren zu fragen, sondern diese Frage muss eingebettet werden in die Frage nach Strukturen in Erziehungs- und Bildungsverhältnissen insgesamt, die anfällig sind für eine Sexualisierung. Gerade die ForuM-Studie mit ihren bis zur Widersprüchlichkeit ambivalenten Diagnosen macht doch darauf aufmerksam, dass das Problem der sexualisierten Gewalt nicht in einzelnen Faktoren (rigide Sexualmoral oder sexuelle Liberalität; egalitäres oder autoritäres Amtsverständnis, Zölibat oder Ehe) liegt, sondern dass möglicherweise diese Faktoren eine desaströse Wirkung entfalten im Rahmen einer strukturellen Asymmetrie, die jedenfalls spezifisch ist für Bildungs- und Erziehungsverhältnisse und damit eben auch als allgemeines Problem identifiziert und bearbeitet werden muss. 

Zuwendung zum Täter

Ein wichtiger Punkt, auf den die Studie aufmerksam macht als ein Faktor, der eine ernsthafte Aufarbeitung der Untaten verhindert, ist die reflexartige Konnotation von Schuldfeststellung und Vergebungsforderung. In der Tat transformiert die gutgemeinte Übersetzung der religiösen Versöhnungs- und Vergebungsmetaphorik in die Bewältigung zwischenmenschlicher Verhältnisse die Vergebung zu einer ethischen Anforderung – das Modell bilden hier die „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ in Südafrika. Hier wäre theologisch die Unterscheidung eines theologischen Begriffs der Vergebung einerseits und der Herstellung zwischenmenschlicher Ausgleichsverhältnisse anzumahnen, die jüngst Ulrike Peisker herausgestellt hat (Zwischenmenschliche Vergebung, Tübingen 2024, hier besonders 203–218). Und es wäre darauf hinzuweisen, dass ein theologischer Begriff von Versöhnung voraussetzt, dass das „Gewicht der Sünde“ wahrgenommen wird. Damit wird nämlich klar, dass die Vergebung und Versöhnung etwas Unselbstverständliches ist, das ohne das gleichzeitige Gewährleisten von Gerechtigkeit nicht zu haben ist – das war die Einsicht des Anselm von Canterbury, die in allem Widerspruch gegen seine Satisfaktionslehre unbedingt festzuhalten ist.

Und ich wiederhole hier abschließend, was ich in solchen Kontexten immer wieder sage: Unbeschadet aller berechtigten Abscheu über die Untaten, die in den Studien aufgedeckt werden, gehört zum Wesen des Christentums die seelsorgerliche Zuwendung zum Täter. Das darf über der lange vernachlässigten, unbedingt notwendigen Orientierung an den Betroffenen nicht in Vergessenheit geraten. „Seelsorgerliche Zuwendung“ heißt selbstverständlich nicht Verharmlosung der Taten oder Haltungen, sondern ein auf Buße, Wiedergutmachung, Vergebung und die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft zielender Umgang mit den Täterinnen und Tätern.

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Foto: P. Brusowski

Notger Slenczka

Notger Slenzcka, geboren 1960, ist seit 2006 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Humboldt-Universität in Berlin.


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