Gott bleibt ein Freund des Lebens

Anmerkungen zum aktuellen Debattenstand um die EKD-Stellungnahme zur Neuregelung des § 218
Blick in das Strafgesetzbuch, Paragraf 218.
Foto: epd
Blick in das Strafgesetzbuch, Paragraf 218.

In den Wochen nach dem Ende der Ulmer Synode dominierten andere Themen die Diskussion im Raum der EKD. Nun nimmt der württembergischen Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl erneut die Diskussion um die Positionierung der Kirche zum § 218 auf und plädiert dabei sehr für ökumenische Abstimmung mit den Katholiken.

Am 11. Oktober 2023 veröffentlichte der Rat der EKD eine Stellungnahme für die unabhängige Kommission der Bundesregierung für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin und nahm mit diesem Text eine Neupositionierung der Evangelischen Kirche zu § 218 ein.[1] Gemeinsam mit Gebhard Fürst, dem Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, habe ich daraufhin diese Haltung, insbesondere zum Schutz des ungeborenen Lebens, kritisiert und mich gegen eine Neufassung des § 218 ausgesprochen.[2] Seitdem ist eine ernsthafte Debatte in der EKD in Gang gekommen, die ich sehr begrüße.

Nach einer kontroversen Aussprache des Ratsberichts der Ratsvorsitzenden, in der die Stellungnahme des Rats der EKD noch einmal verteidigt wurde, ist sichtbar geworden, wie kontrovers die Position des Rats von der gesamten EKD-Synode gesehen wird. Nun wird von der EKD-Synode eine Kommission eingesetzt, die die sichtbar gewordenen unterschiedlichen Positionen besser abbilden soll.

Besonderes Gewicht hat die Debatte durch die beiden Texte von Reiner Anselm und Peter Dabrock erhalten.[3] Nach anfänglicher Kritik an der fehlenden theologischen Begründung der EKD-Position haben sie zwei Texte vorgelegt, die sich mit Verve an diesem Vorwurf abarbeiten. Ich verstehe die Texte als Einladung, weiter um der Sache willen miteinander zu diskutieren – durchaus kontrovers – und um eine gemeinsame Position zu ringen.

Bedrückende Dilemmasituation

Vor allem in den sozialen Netzwerken wird kritisiert, dass sich bisher nur Männer in der Debatte geäußert hätten. Das stimmt nicht, wie zum Beispiel das Votum der Evangelischen Frauen zeigt.[4] Zuschriften und auch die Debatte in der EKD-Synode machen dabei deutlich, dass es sowohl bei Männern wie auch bei Frauen unterschiedliche Positionen in diesem Konflikt gibt. Aber selbstverständlich ist es letztlich die Frau, die die Entscheidung treffen und dann mit ihr leben muss. Aus Gesprächen weiß ich, wie bedrückend diese Dilemmasituation für die Frauen ist – oft ganz alleingelassen – gerade auch von den Männern. 

Anselm und Dabrock wehren sich gegen den Vorwurf, die EKD „plane einen Paradigmenwechsel, wie der Schwangerschaftsabbruch zu beurteilen und mit ihm umzugehen sei“. Sie bezeichnen diese Behauptung als von Medien und Kirchenvertretern verbreitetes Narrativ. Meines Wissens hat die Kommission insgesamt 52 zivilgesellschaftliche Einrichtungen und Institutionen um eine Stellungnahme gebeten und ihnen nur wenige Wochen zur Antwort eingeräumt. Im Blick auf die Kurzfristigkeit wären m.E. zwei Reaktionen sinnvoll gewesen. Entweder hätte man die bisherige Position der EKD mitgeteilt und auf die gemeinsame Erklärung von Deutscher Bischofskonferenz und Rat der EKD (Gott ist ein Freund des Lebens aus dem Jahr 2000) verwiesen.[5] Oder man hätte sie zum Anlass genommen, eine Neupositionierung anzukündigen und für diese Aufgabe die beiden Theologischen Ausschüsse von VELKD und UEK einbezogen. Das braucht natürlich mehr Zeit. Aber nur so ist Partizipation mit den Gliedkirchen und der EKD-Synode gewährleistet. Diese Wege wurden nicht beschritten. Stattdessen wurde diese Stellungnahme zum Anlass genommen, eine schnelle Neupositionierung vorzunehmen – auf Kosten einer breiteren Partizipation.

Dezidiert theologisch argumentiert

Die bisherige Debatte hat zur Klärung zunächst strittiger Fragen geführt. Dafür danke ich besonders Reiner Anselm und Peter Dabrock, aber auch Petra Bahr, Stephan Schaede und Ulrich Körtner (Bezahlschranke, da FAZ). Konsens herrscht darin, dass eine zukünftig noch größere gesellschaftliche Verantwortung für familienfreundliche und unterstützende Rahmenbedingungen beim Schutz ungeborenen Lebens notwendig ist. Konsens besteht auch darin, dass alle an der Debatte Beteiligten den Schutz des ungeborenen Lebens als zentral ansehen. Und Konsens besteht darin, dass Männer und Frauen gleichwertig sind. Ebenso argumentieren beide Positionen mittlerweile dezidiert theologisch.

Strittig ist nach wie vor die Schlüsselfrage: Wie kann es gelingen, das Recht der Schwangeren auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit mit dem Schutz des ungeborenen Kindes in einen Ausgleich zu bringen? Anselm und Dabrock verweisen auf die allgemeinen Menschenrechte, die UN-Frauenrechtskonvention und die internationalen Gesetzesreformen der letzten Jahre. Sie argumentieren auch hier dezidiert theologisch mit der Gottebenbildlichkeit. Diese gelte nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen. Auch hier herrscht voller Konsens! Wer bitte wollte die Gottebenbildlichkeit von Frauen bestreiten?

Tatsache ist aber, dass die Betonung dieser Rechte den Konflikt nicht lösen kann. Denn es geht nicht um die Frage, ob Männer und Frauen gleiche Rechte haben (natürlich haben sie gleiche Rechte!), sondern um die Frage, ob die schwangere Frau und das Kind vergleichbare Rechte haben. Darum und nur darum geht es! Und da fällt auf, dass Anselm und Dabrock zwar vehement bestreiten, die beiden Grundrechte gegeneinander auszuspielen. Einen echten Ausgleich beider Grundrechte habe ich aber in ihren Ausführungen bislang nicht finden können.

Zudem müssen die Hinweise auf Menschenrechte und die UN-Frauenrechtskonvention auch im Kontext der höchstrichterlichen Auslegung des Grundgesetzes in Deutschland gesehen werden.[6] Juristisch eindeutig liegt hier eine Kollision von zwei Grundrechten vor: dem Grundrecht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit der Frau einerseits und dem Grundrecht auf Schutz des Lebens andererseits. Einen einfachen Kompromiss kann es bei Grundrechtskollisionen nicht geben.

Drei rechtliche Lösungswege

In der juristischen Debatte lassen sich drei unterschiedliche Lösungswege skizzieren:

Erstens: Das Grundrecht auf Schutz des Lebens wird vorgeordnet, weil es in prinzipieller Weise die Voraussetzung für andere Grundrechte schafft. Dieser Lösungsweg ist attraktiv für eine radikale Position des Lebensschutzes. Ich halte ihn für falsch, weil er fundamentale Rechte der Frau unverhältnismäßig beschneidet.

Zweitens: Es wird nach einer „praktischen Konkordanz“ der beiden Grundrechte gesucht.[7] Sie versucht eine Lösung zu finden, die im Abwägen zu einer Position gelangt, die beiden Grundrechten gleichermaßen Geltung verschaffen will. Diese Lösung ist abstrakt gesehen sehr überzeugend. In der Praxis hält sie allerdings konkreten Konfliktlagen oft nicht stand.

Drittens: Der „schonende Ausgleich“. Hier wird nicht versucht, einen prinzipiellen Ausgleich, also eine Konkordanz zu finden. Vielmehr wird versucht, in der Praxis der Anwendung des jeweiligen Grundrechts einen Ausgleich herzustellen. Meines Erachtens unternimmt § 218 genau diesen Versuch des „schonenden Ausgleichs“, in dem bis zur 12. Schwangerschaftswoche ein Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig, aber straflos bleibt, wenn der Pflicht auf Beratung nachgekommen wurde. Das Modell, das Anselm und Dabrock dagegen befürworten, nimmt de facto – wenn ich sie richtig verstanden habe – gar keine Grundrechtskollision wahr. Von einem „schonenden Ausgleich“ der Grundrechte kann bei diesem Modell meines Erachtens keine Rede sein.

Ökumene wichtiger denn je

Sicher stellt die Ökumene ein wichtiges Ziel dar, aber das kann und darf kein Grund sein, in der Aufgabe eigener Überzeugungen und in Verkennung der tatsächlichen Situation des ökumenischen Gesprächs der Anerkennung der Frau in ihrer Gleichwertigkeit (…) die Zustimmung zu versagen.“ Mit dieser Feststellung haben sich Anselm und Dabrock klar positioniert. Aus der Perspektive ihres akademischen Diskurses kann ich ihre Argumentation nachvollziehen, aus kirchenleitender Perspektive halte ich diese Feststellung allerdings für hoch problematisch. In bioethischen Debatten, die in unserer Gesellschaft mit zunehmender Polarisierung geführt werden, ist die Ökumene wichtiger denn je. Wenn Positionen der Kirchen zum Beginn und Ende des Lebens als vollständig heterogen wahrgenommen werden, schwächt das die Position der Kirchen und damit auch den Schutz des Lebens – am Lebensanfang und Ende. Ich halte es für dringend geboten, hier so lange wie möglich, um ökumenische Konsense zu ringen.

Ökumenische Konsense sind nicht nur in öffentlichen Debatten wichtig. Sie unterstützen auch die gemäßigten Positionen innerhalb der Kirchen. Eine ökumenische Stellungnahme, wie sie Bischof Fürst und ich vorgelegt haben, hat ihren Wert auch in der Stärkung der volkskirchlichen Mitte. Sie überlässt das Eintreten für den Schutz des ungeborenen Kindes nicht radikalen Lebensschützern und stärkt die Position innerhalb der römisch-katholischen Kirche, die mit der gesellschaftlichen Realität der Beratungsstellen ihren Frieden gemacht haben.

Kaum eine Diskussion hat die bundesrepublikanische Gesellschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren so gespalten, wie der Streit um § 218. In der Stellungnahme des Rats der EKD – erst recht aber in der Positionierung der Diakonie Deutschland wird sichtbar, dass die skizzierte Neupositionierung vor allem an einer Herausnahme aus dem Strafgesetzbuch interessiert ist. Hier geht es ums Grundsätzliche. Das zeigt vor allem die Stellungnahme der Diakonie Deutschland. Ebenso verhält es sich mit dem Verweis auf die 22. Schwangerschaftswoche. Sie wird in der Neupositionierung als relevante Grenze aufgewertet, weil erst ab diesem Zeitpunkt zukünftig das Strafrecht greifen soll.

Nicht gut gewählt

Dieser Zeitpunkt der Schwangerschaft ist kein Zufall. Denn ab ihm ist nach derzeitigem Stand der Medizin ein Überleben des Kindes außerhalb des Mutterleibes möglich. Bei näherer Betrachtung ist dieser Zeitpunkt aus mehreren Gründen nicht gut gewählt. In der 22. Woche ist der Embryo in einem deutlich fortgeschritteneren Entwicklungsstadium als in der 12. Woche. Die neue Regelung außerhalb des Strafgesetzbuches würde bedeuten, dass Ärztinnen und Ärzte gezwungen sind, einen Abbruch im 5 ½. Monat vornehmen zu müssen. Ein Gewissenschutz für Ärztinnen und Ärzte bestünde nicht mehr. Noch ein anderes Argument halte ich hier bisher für wenig beachtet: Ob das Kind in der 22. Woche außerhalb des Mutterleibes überlebt, hängt nicht von einem Gesetz ab, sondern von der Ausstattung der Klinik. Für eine hochentwickelte Medizin ist es jetzt schon möglich, das Überleben des Kindes auch bis in die 20. Schwangerschaftswoche sicherzustellen.

Gerade bei der Lösung grundlegender ethischer Konflikte halte ich, um mit dem ehemaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber zu sprechen, den „willkürärmsten Zeitpunkt“ für den tragfähigsten. Jede Skalierung des Lebensbeginns und der Würde, die auch ungeborenem Leben zukommt, hat Auswirkungen auf das grundlegende Verständnis von Leben. Nicht nur in Zeiten, in denen der assistierte Suizid öffentlich gefordert wird, sollten wir als Christinnen und Christen einen anderen Ton in die Debatte eintragen. Gott ist ein Freund des Lebens – vom ersten Beginn bis zum letzten Atemzug.  

 

[2] https://www.elk-wue.de/fileadmin/Downloads/Presse/Dokumente/2023/2023-11-02_2K_PM_Stellungnahme_Schutz_des_Lebens.pdf

[3] Reiner Anselm/Peter Dabrock, Dem tatsächlichen Schutz des Lebens dienen. Theologische Überlegungen zur Diskussion um den rechtlichen Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch, zit. nach https://zeitzeichen.net/node/10791 und Reiner Anselm/Peter Dabrock, Vielstimmiges Ringen um das bessere Argument. Aktuelle Herausforderungen und Perspektiven in der Diskussion um den § 218, zit. nach www.zeitzeichen.net/node/10804.

[4] https://evangelischefrauen-deutschland.de/die-evangelischen-frauen-fordern-weg-mit-%c2%a7-218/

[5] Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Evangelischen Bischofskonferenz. Hg. v. Kirchenamt der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, Trier 2000. Der bisherige ökumenische Grundkonsens zum Schwangerschaftsabbruch besteht in der Betonung des von Gott geschenkten Lebens: „Gottes Annahme des ungeborenen Lebens verleiht ihm menschliche Würde. Daraus folgt die Verpflichtung, dass auch die Menschen das ungeborene Leben annehmen und ihm Schutz gewähren sollen, der der menschlichen Person gebührt“ (44f).

[6] Besonders die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 28.05.1993, vgl. BVerfG, Urt. V. 28.05.1993, Az.: 2BvF 2/90 und 4,5/92, Rn. 154 u. Rn. 164.

[7] Zum Weiteren Gertrude Lübbe-Wolff: Das Prinzip der praktischen Konkordanz. In: Dirk Herrmann/Achim Krämer (Hgg.), Festschrift für Christian Kirchberg zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2017, 143ff.

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Foto: Gottfried Stoppel

Ernst-Wilhelm Gohl

Ernst-Wilhelm Gohl (*1963), ist seit 2022 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Vorher war er von 2006 bis 2022 Dekan in Ulm.


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